Die "Reform": Was eigentlich passieren müsste bei der Gesetzlichen Unfallversicherung

Hinweis:

Diese Zusammenstellung (Kapitel "Reform") können Sie auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Reform


Eigentlich

Woran die "Gesetzliche" Unfallversicherung krankt, haben wir zusammengefasst beschrieben unter

Nach der Reform ist vor der Reform: das System Berufskrankheit ist krank.

All das müsste sich ändern, wenn man das wollte, was ursprünglich die Idee dieser von Staats wegen verordneten Versicherung für Arbeitsunfälle und berufsbedingte Arbeitsunfähigkeiten war. Eigentlich.

Doch große Reformen setzen einen entsprechenden Reformwillen voraus. Und der ist weit und breit nicht erkennbar. Schon deswegen, weil diese Materie komplex ist und für die meisten 'weit weg'. Insbesondere auch für die große Mehrheit der Volksvertreter im Deutschen Bundestag. Es sind nur ganz wenige, die sich darum kümmern, aber als winzige Minderheit.

Seitens der Bundesregierung kommt ein wirklicher Reformwille nicht, denn die (noch) regierenden Altparteien sind mehr mit sich und dem mühsamen Durchhaltewillen in Beschlag genommen als dass sie sich um die Lösung ernsthafter Probleme kümmern. Die Wahlergebnisse zeigen das. Reichen aber offenbar nicht aus, den Etablierten die Augen zu öffnen.

Die bürokratischen Apparaturen wie der Unterbau des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und das Bundesversicherungsamt (BVA) sind klassische Behörden, die zwar eine offizielle Aufgabe haben, aber wegen ihrer Behäbigkeit und ihrem erkennbaren Desinteresse an den Realitäten nicht das bringen, was sie - eigentlich - sollten: brauchbare Vorlagen für die Minister bzw. letztlich die Parlamentarier.

Die Betroffenen selbst - als treibender Motor - fallen aus. Wenn sie (ziemlich) krank geworden sind, nicht mehr arbeiten können, sich mit Fragen und Problemen herumschlagen müssen, auf dies sie nie vorbereitet wurden und die sie sich - in guten Zeiten - so nie hätten vorstellen können, sind dazu überhaupt nicht mehr imstande. Sie haben zu wenig Kraft und das was sie noch haben, brauchen sie, um ersteinmal selbst ihre Probleme, soweit das geht, zu lösen. Auch dabei werden sie im Stich gelassen.

Das (aller)größte Problem: die Gutachter

Dieses Thema ist so flächendeckend, dass wir dazu begonnen haben, einen eigenen Schwerpunkt aufzubauen: www.ansTageslicht.de/Gutachter bzw. auch ansteuerbar unter www.gutachter-schlechtachter.de. Dort finden sich erste Hintergrundinformationen.

Was jemandem passieren kann, der in die Hände von bestimmten Gutachtern fällt, die eher den Namen "Schlechtachter" verdienen, haben wir auf dieser Site www.ansTageslicht.de/Berufskrankheit an 2 kurzen Beispielen dokumentiert, die es auch in ausführlicher Darstellung gibt:

Weitere Beispiele finden sich in einem ähnlichen Kontext (www.ansTageslicht.de/krankdurcharbeit) unter

Akken Beispielen gemeinsam: die Willfährigkeit gegenüber den Auftraggebern. 

Deswegen lautet der allererste Vorschlag:

Gutachter müssen offenlegen,

  • für wen sie arbeiten
  • wie oft
  • mit welchem Ergebnis
  • und wie die finanzielle Entlohnung aussieht.
  • Außerdem: die Gutachten müssen grundsätzlich einsehbar sein, damit man sie jederzeit gegenchecken kann. Persönliche Sozialdaten und anderes kann man heutzutage auf einfache Weise schwärzen.

Weiterer Vorschlag: Um Gutachter aus der direkten Abhängigkeit des GUV-Systems zu 'entlassen', ließe sich auch eine öffentlich-rechtliche Körperschaft denken, die über einen entsprechenden Pool an Gutachtern verfügt und nur jene empfiehlt und zertifiziert, die sich den obigen Transparenzkriterien stellen. Aktuell sind solche Überlegungen sogar im Gange: Bundesgesundheitsminister SPAHN (CDU) will die "Medizinischen Dienste (MDK)" von den Krankenkassen trennen und in eben eine solche öffentlich-rechtliche Körperschaft überführen. Dabei ist sogar daran gedacht, Patientenvertretern Mitspracherechte einzuräumen. Allerdings: Dass dies auch für Berufsgenossenschaften gelten soll, ist nicht vorgesehen, wie z.B. die Antikorruptionsinitiative Transparency International moniert.

Überlegungen zur Unabhängigkeit finden sich in dem vorgelegten Referentenentwurf für eine Reform des Berufskrankheiten-Rechts überhaupt nicht. Den fraglichen Entwurf dokumentieren wir weiter unten.

Gutachten versus "Stellungnahme" der BG: der Paragraph 200 SGB VII

Und auch das findet sich nicht in dem "Reform"-Entwurf. Keiner der ministerialen Angestellten oder Beamten kennt offenbar die Realitäten. Oder will sie nicht zur Kenntnis nehmen. Obwohl der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (BFDI) seit Jahren darauf aufmerksam macht, zuletzt im 25. Tätigkeitsbericht auf S. 179f: "die merkwürdige Rolle der sog. beratenden Ärzte in der Unfallversicherung".

Das Problem:

Die BG's lassen sich gerne von Ärzten, Fachleuten, Professoren "beraten", die dann einen Beratervertrag abschließen. Deren Aufgabe: "beratungsärztliche Stellungnahmen" ausfertigen. Hier dokumentieren wir ein solches Dokument, dass die BH Holz und Metall benutzt: einen "Vertrag".

Diese Stellungnahmen haben oft die 'Qualität' von richtigen Gutachten, wobei mit 'Qualität' weniger die hochwertige Eigenschaft gemeint ist, sondern die "Auswirkungen als Beweismittel" solcher "Stellungnahmen", die sich "in den Verfahren kaum von richtigen Gutachten unterscheiden, aber aufgrund der rechtlichen Einordnung den Versicherten (bzw. Klägern, Anm. d.Red.) die in § 200 Abs. 2 SGB VII genannten Rechte verwehren", wie der BFDI konstatiert.

Konkret: Die Kläger können in diesem Fall dem "Gutachter" bei der Auswahl nicht widersprechen. Und oft wissen sie von dem allen nichts, sondern werden erst in einer Gerichtsverhandlung damit konfrontiert.

Die BG's argumentieren, dass es sich bei solchen "beratenden" Sachverständigen, egal ob Ärzte oder Professoren um "Mitarbeiter" handele. Und dass man deswegen dem versicherten Kläger eben keine Gutachter zur Auswahl vorschlagen müsse.

Dazu der BFDI:

"Mit dieser Auslegung wird die Absicht des Gesetzgebers konterkariert, der mit der Regelung des § 200 Absatz 2 SGB VII ausdrücklich die Erwartung verbunden hat, die Transparenz der Verfahren zu verbessern (Bundestagsdrucksache 13/4853, S. 22). Es besteht die Gefahr, dass die Rechte der Versicherten ausgehöhlt und unterlaufen werden, obwohl die „beratende Stellungnahme“ regelmäßig in den Verwaltungs- und Gerichtsverfahren wie ein Gutachten als Beweismittel eingesetzt wird."

Wie wir hören und in vielen Einzelfällen feststellen, wird dieses trickreiche Verfahren im GUV-System flächendeckend praktiziert: die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers zu "konterkarieren" - zum eigenen Vorteil.

Vorschlag: hier hilft nur eine eindeutige Ergänzung dieses Paragraphen.

Umkehr der Beweislast

Dies stand auf der 88. Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2011 in Leipzig auf der Tagesordnung unter "TOP 7.2". In dem geplanten "Reform"-Werk findet sich dazu nichts.

In Leipzig hatte man empfohlen, dies "zu prüfen." Hat man im BMAS "geprüft"? "Prüfen" macht natürlich Arbeit. Und wollen setzt (natürlich) Motivation voraus.

"Durch die Umkehr der Beweislast bei der Anerkennung von Berufskrankheiten könnte zukünftig zunächst bei einer Erkrankung an einer BK immer eine berufliche Ursache vermutet werden, wenn der Verursacher (Unternehmer/Arbeitgeber) anhand der Expositionslage nicht nachweisbar belegen kann, dass die Erkrankung keine berufliche Ursache haben kann und damit die wahrscheinliche Ursache außerhalb der beruflichen Tätigkeit liegen muss", hatten die Länderminister in ihrem Ergebnisprotokoll festgehalten.

Da die - eigentliche - Kernaufgabe einer BG auch darin liegt, nicht nur mit Entschädigung einzuspringen, wenn es notwendig wird, sondern zu handeln, bevor 'das Kind in den Brunnen fällt', nämlich für Prävention zu sorgen, ist das ein ausgesprochen zielorientierter Vorschlag: Der Druck auf Unternehmen würde höher, dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze sicher und ohne (vermeidbaren) Gefahren sind. Anders gesagt: menschlicher würden.

Härtefallregelung

Auch das eine (ur)alte Forderung - "im Sinne von mehr Einzelgerechtigkeit", wenn beispielsweise "Studien zur Verdichtung medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse fehlen". So beispielsweise 2016 von der 93. Arbeits- und Sozialministerkonferenz in Lübeck aufgestellt.

Neuerdings sogar von einem Richter am Bundessozialgericht in Kassel vorgetragen: Prof. Dr. Wolfgang SPELLBRINK. Begründung in der Sendung Report Mainz (SWR) am 21. 8. 2019:

"Eine Härtefallklausel kann im Einzelfall dazu führen, dass Fälle, wo im Grunde genommen, sag ich mal, es auf der Hand liegt, dass die Arbeit diese Krankheit hervorgerufen hat, dass man dann doch entschädigen kann, auch wenn keine Listen-Berufskrankheit vorliegt. Wenn diese Reform einen Sinn machen muss, will, dann muss sie dazu führen, dass es zu einer höheren Anerkennungsquote kommt."

Eine glasklare Ansage, ein eindeutiger Vorschlag.

Nicht allzu verwunderlich: Staatssekretär Dr. Rolf SCHMACHTENBERG (SPD) lehnte das in derselben Sendung rundweg ab.

Akteneinsicht und Prozessbetrug

In der Zivilprozessordnung (§ 138 ZPO) nennt sich dies etwas unbefangener: "Erklärungspflicht über Tatsachen; Wahrheitspflicht". Im Umgang nennt man es so, was es ist: vorsätzlicher Betrug.

Und zwar immer dann, wenn z.B. eine der streitenden Parteien relevante Unterlagen zurückhält, um eine faire Auseinandersetzung vor Gericht zu torpedieren - zum eigenen Vorteil. Hierzulande geschieht das regelmäßig und vor allem flächendeckend. Selbst Richter wissen das und einige nennen es auch beim Namen: Nirgendwo wird so viel gelogen und getrickst wie vor Gericht. Und zwar in zivilrechtlichen Verfahren, wo Richter nur über das entscheiden und richten können, was ihnen auf den Richtertisch gelegt wird.

Anders beim Strafprozess: Da ermittelt der Staatsanwalt, unterstützt von der Polizei, und kann Akteneinsicht nehmen, durchsuchen lassen (mit richterlichem Beschluss) und vieles anderes. Im regulären Zivilverfahren geht das nicht, und der Richter ist auf die Mitwirkung der streitenden Kontrahenten angewiesen.

In Sozialgerichtsverfahren hat ein Richter - eigentlich - eine amtliche Ermittlungspflicht. Aber wie wir flächendeckend hören und im Einzelfall sehen, geschieht dies nur im Ausnahmefall. Aber dies ist ein anderes Thema, das wir demnächst gesondert aufgreifen werden.

Berufsgenossenschaften halten offenbar gerne relevante Unterlagen zurück. Und wer dies nicht von vorneherein antizipiert, hat schlechte Karten. Wir haben hier auf dieser Site beispielsweise ein solches Beispiel dokumentiert: Berufsgenossenschaft & Sozialgericht: austricksen, ausbluten lassen, Recht und Gesetz aushöhlen. Die Geschichte eines ehemaligen Export-Entwicklungsingenieurs. Hätte er zu Anfang seiner inzwischen vielen Prozesse nicht auf seinem Recht bestanden, wäre er von vorneherein untergegangen. Jetzt, nachdem die BG Holz und Metall gemerkt hat, dass sie ihn nicht so ohne weiteres über den Tisch ziehen kann, muss der berufkranke Entwicklungsingenieur vor Gericht auf Akteneinsicht klagen.

In den USA etwa passiert Prozessbetrug eher selten: zu drakonisch sind die Sanktionen. Wer bewusst Unterlagen zurückhält, unvollständige (und damit falsche) Angaben zu Tatsachen macht, verliert, wenn es herauskommt, auf der Stelle den Prozess ("discovery").

Da dies offenbar - bisher jedenfalls - nicht der deutschen Justiz- und Rechtskultur entspricht, hilft nur der konkrete Vorschlag, eine Akteneinsicht gesetzlich zu verankern und das mit drastischen Strafen zu verbinden. Denn noch gibt es die Möglichkeit bei Akteneinsicht in die Verwaltungsakte aus Papier anhand der laufenden Paginierungsnummern so etwas zu entdecken. Für die elektronischen Verwaltungsakten, so hören wir, gibt es inzwischen Programme, mit denen man mit wenigen Klicks bestimmte Dokumente für Außenstehende verschwinden bzw. an anderer Stelle umplatzieren kann - ohne dass der Dritte dies merken kann. Da scheint die Versuchung groß zu sein. Und dagegen muss etwas unternommen werden. Vorschlag: Beispielsweise eine schriftliche eidesstattliche Erklärung des zuständigen Sachbearbeiters einer Berufsgenossenschaft, dass in der elektronischen Akte nichts manipuliert wurde.

(unabhängige) Forschung

Wie Forschung funktioniert, wenn sie nicht unabhängig organisiert und ergebenisoffen angelegt ist, haben wir bereits an mehreren Beispielen gezeigt, insbesondere am Gefahrstoff Asbest, um den 20 Jahre lang im "Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten" beim BMAS debattiert und gerungen wurde, bis er 1993 schließlich doch verboten wurde. Bis zuletzt und auch heute noch hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV) schon aufgrund ihrer schier unbegrenzten Ressourcen das Deutungsmonopol in Sachen Interpretation von beruflich bedingten Asbestfolgen und der Forschung - dezidiert rekonstruiert unter

Gleiches wiederholt sich seit mehreren Jahren im Zusammenhang mit der Frage, ob a) die permanente Verunreinigung der Kabinenluft in Flugzeugen mit pyrolisierten Chemikalien (Grundbelastung) aus der sogenannten Zapfluft direkt aus den Triebwerken gesundheitsproblematisch ist und ob b) eine sogenanntes Fume Event, wenn es zu einem drastischen Vorfall kommt, außer einem "Arbeitsunfall" auch langfristige Gesundheitsfolgen insbesondere für die Crew haben kann:

Sowohl die DGUV-eigene Forschung am IPA-Institut in Bochum als auch die Forschungsaufträge an die Mdedizinische Hochschule Hannover (MHH) zu diesen Fragen sind allein schon wegen der offenen Interessenskollisionen weitgehend unbrauchbar.

In dem nun vorgelegten Referentenentwurf für eine "Reform" ist als Ergänzung zu § 9, Absatz 8 (auf S. 23) geplant, dass die Unfallversicherungsträger künftig einen Jahresbericht über ihre entsprechenden Tätigkeiten veröffentlichen sollen. Das ist nett, denn es erleichert die Arbeit recherchierender Journalisten. Mehr aber auch nicht.

Die Begründung für diese vorgesehene Ergänzung zeigt, wie entweder bewusst und/oder realitätsabstinent die Ministerialbürokratie solche Vorschläge auf den Tisch legt: Mit der Offenlegung der Aktivitäten bzw. der neuen Transparenz "werden damit Anreize gesetzt, neue Forschungsthemen zu erschließen und Personen aus dem medizinisch-wissenschaftlichen Spektrum für die Durchführung zu gewinnen."

Hier ist der komplette Referentenentwurf zu lesen: Entwurf eines 7. Gesetzes zur Änderung ...

Vorschlag:Zu akzeptieren, dass sich weiterführende Forschung über Berufskrankheiten nur durch a) Unabhängigkeit, b) volle Transparenz und c) qualitätssichernde Standards (wie sie z.B. bei der DFG und bei EU-Projekten üblich sind) erreichen lässt. Konkret bedeutet dies: nachsitzen!
Außerdem: Qualitätssichernde Vorgaben und unabhängige Forschung gewährleistende Rahmenbedingungen sollten von externen und anerkannten Experten für wissenschaftliche Redlichkeit 'verordnet' werden.

Das BMAS-Gremium "Ärztlicher Sachverständigenbeirat 'Berufskrankheiten'"

Diese Runde gibt es schon seit Jahrzehnten und soll jetzt auch gesetzlich verankert werden. Das ist schön. Auch transparenter soll alles werden. Ebenfalls schön.

Und - dies ist tatsächlich eine Verbesserung - jetzt soll - erstmals - dieses Gremium einen wissenschaftlichen Unterbau erhalten. Die dort zahlreich vertetenen Professoren mach(t)en dies nämlich ehrenamtlich und sind/waren immer darauf angewiesen, dass jene, die ihren Job Fulltime machen, nämlich die Vertreter des GUV-Systems mit ihrem Informationsvorsprung, die relevanten Vorlagen liefern, auf denen das Gremium dann diskutiert und Empfehlungen abgibt.

Jetzt besteht - erstmals - die Möglichkeit, dass dafür a) eine Geschäftsstelle bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und b) 10 wissenschaftliche Stellen eingerichtet werden, die mit ihrem arbeitsmedizinischen und epidemiologischen Know-how sogenannte Reviews systematisch durchführen können (Referentenentwurf: S. 22, 38, 57, 86f, 116).

Ob sich dadurch Verbesserungen ergeben im Blick darauf, dass

  • neue Krankheitsbilder schneller als beruflich bedingt erkannt werden
  • Entscheidungen über kritische Gefahren und Gefahrstoffe, mit denen die Wirtschaft (gute) Geschäfte macht, objektiver getroffen werden können,

bleibt abzuwarten. Dies muss der künftige Alltag zeigen.

Vorschlag: Besser, sprich effektiver und nachhaltiger würde es sein, dass in dieses Gremium "ÄSVBR BK" nur solche Wissenschaftler berufen werden können, die nachweislich und transparent keine Interessen mit dem System der GUV verbindet. Nur so lassen sich Interessenskonflikte vermeiden, die in der Regel zu Lasten derer ausgehen, für die die "Gesetzliche" Unfallversicherung ursprünglich gedacht war.

Nach jetztigem Stand der Besetzung (Stand Oktober 2019) müssten mindestens 4 von 8 Arbeitsmedizinern und 2 von 4 "Ständigen Beratern" ohne Stimmrecht weichen.

Unklar bleibt bei den derzeitigen Formulierungen zu den "wissenschaftlichen Stellungnahmen" und/oder "Merkblättern" zu Berufskrankheiten, ob dies künftig wieder vom "ÄSVBR BK" gemacht werden soll oder nach wie vor (seit 2010) der DGUV e.V. überlassen bleibt. Vorschlag: Unabhängige "wissenschaftliche Stellungnahmen" sollten von unabhängigen Fachleuten verfasst sein, deren Einschätzung nicht von Interessenskonflikten überlagert wird.

Einbindung von Betroffenenkompetenz

Diesen Begriff kennen die zuständigen Ministerialen offenbar überhaupt nicht. Und/oder ihr Denken wird (immer noch) von der Einstellung geprägt, dass die Regierenden eine eigene Kaste darstellen, zu denen man ehrfurchtsvoll hochschauen muss, weil alles, was sie machen, sozusagen gottgegeben ist.

Die Erfahrungskompetenz von Betroffenen ist etwas völlig anderes als Schreibtischkompetenz eines Beamten. Betroffene können von Dingen berichten, die man vom 'grünen Tisch' aus überhaupt nicht vermuten, geschweige denn kennen kann. Insbesondere dann, wenn man nicht bereit ist, in die (Un)Tiefen der Realitäten hinabzusteigen und sich vor Ort anschaut und anhört, was einzelne Menschen zu berichten haben. Und wie sich solche Erkenntnisse dann aggregieren lassen, um daraus zielführende und praktikable Lösungsvorschläge für die politischen Entscheidungsträger zu machen.

Im Bereich der Berufskrankheiten gibt es nicht allzuviele Betroffenenkompetenz-Initiativen, was damit zusammenhängt, dass (Berufs)Kranke dazu physisch, psychisch und erst recht finanziell dazu in der Lage sind. Und doch gibt es - derzeit - drei solcher Initiativen:

Für die in jeder Hinsicht voll abgesicherten Beamten des BMAS-Apparats sind diese zivilgesellschaftlichen Initiativen offenbar keine ernstzunehmende Gesprächspartner. Vorschlag: Solche Betroffenenerfahrung zu nutzen.

Beweiserleichterung

Im Sozialrecht gelten sehr viel strengere Beweisanforderungen als im gesamten übrigen Zivilrecht. Nur das Strafrecht kann da - aus nachvollziehbaren Gründen - mithalten.

Die Sozialgerichtsbarkeit stellt - aus welchen Gründen auch immer - auf den "Vollbeweis" ab. Der ist allerdings nirgendwo definiert oder kodifiziert. Die Vollbeweis-Theorie scheint sich - ganz offenbar - im Lauf der Zeit herausgebildet zu haben. Weil niemand widersprochen oder diesen Zusammenhang hinterfragt hat, gilt er - derzeit - als herrschende Meinung. Und wird so praktiziert, weshalb es in sehr vielen Fällen oft nicht mehr möglich ist, einen Kausalzusammenhang zwischen Einwirkung von Schadstoffen und gesundheitlichen Folgen "im Vollbeweis" darzustellen. Zu Lasten der am Arbeitsplatz Geschädigten.

Dem soll nun durch Einfügung eines Absatzes 3a in den Paragraphem 9 des SGB VII (S. 23 des Referentenentwurfs) mittels seiner Beweiserleichterung abgeholfen werden, die in folgender Formulierung besteht: Die Berufsgenossenschaften sollen künftig auch Erkenntnisse anderer BG's "berücksichtigen", wenn es solche von vergleichbaren Arbeitsplätzen gibt, z.B. in anderen Branchen. Insbesondere soll dies bei den nun aufzubauenden "Expositionskatastern" erfolgen.

Die Formulierung "berücksichtigen" ist viel zu vage als dass sie Berufsgenossenschaften in iher eingeübten Verwaltungspraxis dazu veranlassen könnte, Messungen, Erfahrungswerte und dergleichen anderer BG's in ihren Bescheiden, die ja mehrheitlich immer nur negativ ausfallen (sollen), tatsächlich in ihren "Stellungnahmen" mit zu verarbeiten. Vorschlag: Wenn das ernst gemeint sein soll, muss eine solche Formulierung a) auf "zwingend vorgeschrieben" lauten und b) mit konkreten Nachweisen verbunden sein, dass dies auch tatsächlich geschehen ist. Und zwar so, dass ein Kläger bzw. dessen Anwalt das auch nachprüfen kann.

Weitere Detailanmerkungen

Hier finden sich weitere Kritikpunkte, die wir in einem 4-seitigen PDF zusammengefasst haben. Sie gehen ins Detail und sind eher für Experten bestimmt. Dürfen aber auch von allen anderen gelesen werden:

Kritische Anmerkungen zum Referentenentwurf zur Änderung des SGB VII - Reform des BK-Rechts (Stand Oktober 2019).

Zwei kritische Mahner bereits seit Jahren

Die Branche der bundesdeutschen Arbeitsmedizin ist in ihrem Mainstream von 2 Dingen geprägt:

  • systemischen Interessenskonflikten, die wir u.a. hier, aber auch an anderer Stelle skizziert haben
  • der herrschenden Meinung, die von der sog. Erlanger VALENTIN-Schule ausgeht bzw. ausgegangen ist und bis heute das Bild dieser medizinischen Disziplin dominiert.

Es finden sich nur wenige Ausnahmen. Schon deswegen, weil es ungemein schwierig ist, sich in einer kartellartig verbündeten Welt mit anderen arbeitsmedizinischen Positionen zu behaupten. Selbst wenn die - international gesehen - dem weltweiten Erkenntnisstand entsprechen. Am Beispiel Asbest konnten wir das mehrfach demonstrieren, alles zu finden unter www.ansTageslicht.de/Asbestkrimi.

Zwei Vertreter der Arbeitsmedizin, die sich nicht in das vorteilshaftige Netzwerk des GUV-Systems haben einbinden lassen, sind

  • Prof. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ, ehemals Uni Gießen
  • Prof. Dr. med. Xaver BAUR, vormals Uni Hamburg, zuletzt Charite Berlin.

Beide sind emeritiert. Xaver BAUR ist nach wie vor aktiv.

Beide haben sich bereits vor längerer Zeit kritisch mit den Realitäten auseinandergesetzt und Vorschläge unterbreitet, die wir hier dokumentieren können:

Beide Veröffentlichungen sind in der Fachzeitschrift Soziale Sicherheit erschienen: Heft 10-11/2016 sowie Heft 1/2017. Der Verlag hat der Veröffentlichung hier auf ansTageslicht.de freundlicherweise zugestimmt.


Die Probleme sind also schon lange bekannt. Und ernsthafte Lösungen nicht in Sicht.

(JL)

Diesen Text können Sie auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Reform

Weitere Informationen zu diesem Thema gibt es unter www.ansTageslicht.de/krankdurcharbeit

Der Text, den Sie hier lesen, gehört zum Themenkomplex

Krank durch Arbeit.

Weitere Bestandteile sind diese Themenschwerpunkte:

Ebenso dazugehörig, aber an anderer Stelle bei uns platziert:

Alle diese Themenschwerpunkte bestehen aus mehreren (ausführlichen) Texten, die wir "Kapitel" nennen. Den gesamten Themenkomplex im Überblick können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/krankdurcharbeit.