Das kurze Leben von Ignatz NACHER's Großneffen Thomas MUNDERSTEIN

Dies ist die Geschichte eines elfjährigen Jungen, der im Januar 2020, wenn seine Geschichte hier online geht, 90 Jahre alt geworden wäre. Und noch hätte leben können. Fünf Wochen vor seinem 12. Geburtstag wurde er - zusammen mit seiner Mutter - in einem Wald vor Riga in Lettland erschossen: Igatz NACHER's Großneffe Thomas MUNDERSTEIN, geboren am 5. Januar 1930.

Bis vor kurzem bestand der Plan in einer kurzen Geschichte - es gab nicht allzuviele Informationen über ihn, nur Dokumente aus der - typisch deutschen - Bürokratie der Abwicklung seiner Deportation. Doch ein erster kurzer Hinweis online auf dieser Site, im Zusammenhang darüber, was mit der Familie von Ignatz NACHER nach dessen Enteignung 1933/34 geschah, und wie es bis 1945 weiterging, die im November 2019 online gegangen war (9. November 1938: das Progrom, Ignatz NACHER und seine Famile) genügte, dass sich jemand meldete: mit 5 Briefen von Thomas MUNDERSTEIN an seinen früheren Lehrer, dem es gelungen war, eine Woche vor dem Novemberpogrom nach Palestina auszureisen.

Anlass, erneut in die historischen Recherchen einzusteigen, und das kurze Leben eines Kindes wieder neu zum Leben zu erwecken - jedenfalls in der Erinnerung.

Dies ist die Geschichte des damals elfjährigen Thomas MUNDERSTEIN. Über den Weg der Recherchen und die Quellen legen wir am Ende der Rekonstruktion Zeugnis ab.

Diese Geschichte lässt sich auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Thomas.

Die Geschichte seines Spielkameraden Peter NACHER, von dem hier ebenfalls die Rede sein wird und der unter falschem Namen überleben konnte, haben wir rekonstruiert unter www.ansTageslicht.de/Peter.


Ende der "Goldenen Zwanziger" - Jahre bis 1930

Der zweitgrößte Brauereikonzern in Deutschland, die Engelhardt Brauerei AG in Berlin mit ihren vielen Beteiligungen an anderen Brauereien, darunter das bekannte Malzbier von "Groterjan", kann der weltweiten Wirtschaftskrise, die 1929 ein wirtschaftliches Erdbeben ausgelöst hat, einigermaßen trotzen; Bier wird zu allen Zeiten getrunken, wenngleich auch nicht immer in den selben Mengen.

Der Mehrheitsaktionär und Chef ("Generaldirektor") von Engelhardt, Ignatz NACHER, ist zufrieden: wirtschaftlich gesehen, aber auch privat. Sein an Kindes statt angenommer Sohn, eines der vielen Kinder seiner Schwägerin, hatte eine junge Frau geheiratet, von der Ignatz NACHER ganz verzückt ist: die Schauspielerin Camilla SPIRA. Die ist mit ihren knapp 24 Jahren nicht nur talentiert und erfolgreich, sondern auch ausgesprochen hübsch. 1930 spielt sie in dem berühmten Singspiel "Zum Weißen Rößl am Wolfgangsee" die "Rößl-Wirtin": erst im Großen Schauspielhaus auf der Bühne, dann in der gleichnamigen Verfilmung. Ihr Ehemann, sein quasi-adoptierter Sohn Dr. Hermann EISNER, hat eine gutgehende Rechtsanwaltspraxis in der Berliner Friedrichstrasse, und wohnt zusammen mit Camilla in einer schönen Wohnung am Kaiserdamm, wo auch deren Sohn Peter, inzwischen drei Jahre alt, heranwächst.

Nachwuchs aber auch bei seiner Nichte Margarete, die Tochter seines Bruders Siegmund NACHER. Sie hat am 5. Januar 1930 einen Jungen zur Welt gebracht, Thomas.

Ignatz NACHER's Familie ist groß. Und weitverzweigt. Allein sein Bruder Moritz, der in Polen lebt, hat neun Kinder. Und 'Famile' ist Ignatz NACHER wichtig. Der Aufbau der Engelhardt-Brauererei AG, die er 1901 im Alter von 33 Jahren als kleine 'Bierklitsche' übernommen hatte, hat viel Kraft und Zeit gekostet. Sie ist sein eigentliches 'Kind'. Alle anderen sind seine Familie und die will er nicht missen.


danach

Doch die Zeiten sind unruhig. Auf der Strasse tobt der Mob, es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, es kommt zu Schießereien - linke Gruppen gegen rechte, Polizei gegen die Bürger. Der New Yorker Börsencrash vom Oktober 1929, der die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund gerissen hat, weil eine gigantische Spekulationswelle zusammengebrochen war, hat flächendeckend Arbeitslosigkeit und Armut hinterlassen. Und das Versagen des politischen Systems der am 9. November 1918 ausgerufenen "Republik", die nur noch mit "Notverordnungen" einigermaßen funktioniert, hat große Enttäuschung bei vielen Deutschen ausgelöst. Immer mehr von ihnen setzen jetzt auf andere Formeln: "Volksgemeinschaft" und "Sozialismus" im nationalen Sinne sind die neuen Parolen, die der "Führer" dieser neuen Bewegung ausgibt. Er hat sich das Image eines 'starken Mannes' aufgebaut, dem sich nun immer mehr Menschen anschließen - aus totalem Frust über ihre eigene malade Situation.

Dass dieser neue Zeitgeist gleichzeitig eine ganze Volksgruppe diskreditiert und ausgrenzen möchte, die seit Jahrhunderten Bestandteil des 'Deutschtums' ist, die Bevölkerung jüdischen Glaubens, stört die wenigsten - schon aus Frust nicht; Frust mangels einer anderen Alternative für Deutschland.

Davon ist jetzt auch die Engelhardt-Brauerei betroffen. Das "Charlottenburger Pilsner" oder das Malzbier von "Groterjan" ist immer mehr als "Judenbier" verschrien.

Doch die Engelhardt-Brauerei ist nicht nur groß, sondern auch managementmäßig gut aufgestellt. Sie hält die Umsatzeinbußen aus. Dass die Organisation des Unternehmens so gut läuft, hängt auch mit der personellen Besetzung wichtiger leitender Managementfunktionen zusammen. Für Ignatz NACHER arbeiten auch seine Familienangehörigen. Sein Quasi-Sohn Dr. Hermann EISNER arbeitet im Vorstand seiner Brauerei, Bruder Rudolf NACHER ist Vorstand von Inatz NACHER's Holding "Borussia" AG, sein Neffe Ferdinand NACHER, knapp über dreißig, fungiert als Prokurist, NACHER's Bruder Siegmund ist als Außenhandelsvertreter unterwegs (siehe Stammbaum): 


1932 bis Anfang 1933

Weil Ignatz NACHER's Nichte Margarete nun nicht mehr bei ihren Eltern in der Berliner Kaubstrasse 7a wohnt, einem geräumigen Anwesen im architektonischen Zwanziger-Jahre-Stil im Stadtteil Wilmersdorf, verkaufen Siegmund NACHER und seine Frau Elisabeth das Haus und ziehen in eine kleinere Wohnung. Ihre Tochter Margarete heißt mit Nachnamen inzwischen MUNDERSTEIN und hat ihre eigene Familie.

Währenddessen wird der Zulauf für die "Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" immer größer. Knapp eine Million Mitglieder verfügen bereits über das Parteibuch und viele schließen sich einzelnen Gruppierungen an, die eine bessere Welt versprechen. Z.B. bei der "SA". Die gesamte Bewegung hat ein einheitliches Marketing: Sie ist an der braunen Farbe zu erkennen, weshalb die uniformierten Aktiven auch "Braunhemden" genannt werden.

Bei den Wahlen zum Reichstag 1932 wird die NSDAP mit über 30% der Stimmen zur größten Partei. Viele ahnen noch nicht, wie es weitergehen wird.

Weil das politische System der allerersten Republik auf deutschem Boden viele Konstruktionsfehler enthält, Deutschland durch den Versailler Vertrag wirtschaftlich geknebelt ist und die bisherigen staatstragenden Parteien völlig versagen, gibt es ab 30. Januar 1933 einen neuen Reichskanzler: Adolf HITLER. Bei den erneuten Reichstagswahlen im März kommt die NSDAP auf 43% aller Wählerstimmen - die sogenannte Machtergreifung hat begonnen und wird die gesamte Welt verändern.


1933

Bei der Engelhardt-Brauerei machen sich die Veränderungen sehr schnell bemerkbar. In Berlin gerät das "Judenbier von Engelhardt" immer mehr in den Fokus der neuen Machthaber - jüdisches Bier in arischen Kehlen, das kann nicht gutgehen. Und so wie in den staatlichen Krankenhäusern alle jüdischen Ärzte entlassen werden so wie in den Gerichten jüdische Richter, wie überhaupt alle Beamte, die jüdischen Glaubens sind, auf der Stelle ihren Arbeitsplatz verlieren, so wollen die neuen Parteigenossen, auch "Pg" abgekürzt, bei der Engelhardt-Brauerei "aufräumen", wie das in der neuen Umgangssprache heißt.

Viele sozialdemokratische Abgeordnete und Politiker der KPD sind inzwischen in Kellern festgesetzt und werden in diesen unzähligen "KZ's", wie es jetzt heißt, gequält und gefoltert, ebenso Intellektuelle, Publizisten, Künstler - praktisch alle kritischen Geister, die den Nazis ein Dorn im Auge sind: z.B. Carl von OSSIETZKY. Andere waren schneller oder hatten Glück: Bert BRECHT konnte sich nach Prag absetzen, Der Publizist und Theaterkritiker Alfred KERR sowie seine Tochter Judith KERR, die später das berühmte Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" schreiben wird, sind auf der Flucht. Thomas MANN, Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1929, befindet sich auf einer Vortragsreise im Ausland, von der er nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren wird.

Inzwischen sitzen auch die ersten (jüdischen) Unternehmer und Manager im Gefängnis - man hält ihnen Korruption und Bestechung vor. Auch Ignatz NACHER wird vorgeladen - zwecks "Säuberung Berlins von jüdischen und korrupten Elementen", wie es der "Angriff", das Kampfblatt der Nationalsozialisten, verheißt.


März 1933

Auch Ignatz NACHER wird erpresst: von dem neu eingesetzten "Staatskommissar für Berlin", Dr. Julius LIPPERT. Er hält ihm ein Grundstücksgeschäft aus dem Jahr 1929 vor, als die Engelhardt-Brauerei ihr stolzes Verwaltungsgebäude am Berliner Alexanderplatz, das "Engelhardt Haus" an die Stadt Berlin verkaufen sollte. Die Stadtväter wollten den Platz erweitern und eine neue U-Bahn-Linie bauen. Jetzt soll - fünf Jahre danach - Bestechung im Spiel gewesen sein.

Die Vorwürfe werden sich später als haltlos herausstellen. Das nützt NACHER im Augenblick wenig. Entweder geht er mit seinen inzwischen 65 Jahren ins Gefängnis oder er macht das, was der "Staatskommissar" möchte: Ignatz NACHER soll den größten Teil seiner Engelhardt-Aktien der Stadt überschreiben - als Entschädigung.

Ignatz NACHER hat wenig Wahl. Zwar versucht er zu retten, was zu retten ist, aber es werden immer mehr, die bei dieser geplanten Enteignung ihren Anteil wollen.

Ignatz NACHER wird dennoch im Gefängnis landen. Vorübergehend, aber gezielt. Man wird ihm dann das für ihn lebensnotwendige Insulin vorenthalten und ihm drohen, bis er endlich unterschreiben wird: den Verzicht auf alles, was er in über 30 Jahren aufgebaut hat.

Wie diese sogenannte Arisierung im Detail abgelaufen ist, wer die Akteure waren und wie sie Ignatz NACHER unter Druck gesetzt haben, ist in einem anderen Kapitel beschrieben: Die brutale Enteignung der Engelhardt-Brauerei.


danach

Ignatz NACHER's Neffe, Ferdinand, der u.a. als leitender Angestellter, konkret: als "Prokurist" bei Engelhardt gearbeitet hat, ist der erste aus Ignatz NACHER's Verwandschaft, der das Weite sucht; ihm sind die sich abzeichnenden Bedrohungen zu unkalkulierbar. Ferdinand NACHER verlässt Berlin, findet zunächst Zuflucht in Brüssel, von wo aus er später nach New York in die USA emigrieren wird.

Ignatz NACHER's Quasi-Sohn Hermann EISNER und dessen Frau Camilla bleiben. Und das obwohl EISNER seinen Vorstandsjob bei Engelhardt aufgeben muss - die neuen Machthaber sitzen inzwischen im Aufsichtsrat. Camilla SPIRA darf nicht mehr auf "deutschen" Bühnen auftreten, nicht mehr in "deutschen" Filmen spielen, kann nur noch bei Veranstaltungen des Jüdischen Kulturvereins mitwirken. "Wie lange wird sich dieser Unteroffizier mit dem Schnauzbärtchen da oben wohl halten können?" diskutiert Hermann EISNER im kleinen Familienkreis.


1934: Speyer - Heidelberg - Berlin

Nachdem die neuen Machthaber unzählige Menschen jüdischer Herkunft in Krankenhäusern, Schulen, Gerichten, Behörden und anderen staatlichen Einrichtungen herauskatapultiert haben, will man jetzt den Nachwuchs einschränken. Ab sofort sind Juden nicht mehr zur Apothekerprüfung zugelassen, dürfen junge Leute jüdischen Glaubens nicht mehr Medizin studieren. Auch der Zugang zum Jura-Studium ist blockiert.

Davon ist Franz MÜHLHAUSER betroffen, 22 Jahre alt. Er hat sein Studium der Rechtswissenschaft vor drei Jahren in Heidelberg, ganz in der Nähe von Speyer aufgenommen und darf es jetzt nicht mehr zu Ende führen. Was ist die Alternative?

Seine Eltern betreiben in Speyer in der Maximilianstrasse 38/39, mitten im Zentrum und nur 500 Meter vom berühmten Speyrer Dom, entfernt ein Herrenausstattungsgeschäft: "Kleiderfabrik und Herrenmaßgeschäft", so die Firmenbezeichnung. Am 1. April letzten Jahres, als die Nazis im ganzen Land zum "Judenboykott" aufgerufen hatten, hatte es auch die Eltern getroffen. Zurück nach Speyer zieht es Franz MÜHLHAUSER nicht. Zu klein ist die Stadt und zu bekannt seine Familie: Vater Albert ist in der Jüdischen Gemeinde aktiv.

Franz MÜHLHAUSER lässt sich umschulen. Er macht das, was noch geht: eine Ausbildung zum Volksschullehrer. Und geht nach Berlin.

Berlin ist (riesen)groß, dort kann man in der Anonymität einer Großstadt unbeschwerter leben.


1935

Das Jahr 1935 bringt weitere Einschränkungen fürs Arbeiten und Leben von Juden in Deutschland - jedes Jahr werden es mehr. Jetzt gibt es Zulassungsbeschränkungen für Zahnärzte. Jüdische Künstler werden zwangsweise im "Reichsverband jüdischer Kulturschaffender" erfasst - so kann man diese Berufsgruppe besser kontrollieren. In der Wehrmacht dürfen nur noch "Arier" mit einwandfreiem Stammbaum "Offiziers"-Funktionen ausüben. Und um in die "Reichsschaft der Studierenden" in Deutschland aufgenommen zu werden, ist ebenfalls der lückenlose Arier-Nachweis notwendig.

Der wichtigste Schlag gegen die jüdische Bevölkerung wird auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg beschlossen: ein "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre".

Danach ist unter Strafe mit Gefängnis oder Zuchthaus verboten

  • die Eheschließung zwischen Juden und Nicht-Juden
  • außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nicht-Juden.

Ziel und Zweck dieses und zweier weiterer Gesetze, die später als "Nürnberger Gesetze" bezeichnet werden: "Rassenschande" zu bestrafen und die "Reinhaltung des deutschen Blutes" zu sichern.


Dr. Hans GLOBKE, der 'geistige Vater' des "Blutschutz-Gesetzes"

Hans GLOBKE ist das, was man einen typischen deutschen Beamten nennt: korrekt, seiner staatlichen Pflichten bewusst, strebsam.

Vor allem: Immer das ausführend, was von einem erwartet wird, z.B. von dem Vorgesetzten. Im Gegenzug garantiert 'Vater Staat' finanzielle und berufliche Sicherheit. Das Hinterfragen der Sinnhaftigkeit und/oder der Folgen einer Entscheidung oder von getroffenen Maßnahmen gehört deswegen nicht zu diesen typischen Eigenschaften.

Und so hat sich auch Dr. Hans GLOBKE, Jahrgang 1898, für eine Karriere im öffentlichen Dienst entschieden: Jurastudium, Mitglied als "Katholik" in der Deutschen Zentrumspartei, die bis zur Machtergreifung 1933 existierte, Einstieg als stellvertretender Polizeipräsident in Aachen, Aufstieg zum "Regierungsassesor" und damit Übernahme in den preußischen Staatsdienst.

1929 ist er als "Regierungsrat" im preußischen Innenministerium in Berlin zuständig u.a. für das Namensrecht. 1932 entwirft Hans GLOBKE eine Verordnung, die es Juden unmöglich machen soll, einen als "jüdisch" geltenden Namen abzulegen bzw. zu abzuändern. Danach Aufstieg zum "Referenten" im Ministerium, jetzt auch zuständig für Auswanderungsfragen.

1935 der vorläufige Höhepunkt seines Beamtenschaffens: GLOBKE entwirft federführend das sogenannte Blutschutzgesetz und gibt auch gleichzeitig den passenden juristischen Kommentar heraus: auf dass die Behörden und alle Gerichte wissen, wie was gemeint ist.

Die "Nürnberger Gesetze" werden zur rechtlichen Grundlage für die wenig später einsetzende Verfolgung der Juden. Und deren Vernichtung. GLOBKE kann seine Beamtenkarriere 1938 krönen: Dr. Hans GLOBKE wird zum "Ministerialrat" befördert.


Seine eigentliche Karriere indes wird Dr. Hans GLOBKE nach 1945 machen.

Im Zusammenhang mit der sogenannten Entnazifizierung wird GLOBKE sich als Widerstandskämpfer ausgeben - er war nie Mitglied der NSDAP. Im sogenannten Wilhelminen-Prozess wird GLOBKE als Zeuge gegen einen anderen strebsamen Beamten aussagen: "Ich wußte, daß die Juden massenweise umgebracht wurden."

Eine solche Vita qualifiziert im Nachkriegsdeutschland für (noch) höhere Aufgaben: Dr. Hans GLOBKE wird vom ersten deutschen Bundeskanzler Konrad ADENAUER zum Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramts ernannt. Die Partei, für die GLOBKE nun maßgeblich tätig ist, ist jene Partei, die das Wort "christlich" als Markenzeichen in ihrem Logo führt.


28. Dezember 1935

In der Berliner Kurfürstenstrasse 36, schräg gegenüber von der Nr. 131, dem Sitz der Engelhardt-Brauerei, wo inzwischen andere Männer Einzug gehalten haben, findet in den Räumen von Ignatz NACHER's "Borussia AG für Brauereibeteiligungen" die letzte Aufsichtsratssitzung statt. Inzwischen hatte man NACHER - neben den Aktienanteilen an der Engelhardt-Brauerei - alle anderen Brauereibeteiligungen abgenommen. Die Borussia AG hat deswegen keine Erlöse mehr und muss liquidiert werden.

NACHER' Bruder Rudolf verliert seinen Job als Vorstandsvorsitzender dieser AG, wird von Ignatz NACHER aber als 'Privatsekretär' ein Auskommen haben. Siegmund NACHER, der andere Bruder, verliert seine kleine Vergütung als Aufsichtsratsmitglied. Als Außenhandelsvertreter für Engelhardt kann er schon seit 1933 nicht mehr tätig sein. Siegmund NACHER und seine Frau Elisabeth müssen umziehen - in eine kleinere Wohnung, 2 1/2 Zimmer, Hohenzollerndamm 184, Vorderhaus, 3 Treppen. 

In Kürze werden sie sich die Wohnung teilen (müssen). Ihre Tochter Margarete MUNDERSTEIN wird einziehen. Zusammen mit ihrem inzwischen 6jährigen Sohn Thomas.


1936

Auch eine andere Institution zieht um: die Private Waldschule Kalisiki, von den rd. 300 Schülern einfach "PriWaKi" genannt.

Die PriWaKi ist eine jüdische Schule. Die Kids sind entweder jüdisch oder gelten nach Hans GLOBKE's "Blutschutzgesetz" als "jüdische Mischlinge 1. Grades", wenn nur ein Elternteil als jüdisch gilt. Die bisher "arischen" Schüler mussten diese begehrte Schule bereits vor einiger Zeit verlassen.

Begehrt war die Schule wegen ihres modernen reformpädagogischen Lehrplans, der individuellen Betreuung der Schüler ganztags (8 bis 18 Uhr) sowie dem Fokus auf körperliche Fitness auch im Sportunterricht.

Vormals war die PriWaKi am Eichkamp im grünen Stadtteil Westend, musste dann nach Berlin-Dahlem in die Bismarckallee 35/37 gegenüber der Grunewaldkirche umziehen, dort aber u.a. wegen Beschwerden von "deutschen" Villenbesitzern erneut den Standort wechseln. Jetzt hat man in einer größeren Villa, deren jüdischer Besitzer bereits emigriert war, eine neue Heimat gefunden: Im Dol 2-6, direkt gegenüber dem U-Bahnhof Podbielskiallee - ein altes Gebäude wieder im Stadtteil Dahlem, umsäumt von hohen Bäumen und dichten Büschen mit einem weitläufigen Garten und einem größeren Schwimmbassin. Alles in allem ein abgeschiedener Ort des Friedens für jüdische Kids - innerhalb  der großen Stadt Berlin.


Kurz nachdem die Schule umgezogen ist, beginnt ein neues Schuljahr. In der (nach heutiger Zählart) ersten Klasse sind es nur noch jüdische Kinder, die dort eingeschult werden dürfen. Darunter: Thomas MUNDERSTEIN.

Für ihn hat der neue Standort der PriWaKi einen zusätzlichen Vorteil: Dort, wo er am Hohenzollerndamm 184 wohnt, befindet sich nur wenige Meter entfernt der U-Bahnhof Fehrbelliner Platz. Und von dort sind es nur 6 Minuten U-Bahnfahrt zur PriWaKi.


XI. Olympische Spiele in Berlin

Wie es auch heutzutage ist und von den olympischen Sportfunktionären gerne gehandhabt wird, so ist es auch im Jahr 1936: Das sportliche Weltspektakel gereicht Despoten und Tyrannen zur persönlichen Ehre und dient erfolgreich zur Ablenkung von anderen Dingen. Die Weltpresse und die Weltöffentlichkeit interessieren  sich für die Erfolgsnation Deutschland, die mit 33 Goldmedaillen, 26 Male Silber und 30 mal Bronze alle anderen Länder weltweit in den Schatten stellt.

Deutschland glänzt. Die Nationalsozialisten sonnen sich in einem hervorragenden Image im Ausland. Die Weltpresse schaut woanders nicht mehr hin. Schon garnicht hinter die Kulissen, was sich in Deutschland abspielt.

Zum Beispiel, dass es keine jüdischen Apotheker mehr geben darf. Und dass es in Kürze verboten sein wird, dass jüdische Lehrer "deutschblütigen" Kindern Privatunterricht geben dürfen. An den nicht-jüdischen Schulen sind sie sowieso schön längst vertrieben.


Ende 1936

Franz MÜHLHAUSER aus Speyer, der 1934 von Heidelberg nach Berlin gekommen war, um dort eine Volksschullehrerausbildung zu machen, weil er als Jude sein Jurastudium aufgeben musste, beendet seine Ausbildung an der von den jüdischen Gemeinden gegründeten "Volksschul-Lehrerbildungsanstalt" aufgrund seiner Vorkenntnisse bereits nach zwei Jahren. Jetzt wartet er auf die offizielle Unterrichtsgenehmigung. Er hat sich bei der Privaten Waldschule Kaliski (PriWaKi) beworben.


1937

Die Welt gerät nach und nach aus den Fugen.

  • Im fernen China haben japanische Truppen das Land überfallen, erobern Peking und knechten die dortige Bevölkerung. Es kommt zu Massenexekutionen und sytematischen Vergewaltigungen. Etwa 300.000 Menschen verlieren ihr Leben. Noch viel mehr werden mit traumatischen Erfahrungen weiterleben (müssen).
    Als einsamer Gegner dieses Krieges und der Massaker versucht der Vertreter der Siemens AG in Nanjing, John RABE, mittels einer 2 mal 2 Km großen Schutzzone die chinesischen Angestellten des Unternehmens, aber auch Teile der Zivilbevölkerung zu schützen: Er spannt über seinem Haus eine 3 x 6 Meter große Hakenkreuzfahne auf, um die japanischen Piloten von der Bombardierung abzuhalten - Deutschland und Japan sind Verbündete.
    John RABE wird später als der "Oskar Schindler von China" bezeichnet werden. Sein Wirken wird (erst) 2009 in einem Film gewürdigt werden.
  • In Spaniern tobt ein Bürgerkrieg. Der rechtsgerichtete Putschist General FRANCO will die demokratisch gewählte Regierung in die Knie zwingen. Unterstützung erhält er von deutschen Flugzegen der Legion Condor; sie zerstören die kleine Stadt Guernica, töten Hunderte von Menschen
  • In Palestina, dem britischen Mandatsgebiet, kommt es zu Aufständen der Araber, der sich gegen die Engländer richtet. Aber auch gegen die dort inzwischen lebenden Juden.
    Die Briten, die Palestina verwalten, sprich kontrollieren, sitzen mal wieder zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite haben sie in einer internationalen Erklärung 1917 das Recht der Juden bekräftigt, in Palestina eine Heimat aufbauen zu dürfen, auf der anderen Seite den Arabern, die bisher unter der Besetzung durch das Osmanische Reich zu leiden hatten, die Unabhängigkeit versprochen.
    Deswegen gestatten sie nur wenigen Juden die Einreise ins "gelobte Land". Dorthin wollen aber immer mehr, die aus Deutschland flüchten (können).
    Um jenen zu helfen, denen die Flucht gelang, und um das Recht hervorzuheben, hier einen jüdischen Staat zu gründen, bilden sich verschiedene Untergrundorganistionen, die in teils waghalsigen Aktionen Juden die Einreise ermöglichen. Eines der bekanntesten Bücher, die das beschreiben, ist Leon URIS' Roman und der gleichnamige Film "Exodus".

Derweil nimmt in Deutschland - parallel zu der Kriegsproduktion, die bereits auf Hochtouren läuft, ohne dass die Weltgemeinschaft daran Anstoß nimmt - die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung immer weiter zu. Immer mehr Juden versuchen auszuwandern. Und immer mehr Länder der 'freien Welt' blockieren, verweigern Visa für die Einreise. Und die deutschen Behörden vergeben Auslandsreisepässe für Juden ab sofort nur noch mit Sondergenehmigung.

Einem, dem die Ausreise gelingt, ist Dr. Wilhelm LEWINSKI, ein PriWaKi-Lehrer, der nach Kolumbien emigrieren kann. Er wird dort in Bogota an einer Privatschule lehren und später eine 'Familienpension' namens "Casa porvenir" aufmachen.


Auch der 'neue Lehrer' an der PriWaKi trägt sich - angesichts der zunehmenden Bedrohungen - mit Auswanderungsgedanken, obwohl er gerade eben erst eine neue Stelle antritt: Franz MÜHLHAUSER. Er träumt von Palestina. Auch wenn dort im "Gelobten Land" Juden nicht wirklich erwünscht sind.


"Insel der Geborgenheit"

Die Schüler der "PriWaKi" führen ein anderes Leben als ihre gleichaltrigen Kameraden, die "arischen" Ursprungs, sprich nach den Regeln des Referenten im Innenministerium, Dr. Hans GLOBKE, "deutschblütig" sind. Während Kinder ab und an auch auf der Strasse tollen oder laut in Strassenbahnen oder U-Bahnwagen lachen (können), ist das bei jüdischen Kindern anders. Sie merken, ohne dass sie das verstehen können, dass in ihrer Welt fast alles anders ist. Deswegen achten sie außerhalb der Wohnung darauf, möglichst nicht aufzufallen, möglichst niemandem anderem Grund oder Gelegenheit zu bieten, sich über sie aufzuregen oder gar anzupöbeln.

Die heimische Wohnung ist der eigentliche Lebensraum. Und für die Kids der PriWaKi ihre Schule.

In der abgeschiedenen Villa mit den vielen Bäumen und dem Gebüsch rundherum, dem eigenen Schwimmbecken, wo sie Schwimmen lernen und im Garten Sport treiben können - nur hier können sie sich entfalten und das machen, was Kinder eben so machen. Die Lehrer haben für ihre Situation Verständnis, bereiten sie auf schwierige Situationen außerhalb Deutschlands vor, geben Fremdsprachenunterricht (Hebräisch, Englisch, Spanisch), erzählen von Palestina und versuchen, die Kinder für das schwierige Leben und deren alltäglichen Anfeindungen auch außerhalb der Schule fit zu machen.

Die PriWaKi ist das, was die Autoren H.L. BUSEMANN, M. DAXNER und W. FÖLLING 1992 in ihrem Buch beschreiben werden: eine "Insel der Geborgenheit".


1938 - die Schlinge zieht sich zu

Das Jahr, in dem Thomas MUNDERSTEIN 8 Jahre alt wird und jetzt bereits in die dritte Klasse der PriWaKi geht, wird ein Jahr weiterer und immer strengerer Verbote und Sanktionen.

Wer Vermögen im Wert von über 5.000 RM hat, muss dies den Behörden melden. Wer seinen jüdischen Glauben abgelegt hat und zur christlichen Lehre "konvertiert" ist, muss in seinen Papieren vermerken lassen, dass er vormals "mosaischen Glaubens" war. Jüdische Geschäftsinhaber, so weit sie noch ihre Geschäfte haben, müssen sie als "jüdisch" kennzeichnen. In Krankenhäusern werden ab sofort Juden und Arier in getrennten Räumen untergebracht. Alle Reisepässe werden eingezogen, die neuen mit einem großen "J" versehen.

Eingezogen werden auch alle Führerscheine und Kraftfahrzeugzulassungen. Bei der Auswanderung gelten restriktive Bestimmungen für Wertsachen und Devisen. Fahrten im Speise- oder Schlafwagen ist für Juden verboten. Jüdische Verlage und Buchhandungen werden von den Beamten der deutschen Behörden geschlossen.

In vielen Städten hängen am Ortseingang Schilder wie beispielsweise "Juden unerwünscht".


26. März 1938

Knapp drei Monate nach Thomas MUNDERSTEIN hat Franz MÜHLHAUSER Geburtstag. Er wird 26. Längst ist er einer der Lieblingslehrer der Schüler. Und insbesondere auch von Thomas.

Thomas MUNDERSTEIN schreibt ihm einen kleinen Brief. Weil der Geburtstag auf den Samstag, den Sabbath fiel, schreibt Thomas seine Zeilen erst am Sonntag:

Übersetzt:

"Lieber Herr Mühlhauser!

Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen ein langes Leben, und viel Glück! Bitte, nehmen Sie das Töpfchen mit nach Hause.

Würden Sie so gut sein, mir Ihre Adresse aufzuschreiben, daß ich Ihnen zu "Pessach" schreiben kann.

...

Mit hebräischem Gruß - Ihr Thomas Munderstein"

Franz MÜHLHAUSER ist gerührt, als er am Montag diesen Brief und die Frühlingsblumen überreicht bekommt.


Mai 1938

Das Leben 'draußen' geht weiter, unerbittlich. Im Laufe des Jahres entschließen sich immer mehr Deutsche jüdischen Glaubens, das Land verlassen zu wollen. Aber wohin?

Franz MÜHLHAUSER's Bruder ist der erste seiner drei Geschwister, dem die Ausreise in die USA gelingt, seine ältere Schwester wird ihm wenige Wochen später folgen können. Die jüngere, 19 Jahre alt, bleibt.

Auch Franz MÜHLHAUSER betreibt seine Emigration immer intensiver. In der PriWaKi unterrichtet er Schüler, die ihn nicht nur als Lehrer, sondern als "Freund" betrachten. So wie er ein inniges Verhältnis mit seinen Schülern pflegt. Aber bleiben kommt für ihn nicht in Frage. Auch die ersten Schüler haben sich mit ihren Eltern auf den Weg gemacht, und glücklich können sich jene preisen, die Kontakte und/oder Freunde oder sogar Verwandte außerhalb Deutschlands haben.

Franz MÜHLHAUSER bewirbt sich um einen Studienplatz in Palestina, ein Studentenzertifikat, das von den Briten gerade eingeführt wurde. MÜHLHAUSER versucht es an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie ist zugleich ein Zufluchtsort für viele Wissenschaftler jüdischen Glaubens, die seit 1933 an deutschen Universitäten nicht mehr lehren dürfen.

Aber Franz MÜHLHAUSER muss warten. So wie viele Tausende andere auch.


zeitgleich

Was sich in der Familie von Thomas MUNDERSTEIN am Hohenzollerndamm 184 zu dieser Zeit abspielt, wo auch seine Großeltern wohnen, lässt sich nicht mehr vollständig rekonstruieren. Seine Eltern sind seit 1936 geschieden und der Vater Alfred MUNDERSTEIN wohnt in der ehemals gemeinsamen Wohnung in der Badenschen Strasse Nr. 8 im Bezirk Wiilmersdorf.

Alfred hatte bisher erfolgreich für verschiedene Glasflaschenhersteller als Vertreter gearbeitet. Z.B. für die Firmen Hallesche Pfaennerschaft in Halle, das Leipziger Flaschenverschlusswerk und die Fa. Mansfeld AG in Mansfeld. Doch jetzt ist er gekündigt, das Einkommen sackt ab auf Null. Alfred hat noch einige Ersparnisse, will - bzw. muss - seine Zukunft woanders suchen und er kann sich ein Visum und eine Passage nach Montevideo (Uruguay) sichern.

Wie er mit seiner "Famile" verblieben ist, das wissen wir nicht.

Fest steht nur, dass er sich bei der Polizei zuletzt am 22. Mai 1938 unter der Hohenzollerndamm-Adresse für die Einwohnermeldekartei hat registrieren lassen. Seine Ausreise aus Deutschland jedenfalls wird klappen. Mitte Juni geht seine Reise los, er besteigt ein Schiff ab und kommt fünf Wochen später im Hafen von Montevideo an: am 1. August 1938.

Berlin ist für Alfred MUNDERSTEIN ersteinmal Geschichte. Aber wie er später sagen wird, sieht er sein Exil als vorübergehend an. Irgendwann - falls der Spuk einmal vorbei sein sollte - will er wieder zurück nach Berlin. Und zu seiner "Familie", vor allem zu seinem Sohn Thomas.

Mit dem steht er in brieflichem Kontakt. Unregelmäßig. Briefe von und nach Südamerika dauern.


15. Juni 1938

In jüdischen Wohnungen wird es immer enger. Seit die "deutschen Volksgenossen" jederzeit Mietverhältnisse mit Juden ohne Angabe von Gründen kündigen dürfen, droht vielen - neben der Arbeitslosigkeit - auch die Obdachlosigkeit. Immer mehr ziehen in sogenannte Judenhäuser, deren jüdische Besitzer verkaufen und gekündigte Juden aufnehmen müssen. Dort tritt man sich auf kleinstem Raum gegenseitig auf die Füsse.

Und der Alltag wird immer unkalkulierbarer.

Am 15. Juni werden in der Reichshauptstadt rund 1.500 Juden auf offener Strasse und in Cafes ohne jeglichen Grund verhaftet. Und ins KZ Buchenwald verschleppt. Für 146 von ihnen bedeutet das in den nächsten drei Monaten den sicheren Tod. Initiator dieser Aktion: Preußens oberster Polizeichef, General Kurt DALUEGE. Der hatte sich seine ersten Meriten 1933 bei der personellen "Säuberung" des Polizeiapparates verdient gemacht: mit seiner "Sonderabteilung Daluege". Und diese "Sonderabteilung" hatte auch das "Abkommen" zwischen Staatskommissar Julius LIPPERT und Ignatz NACHER 'betreut', nach dem NACHER seine Aktien ander Engelhardt-Brauerei der Stadt Berlin ohne jegliche Gegenleistung übereignen musste. DALUEGE will mal wieder sein Image aufpolieren und sich für höhere Aufgaben qualifizieren.

Gleiches möchte auch DALUEGE's Schwager in Berlin Charlottenburg. Der Polizeikommissar stellt regelmäßig sogenannte Verkehrsfallen auf. Wer als Nicht-Arier etwa beim Überqueren einer Strasse nicht ganz korrekt die Vorschriften einhält, wird nicht wie alle anderen mit einer Strafe von 1.- RM belegt, sondern ersteinmal eingelocht. Um wieder freizukommen, müssen Juden zwischen 50 und 500 Mark bezahlen. 500 Reichsmark beispielsweise entsprechen 4 Monatsgehältern, sofern man überhaupt noch ein Gehalt bezieht.

Weil die jüdischen Autokennzeichen an ihren Nummern zu erkennen sind, getrauen sich immer weniger damit auf die Strasse.


Juni 1938

Deutschlands jüdische Bevölkerung lebt in einem Hexenkessel: zu Hause gepeinigt, verarmt und verfolgt, wollen immer mehr nur das eine - nichts wie raus aus Deutschland. So schnell wir möglich.

Doch das Ausland nimmt Flüchtlinge nur im Rahmen festgesetzter Quoten auf. Die Quoten sind klein. Zu klein, um allen Juden Zuflucht zu gewähren. In vielen Fällen wird der Ehemann vorgeschickt - ein Visum für eine einzige Person ist immer noch leichter zu bekommen als für eine ganze Familie. Vor allem dann, wenn der Mann kräftig ist, Referenzen vorweisen kann und/oder einen Nachweis, dass er im fremden Land seinen Unterhalt garantieren kann.

Alfred MUNDERSTEIN, Thomas' Vater, fällt in diese Kategorie. Er ist - nach den amtlichen deutschen Papieren - Single, weil geschieden. Er macht sich auf die Reise, bucht eine Schiffspassage nach Buenos Aires in Argentinien. Dort wird er in fünf Wochen ankommen.


Juli 1938

Weil jetzt doch - nach fünf Jahren stillen Zuschauens - die Weltöffentlichkeit aufwacht und nach und nach zur Kenntnis nimmt, was sich in Deutschland abspielt, sieht sich der US-Präsident Franklin D. ROOSEVELT bemüßigt, eine internationale Konferenz über das Flüchtlingsproblem und die weltweiten Emigrationsquoten einzuberufen: die sog. Evian-Konferenz, die in dem gleichnamigen kleinen Badeort am Genfer See auf französischer Seite stattfindet. Eigentlich sollte es die Schweiz sein. Aber die Eidgenossen machen gute Geschäfte mit den Nazis, wollen es sich nicht mit ihnen verderben.

Innerhalb von 8 Tagen lösen sich Deligierte aus insgesamt 32 Ländern beim Reden ab. Betonen die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in ihren eigenen Ländern und dass sie sich außerstande sähen, die Einwanderungsquoten für gefährdete Juden zu erhöhen.

Die Konferenz geht ohne konkrete Ergebnisse zu Ende, nachdem alle ihre 'Fensterreden' gehalten haben (Details unter Das Vorspiel. Und die Nacht des 9. November. NOCH NICHT ONLINE).

"Juden preiswert abzugeben - wer will sie? Niemand!" höhnt die deutsche Presse.

Einen besseren Konferenzablauf hatten sich die Nazis nicht wünschen können. "Die Konferenz ist also eine Rechtfertigung der deutschen Politik gegen die Juden" erklärt z.B. die Tageszeitung "Danziger Vorposten" die internationale Abneigung gegen das Weltjudentum ihren deutschen Lesern.


August 1938

Und so müssen ab sofort alle deutschen Juden stigmatisierende Zusatznamen annehmen: Männer müssen "Israel" als zweiten Namen führen, Frauen "Sarah".

Thomas MUNDERSTEIN heißt deswegen jetzt offiziell "Thomas Israel MUNDERSTEIN".


September 1938: Rosch ha-Schana

Der Jüdische Neujahrstag fällt regelmäßig in den September und der Brauch ist von altersher: Man zieht Bilanz. Was war gut, was war nicht so gut im abgelaufenen Jahr?

Wie Thomas MUNDERSTEIN's Großeltern Siegmund und Elisabeth NACHER und wie sein Mutter Margarete in Wirklichkeit über die Zeiten denken, wissen wir nicht. Wir gehen davon aus, dass sie dem 8jährigen Thomas nicht alles erzählen, was sie zum Beispiel über das Radio erfahren, wenn sie ausländische Sender abhören.

Das ist natürlich verboten. Und geht nur dann, wenn man über einen Radioapparat verfügt. Noch dürfen die jüdischen Deutschen ein solches Gerät besitzen. Aber nicht mehr lange. In genau einem Jahr wird es verboten werden und alle Juden müssen ihre Radios abgeben. Sonst droht enormer Ärger.

Thomas MUNDERSTEIN lebt auf der einen Seite zuhause, zum anderen in seiner "Insel der Geborgenheit". Weil er einen sehr kurzen Weg in die PriWaKi hat, ist die Gefahr vergleichsweise gering, angepöbelt zur werden. Deswegen schaut er in seiner kindlichen Welt eher frohgemut in das Neue Jahr und ohne allzugroße Sorgen.

Und so schreibt er auch seinem Lehrer Franz MÜHLHAUSER einen weiteren Brief, wünscht ihm ein "gutes neues Jahr", wobei er teilweise in hebräischer Sprache schreibt:


30. September

Wie sehr die Welten eines Kindes und die der Realität auseinanderfallen, zeigt dieser Tag.

In der Nacht des 29. auf den 30. einigen sich Adolf HITLER, der italienische Diktator MUSSOLINI, der französische Ministerpräsident und der englische Premierminister Neville CHAMBERLAIN auf das Abkommen von München. Adolf HITLER ist in der internationalen Staatengemeinschaft so hoch angesehen, dass er - von allen anderen akzeptiert - die Tschechoslowakei dazu bringen kann, das Sudentenland an das Deutsche Reich abzutreten. Einfach so.

Tags drauf, am 1. Oktober, wird denn auch die Wehrmacht einmarschieren. Und das gesamte Gebiet okkupieren. Kardinal Bertram von Breslau, Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz, gratuliert Adolf HITLER in einem Glückwunsch-Telegramm für die "Großtat der Sicherung des Völkerfriedens".

Thomas MUNDERSTEIN schreibt am 30. September erneut an Franz MÜHLHAUSER - er kann ihm den Brief nicht selbt in der Schule überreichen, denn er liegt im (Jüdischen) Krankenhaus.

Thomas bedankt sich bei seinem Lehrer und Freund, dass er von ihm einen Brief erhalten hat. Er hat ihn aber nicht nicht einfach so ausgehändigt bekommen. Die Krankenschwester hat sich einen kleinen Spaß erlaubt, den Thomas hier beschreibt:

Diesen Brief schreibt Thomas in altdeutscher Schrift. Eine Übersetzung gibt es hier. Und noch eine Besonderheit: Thomas schreibt nicht an Herrn MÜHLHAUSER, sondern spricht ihn mit "Don F. Mühlhauser" an. Thomas lernt inzwischen Spanisch.

Vater Alfred ist längst über den 'großen Teich'. Und wartet offenbar auf seine Familie. In  Buenos Aires. Zur Weiterreise in ein anderes Land?


September ist auch der Monat, in dem sich Camilla SPIRA und Ignatz NACHER's Quasi-Sohn Hermann EISNER in ein anderes Land begeben: Sie haben eine sechswöchige Schiffsreise in die USA gebucht - als Touristen.

Camilla hat ihren Mann schon lange bedrängt, zu gehen, so lange es noch möglich ist. Hermann hatte bisher immer abgewehrt. Doch seine Einschätzung "Wie lange wird es der Unteroffizier mit dem Schnauzbärtchen da oben durchhalten?" ist einer realistischeren Meinung gewichen. Jetzt wollen die beiden erkunden, ob es in New York berufliche und finanzielle Chancen für sie gibt.

Die Einreise mit einem Touristenvisum gestaltet sich schwieriger als erwartet - sie werden ersteinmal in einer Art Gefängnis auf Ellis Island festgesetzt, bevor sie durch Fürsprache des bekannten Filmregisseurs Fritz LANG, der sich längst nach Hollywood abgesetzt hat, wieder freikommen. Und sich umschauen können. Fritz LANG möchte Camilla, die er noch aus Berliner Zeiten kennt, in Amerika zum Star aufbauen.


5. Oktober 1938

Um sich gegen einen Ansturm von jüdischen Deutschen von vorneherein zu erwehren, will die Schweiz eine Visumspflicht für (alle) Deutsche einführen; jeder der in die Schweiz möchte, müsste dazu im Konsulat einen entsprechenden Antrag stellen.

Das missfällt den deutschen Behörden. Sie schlagen stattdessen vor, dass jeder "Jude" in Deutschland ganz grundsätzlich einen Juden-Stempel in den Pass bekommt. So können die Schweizer "Juden" gleich erkennen und alle anderen (arischen) Deutschen können weiterhin ungehindert in die Schweiz ein- und ausreisen. Und ihren Geschäften nachgehen.

Und so geschieht es auch. Mit der "Verordnung über Reisepässe von Juden" vom 5. Oktober werden alle jüdischen Pässe für ungültig erklärt (so wie das US-Präsident Barack OBAMA im Jahr 2013 im Fall von Edward SNOWDEN gemacht hat). Sie müssen innerhalb von zwei Wochen den Pass-Behörden zurückgegeben werden. Zuwiderhandlung ist mit Strafe bedroht. Will jemand einen neuen Auslandsreisepass, so wird dieser mit einem roten "J" versehen.


danach in der Schweiz

Damit war ein Grenzübertritt für Juden in die Schweiz nicht mehr möglich. Auch Schweizer Grenzbeamte erledigen immer "nur ihre Pflicht". Und weisen ab sofort jüdische Flüchtlinge zurück.

Derweil nimmt der Auswanderungsdruck immer mehr zu. Rund 100.000 Juden haben es bisher geschafft. Jetzt wird es fast unmöglich.

Einer, der diese Anordnung nicht befolgt, weil er aus Gründen der "Menschlichkeit" Flüchtlingen helfen will, ist der St. Galler Polizeikommandant Hauptmann Paul GRÜNINGER. Er datiert an seinem Grenzposten entsprechende Einreisvisa entweder vor oder hilft, so weit er das kann, mit gefälschten Dokumenten weiter.

GRÜNINGER wird in den Jahren 1938 bis Anfang 1939 mehrere Hunderten von Juden vor der Verfolgung und Vernichtung retten.

Wegen der Missachtung der geltenden Vorschriften wird Paul GRÜNINGER 1939 suspendiert werden. Und man erkennt ihm seine Pensionsansprüche ab. Er gilt ab nun unter den Eidgenossen als "Verbrecher", wie seine Tochter später sagen wird.

Paul GRÜNINGER, aus dem schweizerischen Staatsdienst entlassen, wird die restlichen Jahrzehnte seines Lebens von Gelegenheitsarbeiten leben (müssen). 1972 stirbt er veramt in St. Gallen. In seinen Erinnerungen (Lebenslauf) hält er dies fest:

"Es ging darum, Menschen zu retten, die vom Tod bedroht waren. Wie hätte ich mich unter diesen Umständen um bürokratische Erwägungen und Berechnungen kümmern können?"

Das Wirken und Schicksal des Polizeihauptmanns Paul GRÜNINGER wird nach dem Krieg in Europa lange unbekannt bleiben. Die Politiker und die Wissenschaft (Historiker) nehmen es nicht zur Kenntnis. Erst der Journalist C.L. SANDOR des schweizerischen Tages-Anzeiger-Magazins wird im Jahr 1984 seine Geschichte erzählen. Und dann erst wird man in der Schweiz auf diesen Fall aufmerksam.

Aber die Israelis werden Paul GRÜNINGER ehren: bereits 1971 als "Gerechten unter den Völkern".


Das Dilemma

Die weltweiten Völker, die internationale Staatengemeinschaft, repräsentiert durch ihre Regierungschefs, zeigen sich unerbittlich - die Einwanderungsquoten werden nicht erhöht. Auch nicht für jüdische Flüchtlinge.

In Deutschland werden die Juden immer mehr eingekesselt. Die wenigsten schaffen es, diesem Hexenkessel zu entkommen - schon aus finanziellen Gründen, denn viele haben längst keinen Job mehr, wurden gekündigt und/oder sind mit einem Berufsverbot belegt. Und die jüdischen Geschäftsinhaber werden von den Deutschen boykottiert. Die meisten mussten ihre Läden aufgeben.

So leben manche von Erspartem. Z.B. wenn sie vor einiger Zeit ein Haus verkauft hatten. Oder sie werden von Verwandten unterstützt, die noch über Geld verfügen.

Ignatz NACHER's Verwandte sind in einer vergleichsweise privilegierten Situation. Der ehemalige Konzernchef hatte zwar alle Aktienanteile an seinen Brauereien abgeben müssen, wobei die Stadt Berlin ihm einen ganz erheblichen Teil ohne jegliche Entschädigung abgepresst hatte, aber ihm sind diverse Vermögenswerte geblieben. NACHER kann seinen Verwandten helfen. Auch seine frühere Sekretärin bei Engelhardt, die bei ihm weiter auf privater Basis angestellt ist, wird davon profitieren - sie wird in vier Monaten nach England emigrieren können; seine Sekretärin ist alleinstehend.


Das Vorspiel: 27. Oktober 1938 und danach

Um finanzielle Unterstützung bittet Berta GRYNSZPAN ihren Bruder Herrschel, der seit einiger Zeit in Paris lebt; er möge etwas Geld schicken. Sie schildert in wenigen Worten auf einer Postkarte, was passiert ist:

Berta GRYNSZPAN und ihre Eltern wurden am 27. Oktober in Hannover - so wie rund 12.000 andere Juden in großen Städten - ohne jegliche Vorwarnung in einer Blitzaktion von den Polizeibehörden zusammengetrieben, in Züge verfrachtet und an die polnische Grenze gefahren und dort mit Waffengewalt über die Grenze nach Polen verjagt. Jetzt sind sie in dem kleinen Städtchen Zbaszyn und haben nichts außer ihren Kleidern am Leib.

Bruder Herrschel GRYNSZPAN in Paris erhält diese Postkarte am 3. November. Er ist aufgebracht. Und entschließt sich, am 7. November, einem Montagmorgen, zur Deutschen Botschaft zu gehen.

Der Botschafter lässt sich verleugnen. Herrschel GRYNSZPAN muss mit dem "Legationsrat" der Deutschen Botschaft, Ernst vom RATH, vorlieb nehmen.

Herrschel GRYNSZPAN greift zu seiner Pistole. Und schießt.

Und leitet eine Entwicklung ein, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November entlädt: in einer Nacht der Pogrome in Deutschland (das gesamte Vorspiel im Detail unter Das Vorspiel. Und die Nacht des 9. November 1938 - NOCH NICHT ONLINE).


Das Novemberpogrom 1938

Die Familien NACHER und MUNDERSTEIN überstehen diese Nacht unbeschadet. Der Mob wütet vor allem gegen jüdische Geschäfte und Synagogen.

Ignatz NACHER's enger Freund und ehemaliger Geschäftspartner in Bamberg, Wilhelm LESSING, wird brutal erschlagen. Camilla SPIRA und ihr Ehemann sind gerade aus den USA zurück auf dem Weg nach Hause. In die USA wollen sie nicht mehr - sie haben mit eigenen Augen gesehen, wie Rassendiskrimierung dort aussieht. Und sehen wenig Unterschiede zwischen den USA und Deutschland: hier sind es die "Juden", in den USA die "Nigger".

Als ihr Schiff den Hafen von Rotterdam ansteuert, erfahren sie per Funk, was in Deutschland passiert ist. Sie bleiben in Holland. Wie es bei ihnen weitergeht, ist beschrieben unter Das Pogrom, Ignatz NACHER, seine Familie und die der Schauspielerin Camilla SPIRA.

Franz MÜHLHAUSER's Vater in Speyer trifft es - er wird mit anderen zusammen für mehrere Wochen ins KZ Dachau verschleppt.


Palestina

Franz MÜHLHAUSER selbst hat es geschafft: Mit seinem Studentenvisum für die Hebräische Universität in Jerusalem hat er am 1. November in Triest ein Schiff mit dem verheißungsvollen Namen "Galiläa"  bestiegen. Das kann am 7. November, zwei Tage vor der Pogromnacht, unbeschadet im Hafen von Haifa anlanden.


1939

Das neue Jahr, nach christlicher und offizieller Zählung, beginnt für Thomas MUNDERSTEIN mit seinem Geburtstag am 5. Januar. Seine Begeisterung für die Schule hat nachgelassen. Einer seiner für ihn wichtigsten Lehrer, den er als seinen "Freund" betrachtet, ist nicht mehr da. Und unter seinen Klassenkameraden wird gemunkelt, dass noch andere Lehrer auf dem Absprung sind.

Gleiches gilt für ihn und seine Mutter. Ob und wie oft sich sein Vater Alfred mit Briefen meldet, der jetzt bereits seit fünf Monaten in Buenos Aires ist, wissen wir nicht. Derlei Post, sollte es sie geben, ist nicht erhalten, aber wahrscheinlich.

Wie die Pläne von ihm und seiner Mutter aussehen, schreibt Thomas seinem ehemaligen Lehrer und "Freund" im Februar: Sie wollen nach Uruguay. Und waren deswegen auch schon in Hamburg beim Konsulat. Wegen Visa. Aber derzeit werden keine ausgestellt.

Bisher hatte sich das kleine südamerikanische Land großzügig gezeigt. Aber jetzt hatte man die offizielle Einreise erschwert: Die Behörden verlangen ein politisches Führungszeugnis, ausgestellt von der Geheimen Staatspolizei in Deutschland, der Gestapo. Allerdings gibt es immer noch die Möglichkeit über den "Touristen-Schleichweg", wie man das nennt - man beantragt ein Touristenvisum, fährt hin und bleibt einfach. Dazu genügt eine Schiffsfahrkarte, die man im Konsulat vorlegen muss.

Was genau der konkrete Plan war, und warum er dann nicht geklappt hat, ob der Vater Alfred MUNDERSTEIN von Buenos Aires aus dorthin kommen wollte, weil er nur ein Visum für Argentinien, aber nicht für Uruguay bekommen hatte, all das wissen wir ebenfalls nicht. Jedenfalls schreibt der neunjährige Thomas seinem "Freund" Franz MÜHLHAUSER über Uruguay:

Und der "Freund und frühere Schüler" Thomas MUNDERSTEIN bittet Franz MÜHLHAUSER, er möge ihm einige "schöne Worte" für sein Poesiealbum aufschreiben.


März 1939

Was wir von Thomas' Vater nicht wissen, wissen wir aber von einer anderen Lehrerin von Thomas, Ruth EHRMANN. Sie hatte sich v.a. um die Grundschulkinder gekümmert, zu denen auch anfänglich Thomas gehörte. Zuletzt hatte sie vorwiegend Englischunterreicht gegeben - Englisch war jetzt wichtig für viele, die sich Hoffnung auf Großbritannien oder die USA gemacht hatten.

Ruth EHRMANN ist im März die Ausreise gelungen - sie konnte ein Zertifikat als "Haushaltshilfe" ergattern. In England angekommen arbeitet sie zunächst an einem Mädcheninternat in Bristol, wird dann einen chilenischen Bildhauer heiraten, der ebenfalls aus Berlin geflohen war, und mit ihm kurz darauf nach Santiago de Chile übersiedeln.

Vorher hatte ihr Thomas aber noch einen Brief geschrieben, eineinhalb Wochen nach seinem Geburtstag. Der Brief hat sich erhalten in der Sammlung "Kaliski-Schule" im Jüdischen Museum Berlin:

"Mein liebes Fräulein Ehrmann,
Gestern bekam ich Ihren lieben Brief. Ich danke Ihnen herzlich, auch für die schönen Briefmarken und die Gratulation . Ich bin sehr froh, daß es mir gelungen ist, Ihnen in den Jahren sehr viel Freude zu machen. Natürlich bleiben wir alte Freunde, auch wenn wir uns Jahre nicht sehen, alte Freunde, nicht wahr? Wir wollen uns immer treu bleiben, und uns immer schreiben! Sie können sich nicht denken, wie ich mich gefreut habe, aber auch gleichzeitig sehr traurig bin, daß wir uns trennen müssen. Jetzt gehe ich auch nicht mehr so gern in die Schule. Ich bin sehr froh, daß Sie in mein Poesie-Album geschrieben haben: „Freundin“ , freue ich mich, aber das ist ja selbstverständlich, ich bin ja auch Ihr Freund. Bitte schenken Sie mir doch ein Bild von Ihnen für mein Poesie-Album, und bleiben Sie immer die Freundin Ihres nochmals dankenden Schüler in Germany - Thomas Munderstein"

Die "PriWaKi" leert sich. Es gehen die ersten Schüler. Und jetzt die Lehrer.


April 1939

Franz MÜHLHAUSER hat seinem "Freund und früheren Schüler" geantwortet. Was, wissen wir nicht - der Brief ist nicht erhalten so wie alle anderen Briefe, die Thomas vermutlich gesammelt hat.

Franz MÜHLHAUSER jedenfalls hat alle Briefe von Thomas aufgehoben; sonst wüssten wir vieles nicht über ihn. Der nachfolgende Brief ist der letzte, den Thomas an seinen „Freund" geschrieben hat.

Thomas hat ihm ein Foto beigelegt, das ihn in kurzen Hosen zeigt. Es ist am Fehrbelliner Platz aufgenommen. Von dort war Thomas mit der U-Bahn immer in die PriWaKi gefahren. Doch diese Schule gibt es nicht mehr. Sie wurde am 1. April, also kurz bevor Thomas diesen (letzten) Brief geschrieben hat, mit der Goldschmidt-Schule am Hohenzollerndamm 110 a zusammengelegt. Deswegen die Vermutung, dass dieses Foto bereits etwas älter ist. Schon deswegen, weil der 9jährige Thomas einen fröhlichen und unbeschwerten Eindruck macht.

Genau das entspricht wohl nicht der aktuellen Situation, die sich zunehmend für die jüdische Bevölkerung verschärft. Und somit auch für Thomas. Auch wenn er das in seiner ganzen Tragweite nicht erfassen kann.

Jedenfalls bedankt sich Thomas für den letzten Brief und antwortet seinerseits, weil er keine „treulose Tomate" sein will. Und er bittet seinen „Freund“ um andere Briefmarken als im letzten Antwortbrief; offenbar sammelt Thomas solche.

Dass das Projekt „Uruguay" nach wie vor sein Denken dominiert, machen seine Überlegungen deutlich, die er Franz MÜHLHAUSER mitteilt:

Sein Vater Alfred will dort eine Farm kaufen: 30 Morgen Land; das entspricht der Größe von etwa 40 Fußballfeldern.

Thomas rechnet vor, dass er sich für 50 Mark Hühner kaufen wird und dann das Geld für die Eier behalten kann. Weil er das ein oder andere Ei wieder „unter die Hennen legen“ will, wird er dann „in einem Jahr ungefähr 100 Hühner haben":


zeitgleich

Weil Ignatz NACHER's "Kinder", Camilla SPIRA und ihr Ehemann, unmittelbar nach der Pogromnacht ihre beiden Kinder über einen sogenannten Kindertransport des Roten Kreuzes nach Holland nachholen konnten, wo sie von ihrer sechswöchigen Erkundungstour in den USA angelandet waren, und jetzt natürlich nicht mehr nach Deutschland zurückkommen, hält auch Ignatz NACHER nichts mehr in Berlin.

Ignatz NACHER versucht, ein Einreisevisum für die Schweiz zu bekommen. Auch wenn die Schweizer - wie alle anderen Länder auch - keine Juden wollen. Da NACHER dort noch einige Geschäftsfreunde aus 'alten Zeiten' kennt, die sich nicht verleugnen lassen, stehen die Zeichen ganz gut.

Bis dahin achtet NACHER peinlichst genau darauf, keine Behörde und keinen einzigen Beamten in irgendweiner Weise zu verärgern und niemandem auch nur den geringsten Anlass zu geben, seine vielen Sondergenehmigungen und Stempel, die er dazu braucht, zu verweigern. Seine letzten Gelder reichen, dafür einen von den Behörden akzeptierten Steuer- und Devisenberater zu bezahlen.

Gedanklich sieht sich Ignatz NACHER mit seinen 71 Jahren bereits außer Landes. Das gilt aber nur für ihn und seine Frau.

Es gilt nicht für seine Schwester Emma BALAI, die in Berlin-Schöneberg wohnt. Und ebenfalls nicht für seinen Bruder Rudolf, der zusammen mit seinen beiden Kindern gerade vom Judentum zum Christentum konvertiert, um sich und seine Familie außer Gefahr zu bringen. Dessen Ehefrau war schon immer "christlich getauft", weshalb die beiden Kinder - nach Dr. Hans GLOBKE's Rassetheorie - als "Halbjuden" gelten.

Und es gilt auch nicht für seinen Bruder Siegmund NACHER und dessen Frau. Und auch nicht für deren Tochter Margarete MUNDERSTEIN und ihren Sohn Thomas. Die beiden versuchen einen anderen Plan zu realisieren.


Mai - Juni 1939

Pläne und Hoffnungen haben auch die 937 Passagiere des Schiffes "St. Louis", das am 13. Mai vom Hamburger Hafen ablegt. Es ist eine Sonderfahrt. Kurs: Kuba.

Es sind aussnahmslos Juden, die - geschockt nach dem Novemberprogrom - auf gut Glück die Ausreise aus Deutschland bzw. die Einreise in ein anderes Land versuchen.

Das Schiff erreicht am 27. Mai Havanna. Anlegen darf es nicht - die "St. Louis" muss in der Bucht ankern. Die kubanischen Behörden verweigern allen die Einreise, trotz ihrer Visa - Kuba hatte kurz zuvor die Visabestimmungen geändert.

Der Kapitän der "St. Louis", Gustav SCHRÖDER, versucht es mit Verhandlungen. Schließlich kann er erreichen, dass zumindest 29 Passagiere von Bord gehen dürfen. Danach muss die "St. Louis" den kubanischen Hafen verlassen. Kapitän SCHRÖDER versucht es in den USA, steuert Miami in Florida an. Und telegrafiert an den amtierenden US-Präsidenten Franklin D. ROOSEVELT persönlich.

Es nutzt nichts, die USA lässt die knapp 900 Passagiere, darunter viele Eltern mit ihren Kindern, nicht ins Land. SCHRÖDER versucht es in Kanada. Doch auch dort: keine Einreise.

Dem Schiff bleibt nichts anderes übrig, dorthin zurückzukehren, von wo es gekommen war.

Sozusagen in letzter Minute gelingt es dem Chef der HAPAG-Reederei, die Regierungen der Niederlande, Belgien, Großbritannien und Frankreich dazu zu bringen, die Flüchtlinge - mit Hinblick auf die bisherigen Tortouren und ausnahmsweise - aufzunehmen. Es ist der 17. Juni, mehr als vier Wochen seit dem Ablegen in Hamburg. Auf dem Schiff haben sich fürchterliche Szenen abgespielt: Auf der einen Seite Wut, auf der anderen totale Verzweiflung. Einige haben sich umgebracht.

Doch wenn der Krieg ausbrechen und Deutschland die kleinen Länder Holland und Belgien überfallen wird, um Frankreich in die Knie zu zwingen, wird das Verhängnis erneut zugreifen. Nur wenigen gelingt die Flucht oder können sonstwie überleben. Jene, die nach England durften und von dort nach Canada weiter wollten, werden am 2. Juli 1940 auf dem Schiff "Arandora Star" von einem deutschen U-Boot torpediert. Und ertrinken jämmerlich. Die meisten enden im Holocaust.


August 1939

Ignatz NACHER kann sein Glück kaum fassen: Er darf aus Deutschland raus. Und die Schweizer lassen ihn hinein: im August des Jahres 1939.

Vorher haben ihn die deutschen Finanzbehörden noch kräftig bluten lassen: "Reichsfluchtsteuer" (531.000 Mark), zwei Male "Judenabgaben" (680.000 Mark), "Auswanderungsabgabe" (319.000 Mark), "Dego-Abgabe" (265.000). Zusammen über 1,6 Millionen Mark. Alles zusätzlich zu den "Sühneleistungen", die Juden für die von deutschen Volksgenossen verursachten Schäden der Pogromnacht im November zahlen mussten.

Es ist sein letztes Geld, was er hatte. In die Schweiz darf er aber einige alte Möbelstücke mitnehmen, an denen er hängt, und etwas Hausrat. Mehr nicht.

Die Möbel werden in Zürich sofort in Verwahr genommen - als Sicherheit für die schweizerische Fremdenpolizei. NACHER ist jetzt völlig fertig: kräftemäßig, psychisch und finanziell.


danach

Ignatz NACHER kann sich nicht lange seines jetzt sehr eingeschränkten Lebens erfreuen. Er stirbt am 15. September - zwei Wochen, nachdem die Deutschen Polen überfallen und den größten Krieg der Welt begonnen haben.

Damit ist Deutschland endgültig dicht für alle, die noch raus wollen.

Franz MÜHLHAUSER in Jerusalem erhält Post von seiner Mutter. Es ist jetzt Oktober. Sie fordert ihn auf, sich keine Sorgen um seine Eltern zu machen: "Wir sind gesund, haben zu leben und ein Dach über dem Kopf, mehr braucht man nicht unbedingt und wir leben nun einmal in einer außergewöhnlichen Zeit; die fordert von jedem Opfer."


Das Jahr 1940

Am 5. Januar 1940 wird Thomas 10 Jahre, sein erster 'runder' Geburtstag. Wie er ihn begehen kann, wissen wir nicht.

Wir wissen aber, dass er zu einem Cousin sehr engen Kontakt hat und mit ihm regelmäßig spielt: Peter NACHER, Sohn von Rudolf NACHER, einem der vielen Brüder von Ignatz NACHER.

Rudolf NACHER war seinerzeit Vorstandschef von Ignatz NACHER's "Borussia AG für Brauereibeteiligungen" in der Kurfürstenstrasse 56. Mit der Auflösung dieser Aktiengesellschaft hatte Rudolf seinen Job verloren. Ignatz NACHER hatte ihn jedoch weiter beschäftigt: jetzt als Privatsekretär, so dass die Famile weiterhin ein Auskommen hatte.

Sein Sohn Peter ist drei Jahre jünger als Thomas. Und er wohnt mit seiner Familie nicht allzuweit weg vom Hohenzollerndamm 184: in der Hohenstauffenstrasse 51. Entweder kommt Peter zu Thomas oder umgekehrt.

Beide haben ein gemeinsames Hobby: elektrische Eisenbahn. Eine Märklin-Eisenbahn. Peter hat die Spurgröße "H 0", also die übliche Größe von Miniaturlokomotiven, Eisenbahnwagen und Schienen. Thomas hat Loks und Wagen in "Spur 1". Hier ist alles sehr viel größer und man benötigt zum Aufbauen sehr viel mehr Platz.

Beide stehen spielerisch in einer Art 'Wettbewerb' miteinander: Wer hat die schönste Eisenbahn? Wer die Größte? Und was meint "groß"? Die Anzahl der Gleise und Lokomotiven? Oder die Größe der Loks?

Sie lösen diese Fragen pragmatisch: In der Hohenstauffenstrasse spielen sie mit Peter's Eisenbahnanlage, am Hohenzollerndamm mit der von Thomas.


immer noch 1940

Für die jüdische Bevölkerung gibt es weitere Einschränkungen. Die Lebensmittelkarten werden mit einem "J" gekennzeichnet. Jetzt, wo Krieg ist, können die Ladenbesitzer wählen: Wem geben sie die frische Ware (sofern es solche gibt) und wem die alte?. Außerdem dürfen die Juden jetzt erst ab 15:30 einkaufen gehen.

Ende Juli kündigt die Post allen Juden die Telefonanschlüsse. Das betrifft auch Thomas und Peter. Sie können sich nicht mehr so einfach verabreden.

Im August stirbt der Großvater von Thomas: Siegmund NACHER.

Wenig später wird in Speyer die Familie MÜHLHAUSER von der Polizei abgeholt. Vater Albert, Mutter Maria und die Schwester von Franz, Klara, 21 Jahre alt, werden ins südfranzösische Lager "Gurs" deportiert. Das liegt zwar außerhalb jenes Gebietes, das die deutschen Soldaten von Frankreich besetzt halten, aber es gibt überall Kollaborateure, die sich den Mächtigen andienen und die 'Drecksarbeit' erledigen.

Die Familie MÜHLHAUSER wird am 12. August erneut deportiert: nach Auschwitz. Dort werden alle drei erst in der Gaskammer, dann im Verbrennungsofen enden.

Das können sie noch nicht wissen.


5. Januar 1941

Für Thomas beginnt das Jahr mit seinem elften Geburtstag. Es wird sein letzter sein. Thomas weiß das nicht.


nach dem Geburtstag

Alles wird schwieriger.

Sofern Juden nicht irgendwo arbeiten, werden sie jetzt zur Zwangsarbeit eingesetzt. Sie müssen einen gelben Stern mit einem "J" tragen - auf allen Kleidungsstücken. Jeder sieht, wer Jude ist.

Öffentliche Verkehrsmittel dürfen sie nur benutzen, wenn sie eine Erlaubnis haben. Z. B. weil sie zum 'Arbeitsplatz' einen weiten Weg haben.

Thomas' Mutter, Margarete MUNDERSTEIN, ist eigentlich gelernte Anwaltssekretärin. Und hatte auch einen solchen Job. Bis sie ihn bereits vor Jahren nicht mehr ausüben durfte.

Jetzt arbeitet sie als Näherin in einer Lederfabrik in Berlin-Kreuzberg, also weiter weg. Ihr Stundenlohn: 0,54 Reichsmark. Bei einer wöchentichen Arbeitszeit von 48 Stunden sind das im Monat 135 Mark. Die Miete am Hohenzollerndamm kostet 125 RM. Die finanziellen Verhältnisse sind inzwischen karg.


Die neue Schule

Thomas muss erneut die Schule wechseln. Die Gründerin der Goldschmidt-Schule am Hohenzollerndamm 110 a, Leonore Goldschmidt, konnte im Juli letzten Jahres nach Großbritannien emigrieren. Mithilfe eines kleinen Manövers.

Schon früh sah sie kommen, was kommen würde. Und versuchte, zusammen mit ihrem Ehemann, einem ehemaligen Rechtsanwalt und Notar, eine Filiale der Goldschmidt-Schule in England zu eröffnen - um auf diese Weise wenigstens einen Fuß auf der großen Insel zu haben. Ihre Bitten, den deutschen (jüdischen) Schülern, die Evakuierung in die englische Filiale der Schule zu finanzieren, wurden abschlägig beschieden - die britischen Behörden vermochten keine akute Gefahr für die deutschen Kinder erkennen. Erst die Ereignisse des 9. November brachten die Regierungsvertreter zum Umdenken. Fast alle Kinder durften mit einem der Kindertransporte ausreisen - zusammen mit Leonore GOLDSCHMIDT und ihrem Ehemann.

Thomas MUNDERSTEIN war nicht dabei. Er setzt seine Hoffnungen - wie seine Mutter - auf Uruguay.

Jetzt ist Thomas Schüler der Joseph-Lehmann-Schule, getragen von der Jüdischen Reformgemeinde. Sie ist bei der Synagoge in der Berliner Joachimsthaler Strasse 13 untergebracht, nur wenige Meter vom U-Bahnhof "Kurfürstendamm" entfernt. Die Verkehrsverbindung wird ihm nicht viel nutzen: Juden dürfen ab diesem Jahr keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen.


"Wo ein Wille ist, da ist ein Weg!"

Das schreibt Thomas Anfang November 1941 in das Poesi-Album von Ruth SCHWERSENZ, einer Mitschülerin an der Joseph-Lehmann-Schule:

Ruth gilt nach Dr. Hans GLOBKE's Rassegesetzen inzwischen als "Mischling 1. Grades". Sie ist so alt wie Thomas. Ihre Mutter, geboren als "Christin", dann aber wegen der Heirat zum jüdischen Glauben konvertiert, war im März 1941 aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten, und ließ ihre Tochter "christlich" taufen.

Dieses Manöver klappt. Ruth wird alles, was noch kommt, überleben.


Ein Wille. Aber kein Weg.

Die deutsche Kriegsmaschinerie läuft auf Hochtouren. Deutsche Soldaten rücken inzwischen in Russland vor und haben um Leningrad (heute: St. Peterburg) eine Blockade errichtet, die sie bis zum Rückzug im Jahr 1944 aufrecht erhalten. Etwa 1,1 Millionen Menschen in der Stadt werden verhungern.

Deutsche Soldaten fallen aber auch in andere Länder des Ostens ein, haben im Süden Europas den ganzen Balkan besetzt, lassen Griechenland ausbluten und massakrieren Menschen aus der Zivilbevölkerung, wenn sie von "Partisanen" angegriffen werden.

Konzerne wie Krupp, Flick und unendlich viele Zulieferer, die die Kriegsproduktion am Laufen halten, legen glänzende Geschäftszahlen vor: die (Kriegs)Wirtschaft brummt.

Auch jene Firmen sind bestens ausgelastet, die seit letztem Jahr ein Großprojekt errichten. Es liegt verkehrstechnisch zwischen Frankreich und Russland sowie von den Balkanländern aus gesehen ausgesprochen zentral: in Oberschlesien. Der "Reichsführer SS", Heinrich HIMMLER, hat das Vorhaben in Auftrag gegeben. Der Name des Ortes: Auschwitz.


Das alles verschlingt Unsummen an Geld und Ressourcen.

Und so wie die Millionen von Deutschen die Juden nicht mögen und die über 5 Millionen Parteigenossen ("PGs") erst recht nicht, so haben sie keinerlei Probleme, jenen, die sie loswerden wollen, egal wie, ihr letztes Hab und Gut zu nehmen. Der Staat braucht Geld für den Krieg. Und für die Vernichtung von Menschen.

Deshalb werden jetzt auch die letzten Habseligeiten "zugunsten des Deutschen Reiches" eingezogen. Vermögenswerte, Radioapparate und vieles anderes hatte man schon längst kassiert.

Die entsprechenden "Verfügungen" für die Bewohner des Hohenzollerndamms 184, Vorderhaus, 3 Treppen rechts, Elisabeth NACHER, Margarete MUNDERSTEIN und Thomas tragen das Datum 1. November:

Beigefügt ist ein 8-seitiges Formular: eine "Vermögenserklärung". Darin muss feinsäuberlich alles aufgeführt werden, was man (noch) besitzt: angefangen bei den Möbeln, der Wäsche (also Pullover, Schuhe und Schlafanzug) und allem anderen, was die Behörden zu Geld machen können.

Auch Thomas muss eine solche "Vermögenserklärung" abgeben. Sie wird von seiner Mutter ausgefüllt.

Diese Vermögenserklärung von Thomas MUNDERSTEIN ist erhalten. Wir haben sie hier vollständig als PDF online gestellt - zum Nachlesen. Und um einen Eindruck zu bekommen, in welchen materiellen Verhältnissen der 11jährige Thomas im November gelebt hat. Zu der Zeit, als er seiner Klassenkameradin ins Poesie-Album geschrieben hatte: "Wo ein Wille ist, da ist ein Weg!"

In dem Dokument findet sich unter "Verschiedenes" auch "1 Foto-Apparat". Seine "Märklin-Eisenbahn" ist nicht aufgeführt.

Peter NACHER, sein Spielkamerad, wird rund 70 Jahre später sagen, dass Thomas seine Eisenbahn in einem Koffer verpackt hatte. Weil er wusste, dass er "auf Reisen" gehen würde. Wohin, wusste er mit Sicherheit nicht.

Mit Sicherheit wusste er zu diesem Zeitpunkt nur, dass es nicht Uruguay sein würde.

Hier ist seine "Vermögenserklärung". Anklicken öffnet alle 8 Seiten:


25. November 1941 - ein Dienstag

Die Großmutter, die Mutter und Thomas müssen sich an diesem Tag in der Synagoge in der Levetzowstrasse 7 in Berlin-Moabit einfinden. Von dort soll die "Reise" losgehen.

Von diesem Tag datiert auch ein Foto von Thomas. Es ist eine Art Portrait- bzw. Passfoto. Thomas wirkt auf diesem Bild völlig anders als auf dem Foto, das er von eineinhalb Jahren seinem "Freund" Franz MÜHLHAUSER in einem Brief beigelegt hatte (siehe Eintrag vom April 1939).

Damals schien er fröhlich und unbeschwert. Auf diesem Bild schaut er ernst und nachdenklich aus.

Warum, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, was er an diesem Tag schon wusste, wie und wohin es weitergehen würde. Es ist die Ungewissheit, die aus seinem Gesicht spricht.

Und wir wissen nicht, zu welchem Zweck genau dieses Foto gemacht worden ist.

Jedenfalls erscheint an diesem Tag in der Levetzowstrasse 7 auch der "Ober-Gerichtsvollzieher" Ernst KASISCHKE aus Neukölln und übergibt allen dreien je eine "Zustellungsurkunde", aus der jetzt hervorgeht, dass alles, was sie in die "Vermögenserklärung" eingetragen haben, jetzt dem Staat gehört.

Korrekt, wie es sich für einen "Ober-Gerichtsvollzieher" gehört, quittiert er alles mit Stempel (25.11.1941) und Unterschrift:

Wie der elfjährige Thomas das aufgenommen hat, wissen wir nicht. Und auch nicht, was er glaubt, wozu.

Wir wissen auch nicht, ob man ihm, seiner Mutter und der Großmutter und den vielen anderen, die dort jetzt sozusagen campieren müssen, gesagt hat, wann es weitergeht. Und irgendwann auch, wohin.

Möglicherweise hat Thomas nochmals 'Besuch' von seinem Spielkameraden Peter NACHER bekommen; Thomas könnte ihm dieses Foto mitgegeben haben - als Andenken sozusagen, so wie er ein Bild seinem "Freund" Franz MÜHLHAUSER geschickt hatte. Denn das Passfoto ist durch seinen Cousin Peter überliefert. Es wäre sonst untergegangen.

Thomas Freund und "Spielkamerad" Peter NACHER ist nach der Rassepraxis des Dr. Hans GLOBKE, dem späteren Staatssekretär und Kanzleramtschef von Konrad ADENAUER der "Bundesrepublik Deutschland", (nur) "Mischling 1. Grades". Das schützt ihn - derzeit jedenfalls - vor Verfolgung.


27. November 1941 - Donnerstag

Nach zwei Nächten in der Levetzowstrasse 7 geht die "Reise" los. Offiziell heißt es inzwischen "Umsiedlung in den Osten".

1.053 Menschen, darunter Thomas und seine Mutter, werden in LKW's zum Bahnhof Grunewald verfrachtet. Nicht zum regulären Bahnhof, wo die Züge halten und die S-Bahnen fahren, sondern zum Güterbahnhof Grunewald. Dort zum Gleis 17.

Heute existiert dort ein Mahnmal - parallel verlegt zu den Schienen des Gleis 17, von wo aus die Viehwaggons bestückt wurden: mit Menschen. Über 50.000 Juden aus Berlin wird es betreffen.

Am 27. November morgens trifft es Thomas und seine Mutter. Sie sind zwei der 1.053 Personen, die an diesem Tag auf die Reise zwecks "Umsiedlung in den Osten" gehen.

Es ist bereits der 7. Transport dieser Art. Der erste hatte im Oktober stattgefunden.


Drei Tage und Nächte im November: Donnerstag morgen bis Sonntag früh

Wir wissen nicht, was alles bei diesem Transport geschehen ist, welche Route er genommen hat, wie oft er angehalten hat, um die Menschen mit Wasser zu versorgen. Oder die Eimer mit der täglichen Notdurft zu entleeren. Wir wissen auch nicht, wieviele von diesen 1.053 Personen diese Fahrt überhaupt überlebt haben, und ob und wie sich gegebenenfalls Panik unter den noch lebenden und eingepferchten Menschen verbreitet hat.


Wir wissen aber, wie solche Transporte im Allgemeinen abgelaufen sind - Zeugnisse von einigen wenigen, die erst eine solche Fahrt und dann das Konzentrationslager überlebt haben. Es sind nicht viele.


Der Zug, der aus ca. 20 Viehwaggons besteht, in dem jetzt über 1.000 Menschen eingesperrt sind, ist 3 Tage und 3 Nächte unterwegs. Draußen wie drinnen herrscht klirrende Kälte, denn der Winter hat früh Einzug gehalten. Es ist jener Winter, in dem die deutschen Truppen vor Moskau stehen und nicht weiter voran kommen - zuviel Schnee, zu kalt, es geht nichts mehr.

Große Fenster hat ein solcher Waggon nicht, nur Luftschlitze oben. Auf der einen Seite ist das von geringem Vorteil, weil die Kälte nicht mit ganzer Wucht die Menschen trifft. Andererseits wird es schnell stickig, weil 50 Personen pro Waggon verbrauchen Luft, insbesondere wenn sie in Panik sind.

Nicht alle können sitzen; dazu ist es zu eng. Manchen kollabiert der Kreislauf, andere sind schon jetzt krank, einige sterben während der Fahrt.

Der Gestank ist unerträglich: menschlicher Angstschweiß, stinkender Kot und Urin, der ständig überschwappt, weil ein Eimer schnell voll ist. Viele schämen sich, wenn sie müssen. Männer haben es einfacher als Frauen.

Essen gibt es kaum, Wasser zum Trinken nur, wenn der Transportzug anhält. Das muss er öfters, weil Züge, die Soldaten und Munition oder neue Panzer transportieren, immer Vorfahrt haben. Deswegen benötigt dieser 7. Transportzug auch 3 Tage und Nächte, um die über 1.200 Eisenbahnkilometer zu überwinden.  


30.November 1941 - ein Sonntag: 1. Advent

Der Zug kommt morgens in der Frühe zum stehen - einige Kilometer vor dem Bahnhof der lettischen Hauptstadt Riga. Er hält an einem Wald, der zum Rigaer Stadtteil Rumbula gehört. Riga und das gesamte Lettland zählt zum Einzugsbereich "Ostland".

Der zuständige SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei im Ostland, Fritz Walter STAHLECKER, ist in seinen Funktionen zugleich Befehlshaber der Sicherheitspolizei als auch der "Einsatzgruppe A". Er ist verantwortlich dafür, rechtzeitig mehrere KZ's zu organisieren,sprich leerstehende Kasernen und andere Gelände entsprechend umbauen zu lassen. Doch STAHLECKER ist in Verzug. Aber er meldet trotzdem "Vollzug" nach Berlin, weshalb die Planer in den Behörden und der deutschen Eisenbahn die Züge abfahren lassen.

Die ersten Deportationszüge, die eigentlich für Riga vorgesehen sind, kommen zu früh, müssen in das litauische Kowno umgeleitet werden. Dort gibt es bereits ein Ghetto, aber das ist überfüllt. Ein KZ gibt es noch nicht. Also kein Platz für die aus Berlin, Frankfurt/M und München eintreffenden Züge am 25. November. Deshalb werden alle, die mit Waffengewalt aus den Waggons getrieben wurden, von Soldaten des "Einsatzkommando 3" auf der Stelle exekutiert. Am 29. November das gleiche Vorgehen mit Juden aus Wien und Breslau.

Der Transportzug, der am Sonntag früh, dem 30. November in Richtung Riga fährt, wird nicht umgeleitet. Er wird am Kiefernwäldchen von Rumbula angehalten.


Was sich danach abspielt, wissen wir von einer einzigen Überlebenden, die eines dieser Massaker überlebt und später ein Buch veröffentlicht hat: Frida MICHELSON: "Ich überlebte Rumbula"

Die Menschen, die aus den Waggons getrieben werden, müssen sich nackt ausziehen. Hemden, Hosen, Röcke und Unterwäsche kommen auf einen großen Haufen. Dann müssen sie sich an den Rand einer großen Grube stellen, die ihre 'Vorgänger' ausgehoben haben.

Jetzt greifen die Männer des "Einsatzkommando 2" zu ihren Pistolen. Sie machen es mit einem Kopf- oder Genickschuß.


Weil dieser Zug, der erste ist, der Riga erreicht, Frida MICHELSON aber erst am 8. Dezember an der Reihe war, wissen wir nicht genau, was mit Thomas, seiner Mutter und seiner Großmutter am 30. November geschah: Ob alle jüngeren erst die Grube ausheben mussten und dann erschossen wurden, zusammen mit allen anderen? Oder ob die Männer des Einsatzkommandos das Loch selbst gegraben haben und sich dann mit dem Erschießen einen Spaß gemacht haben: Wer schafft die meisten?

Überliefert ist aus den behördlichen Unterlagen, dass an diesem Tag, der als "Rigaer Blutsonntag" in die Annalen eingehen, ca. 730 Menschen erschossen wurden. So genau haben die SS-Männer der Sicherheitspolizei für ihren täglichen Tagesbericht nicht gezählt. Abgefahren in Berlin waren 1.035 Menschen. Über 250 haben offenbar während der Fahrt aufgehört zu leben. Darunter möglicherweise auch seine 63jährige Großmutter Elisabeth NACHER.

Die Deutschen zuhause, die sich auf den christlichen Glauben berufen, begehen an diesem "Rigaer Blutsonntag" den 1. Advent.


Deutsche Bürokratie

Nachdem der direkte Familienzweig von Ignatz NACHER's Bruder ausradiert ist, mahlen in Berlin die Mühlen der Deportations-Bürokratie:

Als erstes meldet sich die Hausverwaltung vom Hohenzollerndamm 184 bei der Gestapo, Eingansstempel dort: 3. Dezember 1941: "Ich erlaube mir ergebenst anzufragen, wann die Wohnung voraussichtlich wieder belegt wird und wie es sich mit der Dezembermiete, welche gestern fällig war, verhält. ... Heil Hitler!"

Weil offenbar nur eine abschlägige Antwort, schreibt der Rechtsanwalt der Hausverwaltung bzw. der Eigentümerin an das "Finanzamt Moabit-West, Abt. für jüdische Liegenschaften": "Frau NACHER ist durch die GESTAPO aus der Wohnung entfernt worden. Die Möbel befinden sich noch in der Wohnung. Namens der Hauseigentümerin melde ich hiermit die gegen Frau Nácher bestehenden Mietansprüche ab 1. Dezember 1941 in Höhe von RM 124.- an."

Dort reicht man den Vorgang offenbar weiter an den "Oberfinanzpräsident - OFP" (heute: Oberfinanzdirektion OFD), Abteilung "Vermögensverwertung, Außenstelle". Die wiederum wendet sich an den "Obersteuerinspektor Maier" bei der "Liegenschaftsgruppe beim Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg": Die fragliche Wohnung "soll mit einem neuen jüdischen Hauptmieter besetzt werden." Man bitte "zu prüfen, ob und inwieweit eine Erneuerung der Wohnung aus dem jüdischen Vermögen in Frage kommt."

Gleichzeitig erhält der "Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Wilmerdorf" Post vom Oberfinanzpräsidium; Betreff: "Abschiebung Elisbeth Sara Nacher":

"Ich bitte, das Erforderliche zu veranlassen, damit weitere Mietzahlungen durch das Reich oder durch die Stadt Berlin vermieden werden können."

Nun meldet sich die Berliner Kraft- und Licht (Bewag)-Aktiengesellschaft: Die letzte Stromrechnung ist noch offen: "RM 8,86.-".

Die "Vermögensverwertungsstelle" beim OFP erledigt auch dies; Ordnung muss sein.

Auf Bitten des OFP meldet sich erneut die Gestapo: Das restliche Vermögen ist "am 27.11.1941 dem Reich verfallen." Daraufhin das Oberfinanzpräsidium, Abt. Vermögensverwertung: "Die Jüdinnen Nacher und Munderstein sind zusammen zu 3/20 am Nachlass Ignatz Israel Nacher beteiligt." Deshalb solle die "Haupttreuhandstelle Ost" (HTO) die "Einziehung der Nachlassanteile der Jüdinnen" veranlassen.

Die Abwicklung all dieser Vorgänge zieht sich über ein Jahr bis zum Mai 1943 hin. Die Mühlen der Bürokratie mahlen bekanntlich langsam. Auch wenn es um die Verwaltung ermordeter Juden geht.


danach

Der Krieg verschlingt immer mehr Geld und immer mehr Ressourcen werden aus den besetzten Gebieten nach Deutschland transferiert bzw. herangekarrt. Umgekehrt werden immer mehr Juden, inzwischen auch in den okkupierten Ländern in die KZ's transportiert, von denen die meisten im Osten liegen. Auf der der sog. Wannsee-Konferenz im Januar 1942 wurde die totale Vernichtung beschlossen, für deren Logistik Adolf EICHMANN zuständig wurde. Seitdem nehmen die Transportzüge eine neue Route auf: nach Auschwitz.

Kurz zuvor waren die USA in den Krieg eingestiegen, nachdem die Japaner 7 Tage nach dem "Rigaer Blutsonntag" Pearl Harbor bombardiert hatten.

Anfang 1943 findet die Schlacht um Stalingrad statt. Zu einer Zeit, als Ernst KALTENBRUNNER aus Wien Nachfolger von Heinrich HIMMLER wird: Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Chef der Gestaop, des Reichskriminalamtes und des Sicherheitsdienstes (SD) sowie Präsdient der Interpol (die es auch damals schon gab). Er bläst zur Jagd auf die letzten in Deutschland verbliebenen Juden.

In der sogenannten Fabrikaktion am 27. Februar 1943 starten Polizei und Gestapo eine berlinweite Razzia und holen mitten am Tag auch aus den Rüstungsfabriken alle Juden und Halbjuden heraus, die zur Zwangsarbeit verpflichtet worden waren. In Berlin betrifft das rd. 11.000 Personen. Ziel: Auschwitz. An ihre Stelle sollen künftig Zwangsarbeiter aus den okkupierten Ländern arbeiten.

Ignatz NACHER's Bruder Rudolf hatte so etwas kommen sehen. Und hat sich in der Zwischenzeit "christlich" taufen lassen. Ebenso seine beiden Kinder, darunter Thomas' "Spielkamerad" Peter. Eigentlich gelten sie als "Halbjuden".

Da die Behörden diesen Religionswechsel nicht anerkannt haben, entwickelt Rudolf NACHER einen Plan: Er versteckt sie. Nicht in Berlin, sondern im Oderbruch, einer landwirtschaftlich geprägten Region östlich von Berlin, die sich bis zur Oder erstreckt. Dort in der einsamen Feldlandschaft um Zäckerick herum mit wenigen vereinzelten Höfen können Peter, inzwischen 10 Jahre alt und seine ein Jahr jüngere Schwester untertauchen. Sie werden alles, was noch kommt, überleben (können).

Während in Holland Camilla SPIRA und ihr Ehemann ins Lager "Westerbork" verfrachtet werden (mehr unter Die Pogromnacht, Ignatz NACHER, seine Familie und die der Schauspielerin Camilla SPIRA), von wo aus die Züge nach Auschwitz fahren, dreht der Schauspieler Heinz RÜHMANN in aller Gelassenheit in den Filmstudios Potsdam-Babelsberg eine neue Filmkomödie: "Die Feuerzangenbowle".


Vom "totalen Krieg" bis zum totalen Untergang

Der "totale Krieg", den Joseph GOEBBELS am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast beschworen hatte und ihm tosender Beifall aller Anwesenden sicher war, wird immer totaler für die Juden in ganz Europa und alle anderen Menschen in den okkupierten Ländern. Die deutschen Soldaten befinden sich längst auf dem Rückzug, hinterlassen "verbrannte Erde" im Osten.

An der Westküste von Frankreich, der Normandie, landen am 6. Juni 1944 die Alliierten mit ihren Schiffen ("D-Day"), es gibt ein fürchterliches Blutbad. Der Krieg für die Deutschen ist längst verloren, die oberen Militärs wollen es nicht zugeben und halten dem "Größten Führer aller Zeiten" die Treue.

Nur eine kleine Handvoll von ranghöheren Offizieren, die bisher alles mitgemacht haben, den Überfall auf Polen, die Besetzung fremder Länder und die industriell organisierte Vernichtung von Menschen in den KZ's, vermögen sich aufzuraffen - sie sehen die Aussichtlosigkeit weiterer Kampfhandlungen und wollen einen Waffenstillstand, um über das weitere Vorgehen verhandeln zu können. Sie planen für den 20. Juli 1944 ein Attentat auf Adolf HITLER.

Das misslingt und so geht der größte und schlimmste Krieg aller Zeiten seinem "totalen" Ende entgegen.


1945

Nur wenige Deutsche empfangen die alliierten Truppen, die von allen Seiten einrücken, als Befreier. Nur jene, die mit viel Glück untertauchen und sich mit Hilfe einiger weniger couragierter Menschen verstecken konnten, atmen auf. In Berlin betrifft das etwa 1.700 Menschen jüdischen Glaubens.

Alle anderen "christlichen" Deutschen schauen fassungslos auf das Desaster und wollen nicht begreifen, dass sie es selbst mit angerichtet haben. Indem sie allem nicht rechtzeitig Einhalt geboten hatten.


Stunde Null

In ganz Deutschland sind es etwa 5.000 Juden, die nach 1939 untergetaucht sind und überleben.

Bei der ehemaligen Kaliski-Schule, der "PriWaKi" sind es 90% aller Schüler, die sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten und sich verstreut über dem Erdball eine neue Existenz aufbauen. Aber die PriWaKi war eine 'privilegierte' Schule, die sich nicht jeder leisten konnte.

Auch aus der Großfamilie von Ignatz NACHER sind viele am Leben geblieben, zumeist die Neffen und Nichten, denen die Ausreise bzw. die Einreise in ein anderes Land gelungen war:

Die obige Grafik zeigt den Stammbaum von Ignatz NACHER's Großfamilie nach seinem Tod und nachdem alles vorbei war. Jene, die rechtzeitig emigrieren oder sich sonst retten konnten, sind mit der Farbe der Hoffnung "grün" markiert.

Thomas MUNDERSTEIN, der fünf Wochen später 12 Jahre alt geworden wäre, und seiner Familie ist es nicht gelungen.


(JL)


"Alfredo" MUNDERSTEIN:

NACHTRAG

In Montevideo angekommen tut sich Alfred MUNDERSTEIN, der jetzt "Alfredo" heißt, ziemlich schwer. Seine Idee, vom Hausiererhandel zu leben, funktioniert nicht wirklich, er kann sich kaum ernähren und um irgendwo Land zu kaufen oder zu pachten, um sich als Farmer selbstständig zu machen und seine Familie nachzuholen, wie er seinem Sohn Thomas schreibt, reicht das Geld hinten und vorne nicht. Alfredo verlässt Uruguay und geht 1940 nach Buenos Aires, erhält dort einen argentinischen Pass, verdingt sich als Handelsvertreter in der Textilbranche.

Aber auch das funktioniert mehr schlecht als recht. Als er von der Deportation und der Ermordung seiner Familie erfährt, überfallen ihn Depressionen. Alfredo wird krank, er plagt sich mit Herzschmerzen und Bluthochdruck, kann nachts nicht schlafen, träumt von Verfolgung. Irgendwann zieht er sich aufs Land zurück, kehrt zurück in die Stadt, versucht einen Neuanfang, verdingt sich als Wärter und Pfleger in diversen Hospitälern vor allem nachts, weil er - jetzt mental bedrückt - den freundlichen Umgangston mit den Kunden nicht mehr finden konnte. Vorübergehend muss er in einer Nervenheilanstalt behandelt werden.

1955 ist Alfredo so krank, dass ihn der argentinische Amtsarzt vollends arbeitsunfähig schreibt, Alfredo ist jetzt im Alter von 59 Jahren Invalide, lebt von der Unterstützung des dort ansässigen jüdischen Hilfsvereins und Bekannten.

1955 stellt Alfredo MUNDERSTEIN einen Antrag auf Entschädigung bei den Berliner Behörden; sie wollen dies und jenes wissen, bestehen auf dieser und jener Unterlage - das übliche Hickhack. Ärgerlich schreibt er an seinen Berliner Anwalt:

„Es befremdet mich sehr, dass bei einer so klaren Sachlage derartige Rückfragen kommen. Bei der Ermordung ging das damals auch ohne Rückfragen! Ich will durch dauernde Erinnerung an damals nicht wieder krank werden und in eine Anstalt kommen.“

1965 stirbt Alfredo im Alter von 69 Jahren.


18. November 2022: "Stolpersteine"

nochmals ein NACHTRAG

Schüler des Barnim-Gymnasiums Berlin hatten in ihrem Geschichtsunterricht auch über diese Geschichte gesprochen - angeregt von der Cousine des Sohnes von Franz MÜHLHAUSER, dem ehemaligen Lehrer von Thomas, Beate MARTIN. Sie lebt in der Nähe von Berlin. Sie - bzw. ihr Cousin in Israel - hat uns auch die Briefe von Thomas an seinen Lehrer zur Verfügung gestellt.

Den Schülern der Barnim-Schule ist das Schicksal von Thomas und seiner Familie so nahe gegangen, dass sie eine Verlegung von 4 Stolpersteinen organisiert und Geld dafür mobilisiert haben. Einer der Stolpersteine gilt dem Vater Alfredo.

Die Verlegung fand am 18. November am Hohenzollerndamm 184 statt, da wo Thomas und seine Familie zuletzt gewohnt hatten:

Die Wege der Recherchen

Dieser Text stellt das 4. Kapitel einer Geschichte dar, die von einer "Arisierung" handelt unmittelbar nach der Machtergreifung: die Enteignung des Ignatz NACHER und seiner Engelhardt-Brauerei. In einem anderen Kapitel ist beschrieben, wie dieser zweitgrößte Bierkonzern entstanden war und wie und weshalb Ignatz NACHER dabei die Pfandflasche erfunden hatte. Das dritte Kapitel beschreibt, was nach NACHER's Enteignung geschah und wie seine Familie die Pogromnacht im November 1938 überstand. Sein Sohn und dessen Ehefrau, die Schauspielerin Camilla SPIRA und die beiden Kinder konnten mittels eines Tricks überleben.

All diese Personen standen auch im Mittelpunkt einer Veröffentlichung im Jahre 1989, einem Buch über die "Entjudung" der deutschen Wirtschaft: "Boykott - Enteignung - Mord" des Verfassers. Nach drei Auflagen ist dieses Buch vergriffen.

Da das Internet andere Möglichkeiten bietet, eine solche Rekonstruktion darzustellen und auch keine Platzbegrenzung auf 400 Seiten kennt, bot es sich an, statt einer vierten Auflage das alles online zu erzählen.

Insbesondere lag dem Verfasser am Herzen, auch die weniger bekannten Personen aus NACHER's Großfamilie aus der Vergessenheit hervorzuholen, namentlich das Schicksal des zuletzt elfjährigen Thomas MUNDERSTEIN.

Ursprünglich gab es nur Informationen und Belege zum bürokratischen Ablauf seiner Vernichtung. Im Zusammenhang mit den neu aufgenommenen historischen Recherchen fanden sich Informationen seines ehemaligen Spielkameraden über ihn, der sich in den kritischen Jahren 1942 bis 1945 verstecken konnte: Peter NACHER, einer der Neffen von Ignatz NACHER. Er hatte ein Foto von Thomas, aufgenommen kurz vor seiner Deportation. Diese Informationen sind inzwischen in der Bibliothek der Gesellschaft für die Geschichte des Brauwesens in Berlin gesammelt.

Nachdem im dritten Kapitel der Vorgänge nach 1933/1934 ein kleiner Hinweis auf Thomas MUNDERSTEIN erschien, meldete sich die Cousine des Sohnes des ehemaligen Lehrers von Thomas: Sie war im Besitz von 5 Briefen, die Thomas an seinen Lehrer geschrieben hatte. Der Lehrer, Franz MÜHLHAUSER, der rechtzeitig nach Palestina emigrieren konnte und dort den Namen Ephraim MILLO annahm, hatte sie in einem alten Koffer gesammelt.

Als nach seinem Tod dessen Sohn, Yoram MILLO, diese fand und sie wegen der Sprache und der teilweise alten Sütterlin-Schrift nicht lesen konnte, wandte er sich an seine Cousine in der Nähe von Berlin, wie oben bereits erwähnt. So kamen beide in Kontakt und so gelangten diese Briefe auch zu dieser Geschichte. Yoram MILLO, von Beruf Kameramann und Filmemacher in Jerusalem, hat sie ansTageslicht.de mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt: zum Gedenken an seinen Vater, seine Großmutter Marie und seiner Tante Klara MÜHLHAUSER, die alle in Auschwitz ermordet wurden.

Damit ließen sich nicht nur die Geschehnisse rekonstruieren, sondern auch ein kleines Portrait von Thomas MUNDERSTEIN und seinem kurzen Leben.


Die Quellen

Die Dokumente zur Bürokratie der Deportation konnten im Zusammenhang mit den Unterlagen über die Arisierung der Engelhardt-Brauerei gesammelt werden und stammen aus sehr unterschiedlichen Quellen und Archiven bis hin zum National Archive in Washington. Viele einzelne Puzzleteile ergaben sich aus Recherchen in Grundbuchämtern, aus Entschädigungsakten, alten Adressbüchern und anderen Nachschlagewerken, aber auch digitalen Onlinequellen wie z.B. www.hebrewsurnames.com.

Im Jüdischen Museum Berlin sind Materialien von und über die Kaliski-Schule ("PriWaKi") vorhanden, darunter einiges auch über Thomas MUNDERSTEIN und seinen ehemaligen Lehrer Franz MÜHLHAUSER.

Das Zeugnis von Peter NACHER und die Überlieferung der Briefe von Yoram MILLO bringen die Informationen über Thomas MUNDERSTEIN, die sich aus den Akten ergeben, wieder zum Leben.

Dieses Kapitel über ihn lässt sich online direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Thomas. Die gesamte Geschichte der Großfamilie um Ignatz NACHER und seiner Engelhardt-Brauerei, die nach und nach online geht, unter www.ansTageslicht.de/Nacher. Wie Thomas' Spielkamerade Peter NACHER unter falschem Namen den Nazi-Schergen entkommen konnte, finden Sie unter www.ansTageslicht.de/Peter.

(JL)