Pater S. J. MERTES

Schulleiter, vormals in Berlin, jetzt in St. Blasien

Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, Vergewaltigung egal ob weiblich oder männlich und unabhängig davon, ob es Erwachsene und/oder Lehrer sind, war lange Zeit ein Tabuthema.

Allenfalls Staatsanwälte und Richter hatten damit zu tun, wenn es denn einmal bekannt geworden war. Und nur dann war es Thema auch in den Medien. Am wenigsten war es Thema dort, wo sexuelle Übergriffe stattfanden. Täglich, regelmäßig.

In der hessischen Odenwaldschule in Oberhambach, einer bundesweit bekannten liberalen Schuleinrichtung, in der so genannte Reformpädagogen unterrichteten und die als Internat institutionalisiert war, war in den 70iger und 80iger Jahren sexueller Missbrauch an der Tagesordnung. Einer der Täter, der in seiner 15jährigen Amtszeit über 80 Jungen, sprich seine Schüler im Alter von 12 bis 15 Jahren missbraucht hatte, war der Leiter dieser Schule: Gerold Becker. Der war ausgebildeter Theologe und bundesweit bekannt, schrieb in Fachzeitschriften über „Reformpädagogik“, trat auf Kongressen als Redner auf. Dass von seinen Übergriffen und jener seiner Kollegen nie etwas nach außen hin bekannt geworden war, lag am System des Missbrauchs. Einem System, das bei Abhängigen bzw. „Schutzbefohlenen“ auf sicheren Säulen basiert:

  • dem Schuld- und Schamgefühl der jungen Menschen sowie der daraus resultierenden Unfähigkeit, darüber reden zu können
  • der Absicht, darüber nicht reden zu wollen - aus Angst vor Repressalien in dem Internat
  • der Macht der Lehrer über ihre Schutzbefohlenen, die sie jederzeit ausspielen können
  • und zwar in der Sicherheit, dass man ihnen eher glauben wird als den Schülern.

Nachdem es im Jahr 1987 ein ehemaliger Schüler, der in seiner Zeit an der Odenwaldschule etwa 400 Male missbraucht worden war, im Alter von nunmehr 18 Jahren über sich bringt, zusammen mit einem anderen Ehemaligen darüber zaghaft zu reden, dauert es über zehn Jahre, bis die beiden Opfer die innere Kraft aufbringen, den Täter mit seinen Taten schriftlich zu konfrontieren. Bzw. die neue Leitung der Odenwaldschule davon zu informieren. Der neue Rektor, mit dem Vorgänger Becker befreundet, handelt – zunächst. Er lädt die beiden Opfer zu einem Gespräch ein, informiert die Lehrerkonferenz und den Trägerverein, spricht mit seinem befreundeten Vorgänger.

Der widerspricht den Vorwürfen nicht, legt freiwillig seine restlichen Funktionen im Trägerverein nieder. Veröffentlichen – in der schulinternen Zeitung – will der Schulleiter das aber nicht. Genau das hatten die Opfer gefordert: Aufklärung, indem sich noch mehr frühere Opfer melden. Die Schule wiegelt ab, versucht das Thema auszusitzen.

Als am 17.11.1999 ein großer Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ über Missbräuche an der Schule erscheint, wird diese Zeitung die einzige bleiben, die darüber berichtet. Die Odenwaldschule ist eine Elite-Schule, die sich mit großen Namen schmücken kann: der TV-Moderatorin Amelie Fried, einem Sohn des früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker, usw. Und im Trägerverein sitzen so genannte VIP’s, die auch enge Kontakte zu Chefredakteuren und Herausgebern von Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen haben. Deswegen werden weitere zehn Jahre ins Land gehen, in denen die beiden Opfer, zu denen sich inzwischen weitere gesellt haben, vertröstet werden. In Hessen versucht die Odenwaldschule das Thema immer noch auszusitzen.

Im Dezember 2009 verketten sich die Ereignisse. In Berlin vernetzen sich mehrere inzwischen über 40jährige Männer, die als ehemalige Schüler des hier renommierten Canisius-Kolleg (CK) früher ebenfalls missbraucht worden waren: von Patres des Jesuiten-Ordens. Sie sind sich – nach vielen Schwierigkeiten, sich als Opfer zu ‚outen’ – einig, die neue Schulleitung des „CK“ zu informieren und das Missbrauchssystem öffentlich zu machen. Sie vereinbaren Mitte Januar 2010 einen Termin mit dem neuen Rektor Pater Klaus Mertes. Dem hatten sich 2006 und 2008 bereits jeweils ein Opfer unter dem Siegel der Verschwiegenheit offenbart, weshalb es am „CK“ bereits eine Mediatorin gibt. Über die vielen neuen Fälle ist Mertes schockiert.

Er handelt sofort. Weil er aber aufklären will, weiß er, dass er als Rektor das ‚System repräsentieren’ muss – die potenziellen Opfer brauchen jemanden, der den Kopf hinhält, der die ‚Watschen’ aushalten muss. Es gäbe sonst niemanden, der Verantwortung übernähme – jeder würde sagen, er habe davon nichts gewusst. Deshalb will er auch nicht (sofort) an die Presse gehen, wie es die Opfer vorschlagen, sondern ersteinmal über 600 Ehemalige des CK anschreiben:

„Ihr bedroht uns nicht, wenn Ihr redet, sondern Ihr helft, die Missstände aufzuklären.“

Am 28. Januar geht dieser Fall erstmals durch die Presse: Die „Berliner Morgenpost“, der sich einige Opfer anvertraut haben, schreibt über die Geschehnisse. Und jetzt wird das Thema bundesweit zum Thema. Und jetzt sieht sich auch die Odenwaldschule unter Druck, zu reagieren. Doch was in Hessen über 25 Jahre gedauert hat, funktioniert in Berlin innerhalb weniger Wochen: Aufklärung über jahrzehntelang vertuschte Missstände.


Diesen Text können Sie direkt aufrufen oder verlinken unter www.ansTageslicht.de/PaterMertes. Die ganze Geschichte des Missbrauchs und wie er in Deutschland ans Tageslicht kam ist dokumentiert unter www.ansTageslicht.de/Missbrauch.

(Text: JL; Fotocopyright: Petrov Ahner)