Sven GRATZIK - ein Polizist, der gegen Neonazis kämpft, wird als Whistleblower kaltgestellt

Die Geschichte

„Hingucken!“ So hieß eine Devise der Landesregierung in Sachsen-Anhalt (CDU und SPD) in den Jahren 2006 bis 2011. Jenem Bundesland, das in der Kriminalitätsstatistik bei rechten Straftaten die Spitze anführt.
Hingeguckt“ - wohl etwas zu gründlich - hatten drei Polizisten des Fachkommissariats „Polizeilicher Staatsschutz“ in Dessau.

Sie sind seit 2007 alle nicht mehr auf ihrem Posten. Sie hatten in einem Gedächtnisprotokoll festgehalten, was ihnen der stellvertretende Polizeipräsident zu ihrer kontinuierlichen und erfolgreichen Ermittlungsarbeit, z.B. gegen Neo-Nazis gesagt hatte:

  • "Natürlich kommen mehr Delikte zum Vorschein, wenn genauer hingeschaut wird.“ Aber: „Niemand ist damit glücklich. Wir nicht, das LKA nicht, das Land nicht.“
  • Und: „Man muss ja nicht alles sehen!“ Anders gesagt: Man muss ja nicht so genau „hingucken!

Die drei engagierten Polizisten mit Sven GRATZIK als Chef waren ausgesprochen erfolgreich. Sie taten ihre Arbeit mit Gründlichkeit und frischen Ideen, bezogen auch die vielen lokalen Initiativen gegen Rechts mit ein, sprachen und diskutierten mit den Engagierten, stimmten gemeinsam Strategien und Maßnahmen gegen die rechte Szene ab. Jetzt sollte das offenbar nicht mehr erwünscht sein?

Sven GRATZIK will das dreiseitige Gedächtnisprotokoll in seiner Personalakte haben – als Entlastung. Für alle Fälle. Das geht nun seinen Weg, den offiziellen Dienstweg: über die Leiterin des Zentralen Kriminaldienstes, von da aus über den stellvertretenden Polizeipräsidenten und von da aus weiter an die Polizeipräsidentin. Die reicht es an die Staatsanwaltschaft weiter. Und sie fertigt einen Bericht für das Innenministerium. Ein erstes Feedback kommt sogleich hinter vorgehaltener Hand zurück: Wer sich über solche Kleinigkeiten aufregt, gehört nicht in eine solche Abteilung (gemeint: Staatsschutz)!

Genau so kommt es auch. Die ersten beiden ‚Staatsschützer’ werden versetzt. GRATZIK bittet von sich aus um seine Versetzung. Erstens sind zwei seiner wichtigsten Mitarbeiter nicht mehr da, zum zweiten beschleicht ihn das unmissverständliche Gefühl, nicht mehr weiter arbeiten zu können wie bisher:  Er läuft regelmäßig auf. Schließlich erhält er sogar ein Betretungsverbot für seine Dienststelle. Er kommt jetzt nicht mehr an seinen Schreibtisch oder Dienstcomputer heran.

Einer der versetzten Kollegen wendet sich an einen Parlamentsabgeordneten (CDU), der auch im Petitionsausschuss sitzt. Der will das Protokoll mit Einverständnis des Polizisten dem Innenminister (SPD) zeigen. Der wiederum beauftragt einen internen Untersuchungsbericht, der den stellvertretenden Polizeipräsidenten entlasten soll. Weshalb der Untersuchungsbericht auch nicht veröffentlicht wird.

Inzwischen sind die Vorgänge aber an eine Tageszeitung gelangt: an den „Tagesspiegel“ im 120 Kilometer entfernten Berlin. Der engagierte Journalist, der seit vielen Jahren gegen Rechts anschreibt und auch die Schicksale zusammengeschlagener Menschen, u.a. in Sachsen-Anhalt, regelmäßig im Auge behält, veröffentlicht auch sogleich seine erste Geschichte einer ganzen Serie, für die er später den „Wächterpreis der Tagespresse“ erhält. Jetzt berichten sogar die anderen Zeitungen in Sachsen-Anhalt. Sie halten sich aber in dem Bundesland, das bei der letzten Landtagswahl 2006 eine Wahlbeteiligung von mageren 44% auf die Beine brachte, mit eigenen Recherchen und ausführlichen Hintergrundberichten vornehm zurück.

Nicht zurück hält sich der Polizeiapparat. Ab sofort werden alle Datenaufzeichnungen und -bewegungen (emails, Dateneingaben in den PC) der drei Ex-Staatsschützer heimlich aufgezeichnet und gesichert – man möchte das Leck finden. Die fortan kontinuierliche Berichterstattung des „Tagesspiegel“ setzt nun die Politik unter Druck, die einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzt – dominiert von der Großen Koalition aus CDU und SPD. Er wird ausgehen wie das Hornberger Schießen.

Der Innenminister (SPD), der vor den Abgeordneten Rede und Antwort stehen muss, versichert, dass gegen die drei Ex-Staatsschützer solange keine disziplinarischen Ermittlungen eingeleitet werden, wie der Parlamentarische Untersuchungsausschuss tagt. Tatsächlich geschieht das Gegenteil: Gegen die drei Polizisten laufen aber still und leise Disziplinarverfahren.

Der ehemalige stellvertretende Leiter der Abteilung und Vertreter von Sven GRATZIK, Swen ENNULLAT, der sich auf seiner neuen Dienststelle wenig herausgefordert fühlt, will auf die Polizeihochschule. Man wirft dem aufstrebenden Beamten – wo es nur geht – Knüppel zwischen die Beine. Und er wird im Auftrag des Innenministeriums bespitzelt. Letztlich kann er sich doch durchsetzen und studieren: mit gerichtlicher Hilfe. Er bewirbt sich im Bundesland Berlin - mit Erfolg, denn dort kann man engagierte und mitdenkende Polizisten gebrauchen. 

Sven GRATZIK selbst wird ebenfalls mehrfach umgesetzt – immer dorthin, wo es nichts zu tun gibt; man hat keine Verwendung für ihn, lässt sein Engagement einfach leerlaufen. So geht der Polizeiapparat in diesem Bundesland mit engagierten Neo-Nazi-Bekämpfern um.

Seit 2010 hat Sven GRATZIK eine neue Aufgabe: Jetzt ist er für „Prävention“ zuständig. Konkret: u.a. für das Puppentheater der Polizei in Sachsen-Anhalt - Verkehrserziehung für Kids mit einem Kasperle.

Die Bilanz

Folgen für die Gesellschaft:

Die offene und heimliche Verfolgung und Disziplinierung der drei Polizisten durch Staat und Politik dürfte auf die Bereitschaft innerhalb der Polizei, Missstände beim Namen zu bennen und Verbesserungen zu bewirken, eine verheerende Wirkung gehabt haben. Indirekt lässt sich dies an den Vorgängen beobachten, die zur Aufklärung des Falles Oury JALLOH beitragen sollen: Es wird an vielen Stellen gemauert. JALLOW war 2005 gefesselt in einer Polizeizelle bei lebendigem Leib verbrannt.

Weitere Folge: Die inzwischen verbannten drei Staatsschützer hatten ihre Arbeit u.a. auch in enger Kooperation mit privaten Initiativen und NGO's gemacht, die sich ebenfalls gegen neonazistische Umtriebe gewandt hatten. Diese informelle Zusammenarbeit, die sich als sehr effektiv gestaltete, gibt es jetzt nicht mehr. Freies Feld für die Neo-Nazi-Szene.

Folgen für die Whistleblower:

Sven GRATZIK gibt sich gelassen, auch wenn er mit seiner Situation nicht zufrieden ist, weil alle Menschen, die sich stark engagieren, eher frustriert sind, wenn sie nicht mehr können oder dürfen.

Sein Stellvertreter, Swen ENNULLAT, dem die Polizeibehörde alle nur denkbaren Steine in den Weg gelegt hatte, um sein Weiterkommen zu verhindern, ging zur Polizei nach Berlin. Von dort wechselte er in die Kommunalverwaltung einer kleineren Stadt vor den Toren berlins, wo er - aufgrund seines kriminalpolizeilichen Know-hows - zum zweiten Male Whistleblower wurde. In der Folge gekündigt wurde. Damit gab er sich nicht zufrieden und kam zurück ins Rathaus: diesesmal als parteiloser Bürgermeister, gewählt mit 71,5 % der Stimmen.

Den dritten Kollegen hat es am stärksten getroffen. Im Polizeidienst ist er seither mit wenig qualifizierten Diensten betraut. Ansonsten hat sich der ehemals hochmitivierte Polizeibeamte ins Privatleben zurückgezogen.


Hinweis:

Die vollständige Geschichte der drei ehemaligen Polizeibeamten könnenn Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Dessau. Die Geschichte von Swen Ennullat, der zum zweiten Male Whistleblower wurde unter www.ansTageslicht.de/Swen-Ennullat. Diesen kurzen Text über Sven GRATZIK unter www.ansTageslicht.de/Gratzik

(JL)

 

Online am: 02.01.2019
Aktualisiert am: 24.08.2019


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Sven GRATZIK - ein Polizist, der gegen Neonazis kämpft, wird als Whistleblower kaltgestellt


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Whistleblower

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