System TRIEBIG: Arbeitsministerium und Justiz als Rückgrat

Dieses 'Kapitel' setzt sich - wie einige andere - mit dem Problem der Gutachter aus der Branche der Arbeitsmedizin auseinander und dokumentiert - wie die anderen - einen konkreten Fall sowie die strukturellen Hintergründe. Sie legen die grundsätzlichen Probleme des Systems der Gesetzlichen Unfallversicherung offen. Eines davon: Gutachter und die Sozialgerichte. Hier im Fokus: das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).

Dr. med. Gerhard TRIEBIG in Erlangen: eine der ersten Fälschungen

Die erste - uns bekannte - Manipulation, besser: Fälschung datiert aus dem Jahr 1983, Dr. med. Gerhard TRIEBIG ist da 34 Jahre alt und Assistent an der Universität Erlangen bei Prof. VALENTIN, dem Begründer und Doyen der deutschen Arbeitsmedizin in der neu entstandenen Bundesrepublik. TRIEBIG: ein Schüler der sog. Erlanger VALENTIN-Schule.

Die Fälschung herausgefunden hatte RA Hans-Joachim DOHMEIER, der einen gesundheitlich Geschädigten anwaltlich vertreten hatte: einen ehemaligen Beschäftigten der Fa. "Boehringer Ingelheim" in Hamburg, einem Unternehmen, in dem es ein größeres Dioxin-Problem gegeben hatte. Dioxine zählen zu den gefährlichsten Giftstoffen. Noch heute muss die Firma Beratungs- und Krankheitskosten für Betroffene zahlen. Mehr dazu unter www.ansTageslicht.de/Dioxin

Der aufstrebende Assistent der Erlanger Schule wurde von der Berufsgenossenschaft Chemische Industrie (heute: BG RCI - Rohstoffe und Chemische Industrie) mit einer "zusammenfassenden wissenschaftlichen gutachterlichen Stellungnahme" über den Gesundheits- bzw. Krankheitszustand mehrerer Beschäftigten beauftragt. Genauer gesagt: sein Chef hatte den Gutachtenauftrag bekommen, Prof. VALENTIN, aber der ist selbst mit Gutachtenschreiben so beschäftigt, dass er diesen Job an seinen Assistenten weiter reicht. Die Erlanger Schule erhält deswegen so viele Aufträge, weil sie mehr oder weniger flächendeckend im Interesse der Berufsgenossenschaften, sprich der Unternehmen, be"gut"achtet.

Anwalt DOHMEIER kommt TRIEBIG schnell auf die Schliche. Er muss dazu nur das lesen, was TRIEBIG schreibt und mit dem vergleichen, was wirklich in den von TRIEBIG zitierten Literaturstellen steht. Zwei Beispiele aus dem erwähnten Gutachten für die Chemische Industrie.

Beispiel 1:

TRIEBIG konstatiert in einem seiner Gutachten:

"Goldmann (1972) sowie Thiess und Goldmann (1976) berichten über das Auftreten von Chlorakne bei 42 Arbeitern aus der Trichlorphenolproduktione. In fünf der 42 Erkrankungsfälle war neben der Chlorakne auch eine Schädigung des Nervensystems zu berücksichtigen, wobei allerdings in nur drei Fällen eine ‚toxische Polyneuritis‘ vorlag. Wesentlich ist bei diesen Kasuistiken, daß die neurologische Symptomatik in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen stand.“

Im Original steht anderes:

Fast regelmäßig war eine allgemeine Müdigkeit und neuromuskuläre Schwäche vorhanden. In sieben Fällen war eindeutig das ZNS befallen, davon dreimal mit einer toxischen Polyneuritis und je zwei mal mit einer peripheren toxischen Schädigung der Hör-, Riech- und Geschmacksorgane bis zu einer toxischen disseminierten Enzephalomyelitis mit einem Halbseitensyndrom.“

Vergleich: TRIEBIG reduziert Zahlen (aus 7 wird 5), lässt andere weg, verharmlost die Schädigungen, dichtet einen "zeitlichen Zusammenhang" hinzu.

Beispiel 2:

Bei TRIEBIG steht:

„Oliver (1975) untersuchte drei junge Wissenschaftler, die nach mehrwöchigem Umgang mit TCDD [betrifft Dioxin, Anm. d. Red.] im Labor erkrankten. Neben einer Chlorakne klagten die Patienten über verstärkte Müdigkeit, Kopfschmerzen, Flatulenz und Appetitlosigkeit. Bei keinem bestand der Verdacht auf eine Polyneuropathie. Kontrolluntersuchungen nach zwei bis drei Jahren ergaben, bis auf Restzustände einer Chlorakne, keine wesentlichen Befunde.

Im Originaltext heißt es:

„Die toxischen Effekte bei drei jungen Wissenschaftlern, die vorübergehend in geringstem Umfange gegenüber 2,3,7,8-Tetrachlordibeno-1,4-Dioxin (Dioxin) exponiert waren, werden beschrieben. Zwei von ihnen litten unter typischer Chlorakne. Bei zwei der Wissenschaftler traten verzögerte Symptome etwa zwei Jahre nach der ursprünglichen Exposition auf. Diese Symptome umfassten Persönlichkeitsveränderungen, andere neurologische Störungen und Hirsutismus.“

Vergleich:

Wissenschaftler OLIVER spricht davon, dass entsprechende Symptome bereits bei "vorübergehend in geringstem Umfang" gegenüber Dioxin aufgetreten sind, was für die Heftigkeit der Giftwirkung spricht, TRIEBIG macht daraus "nach mehrwöchigem Umgang" und schwächt die Aussage des Autors OLIVER ab, sprich: alles nur halb so gefährlich. Und: Schwere neurologische Schäden wie „Persönlichkeitsveränderungen“ werden bei TRIEBIG zu: „bis auf Restzustände einer Chlorakne, keine wesentlichen Befunde“.

Im bundesdeutschen System der Gesetzlichen Unfallversicherung scheinen solche Praktiken und die daraus dann ableitbaren gutachterlichen Stellungnahmen gute Voraussetzungen für eine nachhaltige Karriere zu sein. 

Dr. med. Gerhard TRIEBIG in Heidelberg: jetzt Professor

1990 ist es soweit. TRIEBIG hat nicht nur Gutachten für seinen Herrn und Meister geschrieben, der letztlich seinen prominenten Namen darunter setzt, sondern auch wissenschaftliche Aufsätze. Wir haben seine Bibliographie dokumentiert an anderer Stelle: www.ansTageslicht.de/BK1317.

Mit "BK 1317" ist die Listennummer gemeint, mit der die Krankheitsbilder beschrieben sind, die sich bei beruflicher Exposition gegenüber Lösemitteln (Toluol, Xylol, Benzol, Styrol, Ethanol, Trichlorethen u.a.m.) als berufliche verursachte Krankheit ("Berufskrankheit", abgekürzt BK) einstellen (können).

Das Thema Lösemittel und artverwandte chemische Verbindungen sind TRIEBIG's Lieblingsstoffe und weil er fleißig publiziert - mit jener Gründlichkeit, die er in seinen Gutachten anzuwenden pflegt - wird er schnell zu einem der Lieblingsgutachter der Berufsgenossenschaften. Und so wird er 1990 als Professor an die Universität Heidelberg berufen, zuständig für das Fach "Arbeitsmedizin".

In Heidelberg befindet sich der Hauptsitz der Berufsgenossenschaft Chemie.

Und so ist Prof. TRIEBIG ausgelastet: als

  • Hochschullehrer an der Uni Heidelberg (Lehre und Forschung)
  • Direktor des arbeitsmedizinischen Instituts ebendort
  • Gutachter und Mediziner an der BG-eigenen Unfallklinik in Ludwigshafen 
  • und Gutachtenschreiber für alle Berufsgenossenschaften, vorzugsweise für die BG Chemie.

Im Jahr 1991 verfasst Prof. TRIEBIG insgesamt 259 (in Worten: zweihundertundneunundfünzig) Gutachten.

26 Strafanzeigen: wegen Ausstellens "unrichtiger Gesundheitszeugnisse"

Inzwischen wird die IG Metall Heidelberg auf TRIEBIG’s Umtriebe aufmerksam. Eines ihrer Mitglieder, ein Metallarbeiter aus Hockenheim, war in der dortigen Thermal-Werke Wärme-Kälte-Klimatechnik GmbH jahrelang dem Lösemittel Trichlorethylen ("Tri") ausgesetzt. Jetzt gab es einen Unfall, als größere Mengen an "Tri" aus einem Behälter auslaufen. Drei Wochen später muss der Arbeiter wegen akuter Beschwerden ins Krankenhaus. Ärzte vermuten Verdacht auf toxische Leberschädigung durch "Tri", da „mit allen seinerzeit verfügbaren Mitteln eine infektiöse Genese des Leberparenchymschadens ausgeschlossen werden konnte".

Der Metaller ist wegen Leberschadens arbeitsunfähig, will die Folgen als Berufskrankheit anerkennen lassen. "Tri", d.h. Trichlorethylen ist krebserregend, zerstört die Nerven und greift die Leber an.

Die BG Edel- und Unedelmetall lässt ihn untersuchen bzw. seinen Fall begutachten. Gutachter: Prof. TRIEBIG. Der kommt (wie üblich) schnell zu einem Ergebnis, die gesundheitlichen Schädigungen stehen nicht im Zusammenhang mit dem Trichlorethylen am Arbeitsplatz. Seine Diagnose: eine nicht nachweisbare infektiöse Gelbsucht durch Viren.

"Nicht nachweisbar" hat den Vorteil, dass man nichts nachweisen muss. Vor allem dann, wenn man gar nichts nachweisen kann. Wohl auch aus diesem Grund führt TRIEBIG keine Virus-Diagnostik durch.

Als andere Ärzte dies wenig später nachholen, können sie keinerlei Anti-Körper finden, bedeutet: TRIEBIG's Diagnose ist total daneben, sprich falsch.

Folge: Die Berufsgenossenschaft erkennt keine "BK" an. Die Krankheitskosten gehen jetzt bis zum Tode des arbeitsunfähigen Kranken zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung. Wie meistens.

Die Gewerkschaft IG Metall stellt daraufhin Strafantrag gegen TRIEBIG: wegen "Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse" n. § 278 des Stragesetzbuches. 25 weitere Betroffene schließen sich dem an.

Bei der Staatsanwaltschaft liegen 1992 damit 26 Anzeigen wegen "unrichtiger" Gutachten auf dem Tisch.

Der Staatsanwaltschaft gefällt das ganz und gar nicht. Aber sie muss ermitteln, so fordert es das Legalitätsprinzip. Bei 26 mehr oder weniger gleichlautenden Anzeigen sowieso und so viele Anzeigen kann man beim besten Willen nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.

Sozialgericht Gelsenkirchen: "zahlreiche Falschaussagen"

Mit vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen hier, da und dort sowie der Organisation von Fachtagungen - vorrangig zu ein- und demselben Thema - kann man Einfluss auf die "herrschende Meinung" nehmen. Auf die stützen sich dann die knapp 70 Sozialgerichte hierzulande.

TRIEBIG macht das - neben seiner Gutachtenschreiberei. Bis zum Jahr 1993 zählen wir 13, bis Anfang 2014 insgesamt 21 Publikationen, in denen er sich seinem Lieblingsthema widmet.

Während sich die Heidelberger Staatsanwaltschaft mit den 26 Strafanzeigen auseinandersetzen muss, verfasst TRIEBIG 2 Stellungnahmen für die (heutige) Berufsgenossenschaft Holz und Metall. Er hält die Exposition eines Schlossers beim Reinigen von Rohrleitungssystemen der Petro-Chemie gegenüber Benzol, Toluol, Xylol, Trichlorethen und Tetrachlorethen und "ähnlichen Inhaltsstoffen" (natürlich) nicht für den entstandenen Nierenkrebs ursächlich.

Weil TRIEBIG die gutachterliche Beurteilung eines Kollegen anzweifelt, den das Gericht beauftragt hatte und der zu einer anderen Einschätzung kam, bestellt das Gelsenkirchener Sozialgericht ein zweites Sachverständigengutachten, dieses Mal bei einem Experten des Epidemiologischen Instituts des Deutschen Krebsforschungszentrums. Dort hat man üblicherweise anderes zu tun und arbeitet auch nicht für Berufsgenossenschaften, sondern (unabhängige) Forschung ist angesagt. Jedenfalls nimmt sich der Epidemiologe den Fall sehr gründlich vor und ebenso die medizinischen Ausführungen von Prof. TRIEBIG - so wie das auch der andere vom Gericht bestellte Gutachter getan hatte.

Die Gelsenkirchener Sozialrichter halten schlussendlich in ihrem Urteil dies zu den Ergebnissen der vom Gericht beauftragten Sachverständigen fest:

"Dabei sind sie unter Würdigung der einschlägigen Literaturstellen und Forschungsergebnisse zu einer anderen Beurteilung gelangt. Prof. Dr. Warendorf [Deutsches Krebsforschungzentrum, Anm. d. Red.] hat in seinem Gutachten zudem zahlreiche Falschaussagen in den Ausführungen von Prof. Dr. Triebig einzeln aufgezeigt."

Wir haben das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen dokumentiert: Az: S 10 U 82/91.

"Zahlreiche Falschaussagen", halten die Richter fest. Sie machen noch andere Gründe geltend, den TRIEBIG'schen Ausführungen keinen Glauben zu schenken:

"Außerdem besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, wenn Prof. Dr. Triebig sein Einkommen überwiegend durch Gutachtenaufträge erzielt, wenn ihm dafür von den Berufsgenossenschaften Räumlichkeiten in der Unfallklinik Ludwigshafen zur Verfügung gestellt werden. … Da zudem gegen Prof. Der. Triebig staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Verstoß gegen § 278 StGB im Gange suind, erscheint es dem Sozialgericht durchaus möglich, dass es sich bei den Stellungnahmen von Prof. Dr. Triebig um Gefälligkeitsgutachten für die Beklagte handelt."

"Kein Gutachter würde die Torheit begehen, bewußt solche Tatsachen zu manipulieren"

In diesem Satz wird die Staatsanwaltschaft Heidelberg nach 6 Jahren das Ergebnis ihrer Ermittlungen zusammenfassen. Sie hatte widerwillig zu ermitteln begonnen, denn (fast) alle schwören auf Professor TRIEBIG: die Berufsgenossenschaften, die ganz überwiegende Zahl der Sozialrichter, der neue Ministerpräsident von Baden-Württemberg Erwin TEUFEL (CDU), aber auch der Behördenapparat des Bundesarbeitsministeriums (damals noch in Bonn).

Staatsanwalt OBLÄNDER muss 2 Dinge klären, wenn er TRIEBIG nach § 278 ("Austellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse") belangen soll:

  1. Was heißt "unrichtig"?
  2. Kann man Vorsatz nachweisen ("wider besseres Wissen")?

Im normalen Sprachgebrauch würde man "falsch" sagen, aber das ist den Juristen offenbar zu hart - man spricht lieber von "unrichtig". Aber was fällt da alles darunter?

Wenn jemand in einem "wissenschaftlichen arbeitsmedizinischen Gutachten" das Gegenteil von dem behauptet, was er von Dritten zitiert, ist das falsch, im juristischen Jargon auch "unrichtig". Aber ist auch das bewusste Unterdrücken von Erkenntnissen, die nicht in die eigene Argumentation passen, ebenfalls "unrichtig"?

Staatsanwalt OBLÄNDER schaltet mehrere andere Professoren ein und lässt sie die von TRIEBIG erstellten Gutachten 'begutachten'. Die unabhängigen Experten, die sich nicht dem (lukrativen) Mainstream der Gesetzlichen Unfallversicherung verschrieben haben, haben keine gute Meinung dazu. Prof. Dr. med. Rainer FRENZEL-BEYME, Leiter der Abt. Epidemiologie der Umwelt und des Arbeitslebens an der Uni Bremen beispielsweise, spricht ganz offen von "beabsichtigten Fehlern" oder auch von "Irreführung". Und der Zweck liege ja auf der Hand. Wir haben mit seinem Einverständnis seine Antworten auf die Fragen der Staatsanwaltschaft dokumentiert.

Da es eine vorzügliche und allgemeinverständliche Auseinandersetzung mit den Ermittlungen des Heidelberger Staatsanwalts OBLÄNDER gibt, die Dr. Angela VOGEL vom ehemaligen Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter - abeKra verfasst hat, verweisen wir auf ihre Darstellung: "Wer legal manipulieren kann, braucht nicht zu fälschen".

Staatsanwalt OBLÄNDER kommt nicht umhin, die erste Frage nach der "Unrichtigkeit" so zusammen zu fassen:

"Soweit dem Beschuldigten nachgewiesen werden konnte, dass er in einzelnen Gutachten, teilweise auch gravierend, von falschen Tatsachen ausgegangen ist, muss davon ausgegangen werden, dass dies nicht wissentlich, sondern allenfalls aus Nachlässigkeit, möglicherweise verursacht durch die hohe Anzahl der von ihm erstatteten Gutachten, geschehen ist."

Und weil sich Vorsatz, also "wider besseres Wissen", wie es im Paragraphen heißt, so gut wie nie nachweisen lässt, wenn man es sich einfach macht, selbst wenn es nur "bedingter Vorsatz" ist, macht es sich auch Staatsanwalt OBLÄNDER einfach, indem er diese Frage so beantwortet und damit das Ermittlungsverfahren einstellt:

"Kein Gutachter, welcher tatsächlich den Vorsatz gefaßt hätte, ein falsches Gutachten herzustellen, würde die Torheit begehen, bewußt solche Tatsachen zu manipulieren, welche aufgrund der Aktenlage eindeutig feststehen."

Hier sind die Argumente des Staatsanwalts OBLÄNDER zu lesen: Az: 25 Js 9041/93. Der letztzitierte Satz steht auf S. 11 unten.

Die höchste Weihe für Prof. TRIEBIG: Mitglied im Ärztlichen Sachverständigenbeirat des Bundesarbeitsministeriums

Während in Heidelberg die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen andauern, das Gelsenkirchener Sozialgericht dem Berufskranken eine Entschädigung zugesprochen hat, heißt der Bundesminister für Arbeit und Soziales seit 1982 Norbert BLÜM (CDU). Er wird dieses Amt über alle Kanzlerägiden von Helmut KOHL innehaben.

Es ist die Zeit, als man es auf politischer Ebene - nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen - geschafft hat, Asbest zu ächten und zu verbannen, verbleites Benzin zu verbieten, eine "Gefahrstoffverordnung" auf den Weg zu bringen, als sich nicht mehr vermeiden lässt, auch über die Gefahren von sogenannten Lösemitteln zu diskutieren. In den meisten anderen Ländern ist schon längst anerkannt, dass diese Stoffe Nervenschädigungen auslösen (können), insbesondere wenn Menschen dem im Rahmen ihrer Arbeit regelmäßig ausgesetzt sind.

Diese Diskussion erreicht auch das wichtigste Gremium, das über die generelle Aufnahme von Krankheitsbildern in die sogenannte Berufskrankheiten-Verordnung (vor)entscheidet, das die Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung dann verpflichtet, im Einzelfall am Arbeitsplatz krank gewordene Menschen zu entschädigen. Das Gremium nennt sich "Ärztlicher Sachverständigenbeirat 'Berufskrankheiten'", abgekürzt "ÄSVBR BK" beim Bundesarbeitsministerium (BMAS). Die Empfehlungen dieses Beratergremiums werden in aller Regel 1:1 auch umgesetzt.

In diesem Gremium sind vor allem Arbeitsmediziner vertreten, die an deutschen Hochschulen eine entsprechende Professur innehaben, je zwei Betriebsärzte und Landesgewerbeärzte sowie Vertreter der Gesetzlichen Unfallversicherung und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Wir haben uns an anderer Stelle detailliert mit diesem Gremium und dessen Stellung im Kontext des gesamten Systems der Gesetzlichen Unfallversicherung beschäftigt: www.ansTageslicht.de/DGUV und dies auch grafisch dargestellt:

In diesem Gremium Sitz und Stimme zu haben stellt eine Art Krönung dar: die der arbeitsmedizinischen Kompetenz - die höchste Weihe aus der Sicht des politischen 'Standing'.

Sind systematische Ungenauigkeiten, Manipulationen oder Fälschungen ein Gütezeichen, um in den Olymp des ÄSVBR BK beim Bundesarbeitsministerium berufen zu werden?

Wir wissen das nicht. Fest steht aber, dass dies zumindest kein Hindernis darstellt.

Und so wird Prof. Dr. med. Gehard TRIEBIG in diesen "Sachverständigenbeirat" beim Bundesminister berufen. Wann, das wissen wir nicht.

Das Bundesarbeitsministerium verweigert die Auskunft

Wir wissen nur, dass Prof. TRIEBIG diese höchste Weihe erfährt und dass es zu der Zeit sein muss, als in diesem Gremium über die Krankheitsbilder von Lösemitteln diskutiert wird. In der Mehrheit entscheiden sich die Sachverständigen, Minister BLÜM eine "BK 1317" vorzuschlagen, die dann auch umgesetzt wird.

Eine erste Presseanfrage von ansTageslicht.de im April an die Pressestelle des BMAS nach den Mitgliedern in diesen Gremien wird negativ beschieden: Es habe seinerzeit keinen Beschluss der Mitglieder gegeben, dass die Namen der Regierungsberater auch öffentlich würden. Inzwischen sei dies zwar der Fall, aber damals eben nicht. Deswegen unterlägen die Namen dem "Datenschutz". Und: "Eine rückwirkende Veröffentlichung ist nicht möglich, da hierzu keine schriftliche Einwilligung der früheren Mitglieder vorliegt."

Wir glauben zwar nicht, dass die Mitglieder jemals danach gefragt wurden und dieses Argument des BMAS mehr als fadenscheinig ist, aber wir fragen erneut, diesesmal konkret, von wann bis wann Prof. TRIEBIG in diesem Beratergremium saß?

Das BMAS schiebt uns die gleiche Antwort über den Tisch: Datenschutz!

Wir emailen erneut, machen das BMAS darauf aufmerksam, dass die Rechtslage für Medien anders aussieht:

  • Medien haben grundsätzlich einen Auskunftsanspruch gegenüber Behörden.
  • Der kann eingeschränkt sein, wenn es um "Datenschutz" und/oder Persönlichkeitsrechte geht.
  • Aber: In solchen Fällen muss abgewogen werden: Was wiegt (in einer Demokratie) gewichtiger: das "öffentliche Interesse" an bestimmten Informationen oder das Schutzbedürfnis von Menschen, die solche Informationen - aus welchen Gründen auch immer - nicht veröffentlicht sehen wollen?

Da es um die Frage geht, wer eine Regierung, also ein Ministerium berät, sieht das die ständige Rechtsprechung eindeutig: Eine solche Information ist von "öffentlichem Interesse". Und weil das so ist, empfehlen wir der Pressestelle des Ministers, das eigene Rechtsreferat einzuschalten. Dort, so erwarten wir, könnte man den entsprechenden Sachverstand haben.

Auf diese neuerliche Anfrage erhalten wir keine Reaktion mehr - das BMAS antwortet einfach nicht.

"Organisierte Falschdarstellung"

So hatte es Ex-Arbeitsminister BLÜM im Jahr 2004 öffentlich formuliert. Und dass er es "unerträglich" empfinde, „dass eine kleine Gruppe gut organisierter Gutachter mittels Fälschung der wissenschaftlichen Grundlagen" z.B. die „gerichtliche Überprüfung unterlaufen, um das Einzelinteresse der Versicherungen (Berufsgenossenschaften) … doch noch über das Allgemeinwohl" stellen zu können."  Aber da war er nicht mehr Bundesarbeitsminister.

Das war geschehen:

Nachdem unter BLÜM's Ägide die Berufskrankheit "BK 1317", sprich "Polyneuropathie oder Entephalopathie durch organische Lösemittel" anerkannt und in die BK-Liste aufgenommen war, hatte der ÄSVBR BK ein Merkblatt dazu herausgegeben, das Ärzte, Krankenhäuser, Krankenkassen usw. über typische Symptome dieses Krankheitsbilds informiert. Erstellt hatte es Prof. Dr. med. Johannes KONIETZKO, Universitätsprofessor in Mainz und ebenfalls Mitglied in diesem Gremium - ein Kollege von Prof. TRIEBIG und anderen.

Allerdings: Es war in einem relevanten Punkt gefälscht. Darin war zu lesen, dass solche Nervenschäden reversibel seien, wenn man mit Lösemitteln nichts mehr zu tun habe, wenn also die Exposition beendet ist. Falsch.

"Diese Falschdarstellung war wohlorganisiert" so Norbert BLÜM in seiner "Öffentlichen Erklärung" im März 2004, sechs Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt. Und weiter: Der BK-Report 3/99 der Gesetzlichen Unfallversicherung "belegt einen solchen Verdacht. Dort werden wissenschaftliche Quellen angegeben, die das genaue Gegenteil von dem enthalten, was sie angeblich belegen sollen."

Autor der fraglichen Darstellung im BK-Report 3/99: Prof. Dr. med. TRIEBIG.

Natürlich musste das erlauchte Sachverständigengremium das offizielle Merkblatt zurückziehen und durch ein neues ersetzen. Offiziell hieß das so: Das Gremium habe "seine Beratungen zu dem Thema abgeschlossen und eine Neufassung des Merkblattes zur BK-Nr. 1317 beschlossen."

Auch diese Formulierung typisch für die Branche der Gesetzlichen Unfallversicherung: alles klein reden, alles herunterspielen: durch sogenanntes wording, aber eben auch „Fälschung.“ Wie seinerzeit bei Asbest.

Wie das Gremium intern mit diesem Problem umgegangen ist, nachdem die "organisierte Falschdarstellung" publik geworden war, wissen wir nicht. Auch nicht, seit wann TRIEBIG nicht mehr in dem Gremium vertreten war. Wir wissen nur, dass es nie zur Diskussion gestanden hatte, ob man sich von überführten Fälschern nicht besser trennen solle.

"Organisierte Falschdarstellung" bis heute

Bis heute vertritt Prof. TRIEBIG seine spezifische Meinung in Sachen Polyneuropathie (Störungen des peripheren Nervensystems) und Enzephalopathie (Merkfähigkeitsstörungen, Müdigkeit, Schädigungen des Gehirns und des Zentralen Nervensystems/ZNS) etwa im Zusammenhang mit den sog. Lösemittelschadstoffen, die im drastischen Gegensatz zur internationalen Erkenntnislage stehen: Dass, wenn die Schadstoff-Exposition entfällt, auch die gesundheitlichen Krankheitsprobleme zurückgehen.

TRIEBIG's Umtriebigkeit in dieser Sache ist vorteilhaft für die deutschen Berufsgenossenschaften, absolut nachteilig für die deutschen Arbeitnehmer. Und bis heute hält er das auch aufrecht, z.B. in seinem von ihm mit herausgegebenen Lehrbuch „Arbeitsmedizin“, 4. Auflage aus dem Jahr 2014. Es steht - prominent platziert - beispielsweise in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, dort im Präsenzregal (siehe Foto). Und bis heute ist er als Gutachter von der Gesetzlichen Unfallversicherung gefragt. Z.B. im Jahr 2020 von der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen und dem Sozialgericht Detmold (Az. S 1 U 39/19).

Wir hatten TRIEBIG bereits 2018 gefragt, warum er an seinen Thesen festhält und ob dies mit Interessenskonflikten zusammenhängen könne? Hier sind TRIEBIG's Entgegnungen dokumentiert.

"Institutionelle Korruption"?

Korruption & Bestechung waren hierzulande lange gang und gäbe, und Unternehmen durften ihre - als solche bezeichnete - "nützliche Aufwendungen" sogar als Betriebsausgaben für die Steuer absetzen. Bis sich in den 90er Jahren eine weltweite NGO etablierte: Transparency International und Politiker davon überzeugte, Korruption zu ächten, da es mit Marktwirtschaft, Preis-Leistungsverhältnis-Kalkulationen und Qualitätssicherung rein gar nichts zu tun habe.

Auch der Deutsche Bundestag reagierte schnell, und plötzlich war Korruption ein Straftatbestand. In den USA war das schon lange der Fall, aber in Europa, insbesondere in Deutschland hängen das Verständnis, was Korruption im Prinzip sei, und zweitens die Akzeptanz, was alles darunter falle, immer ein bis eineinhalb Dekaden der weltweiten Erkenntnislage hinterher. In den angelsächsischen Ländern gibt es Korruptionsforschung, in Deutschland nicht.

Bei "Institutioneller Korruption", auch als "Systemische Korruption" bezeichnet, geht es weniger um Geld, sondern darum, den (ursprünglichen) Zweck einer Institution bzw. eines Systems zu beeinflussen, im schlechtesten Fall ihn zu verändern. Und zwar so, dass "abweichendes Verhalten", wie es Soziologen oder auch Kriminologen nennen, zur Norm wird. Das kann soweit gehen, dass irgendwann der eigentliche Zweck einer Organisation/Institution ins schiere Gegenteil übergeht - sozusagen automatisch und zwangsläufig, wenn keinerlei Kontrollmechanismen eingebaut sind. Dann verändert sich die Aufteilung zwischen Nutzen und Lasten bzw. zwischen jenen, die davon profitieren und jenen, die das - verienfacht gesagt - ausbaden müssen: gesundheitlich und finanziell.

Angelsächsische Korruptionswissenschaftler würden ein System, das gesetzlich institutionalisiert nach und nach seinen Zweck verändert hat, ohne dass etwa der Gesetzgeber dem Einhalt geboten hat, als "institutionell korrupt" bezeichnen. Insbesondere wenn es ein unkontrolliertes Eigenleben führen und sich dabei auf einen speziellen Behörden- und Justizapparat als Rückgrat stützen kann, der das Wörtchen "sozial" als Markenzeichen führt.

(JL)


Hinweise

Dieser Text lässt sich auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Triebig, die Kurzfassung auf 1 DIN A 4-Seite unter www.ansTageslicht.de/Faelscher (entspricht Nr. 7 aus der Serie "50.000 Fälle = 100.000 Wählerstimmen, jedes Jahr").

Ein vorangegangener Kurztext über Prof. TRIEBIG - Nr. 6 dieser Serie - findet sich unter www.ansTageslicht.de/ProfessorTriebig, eine ausführliche Gesamtdarstellung dazu bzw. zur "BK 1317" unter www.ansTageslicht.de/BK1317.

Unter www.ansTageslicht.de/BMAS haben wir begonnen, uns mit der Rolle der Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie deren Minister im Kontext des Problems Berufskrankheiten auseinander zu setzen. Dieses Kapitel ist in ständiger Arbeit, das Thema ist komplex und ebenso die politischen Verantwortlichkeiten.

Die im Text genannte Initiatorin des Verbandes arbeits- und berufsbedingt Erkrankter (abekra), Dr. Angela VOGEL, ist verstorben, der Verein aufgelöst, aber die Website exisitiert immer noch: www.berufskrank.de.

Der Text, den Sie hier lesen, gehört zum Themenkomplex

Krank durch Arbeit.

Weitere Bestandteile sind diese Themenschwerpunkte:

Ebenso dazugehörig, aber an anderer Stelle bei uns platziert:

Alle diese Themenschwerpunkte bestehen aus mehreren (ausführlichen) Texten, die wir "Kapitel" nennen. Den gesamten Themenkomplex im Überblick können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/krankdurcharbeit.