Weitere Berichte zum Thema Tierarzt, 07.02.2010

von Christina HUCKLENBROICH

Traumberuf - Komme, was wolle

Zusammenrücken!", brüllt der grimmig dreinschauende Mann im grauen Kittel in den Hörsaal. Der Tierpräparator steht schon seit einigen Minuten in der Tür neben der großen Tafel und beobachtet mit kritisch gerunzelten Augenbrauen, wie sich die Sitzreihen füllen. Die jungen Frauen und Männer, die an diesem Tag mit ihrem Studium in Gießen beginnen, zucken zusammen, aber sie räumen pflichtschuldig ihre Jacken von den freien Plätzen und rutschen auf. Am Ende müssen doch etwa dreißig Erstsemester auf den Treppenstufen sitzen. Wahrscheinlich macht es ihnen nicht viel aus. Denn für die meisten von ihnen erfüllt sich an diesem Montagmorgen ein Lebenstraum, viele haben sogar jahrelang auf ihren Studienplatz gewartet: Der Hörsaal, in dem das Fach Anatomie gelehrt wird, gehört zum Fachbereich Veterinärmedizin der Universität Gießen; hier fängt an diesem Tag im Oktober für 210 junge Leute das Veterinärmedizinstudium an. In knapp sechs Jahren werden sie, wenn alles gutgeht, Tierärzte sein.

Katharina Jung sitzt in einer der hinteren Reihen. Der sportlichen jungen Frau mit blondem Pferdeschwanz, rotem Parka und Jeans würde man schon jetzt glauben, dass sie von Beruf Tierärztin ist. Doch hinter Katharina liegen viele Jahre, in denen sie gegen alle Widerstände Wartesemester sammelte, um überhaupt einen Studienplatz zu erhalten. Wer ohne Wartezeit und Auswahltests mit dem Veterinärmedizinstudium beginnen möchte, braucht derzeit einen Abiturschnitt zwischen 1,1 und 1,5, je nach Bundesland - so begehrt ist das Studienfach. In Hessen wird Veterinärmedizin nur in Gießen angeboten, darüber hinaus gibt es lediglich vier andere Studienorte in Deutschland: Berlin, Hannover, Leipzig und München.

Katharina Jung ist mittlerweile 26 Jahre alt. Um die Wartezeit zu überbrücken, hat sie jahrelang auf Gestüten Pferde trainiert, eine Ausbildung zur veterinärmedizinisch-technischen Assistentin abgeschlossen und auch schon in dem Laborberuf gearbeitet. In diesem Herbst kam endlich die Zusage für einen Studienplatz in Gießen. Katharina nahm ihn an - sie gab dafür ihren sicheren Job in einem Labor auf und schlug alle Ratschläge aus ihrer Umgebung in den Wind. "Alle Tierärzte, mit denen ich gesprochen habe, haben mir vom Studium abgeraten", sagt sie. "Auch die Vorgesetzten im Labor, die Veterinärmediziner waren, wollten mich von meinem Entschluss abbringen. Aber ich kann mir keinen anderen Beruf vorstellen."

Nicht nur Tierärzte raten vom Studium ab. Selbst die Berufsverbände können jungen Leuten das Veterinärmedizinstudium heute nicht mehr vorbehaltlos empfehlen. "Die Gehaltssituation für angestellte Tierärzte in Praxen und Kliniken ist katastrophal", sagt Frank Menz, Geschäftsführer der Tierärztekammer Hessen. "Wir sprechen über Anfangsgehälter von weniger als 2000 Euro brutto. Auch im Verlauf des Berufslebens bleiben die Löhne extrem niedrig. Die Lage ist drastisch."

Bundesweit sieht es nicht anders aus. Das zeigte zuletzt eine Studie der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Die Doktorandin Bettina Friedrich erreichte mit einem Fragebogen einen Großteil aller 4300 deutschen Tierärzte, die in Praxen und Kliniken angestellt sind. Sie sind mittlerweile zu 75 Prozent Frauen, denn Veterinärmedizin ist zum Frauenfach geworden. Auch unter den Studienanfängern befinden sich 85 Prozent Frauen - ein deutlicher Wandel, denn noch vor dreißig Jahren war gerade mal ein Viertel der Erstsemester im Fach Tiermedizin weiblich.

Die Teilnehmer der Hannoveraner Studie machten auf anonymisierten Fragebögen genaue Angaben zu ihren Gehältern. Das geringste Monatsgehalt, das angestellte Tierärztinnen auf einer Vollzeitstelle nannten, betrug 580 Euro brutto; bei Männern 900 Euro. Im Durchschnitt liegt das Gehalt für angestellte Tierärzte in den alten Bundesländern bei 2500 Euro, in den neuen sogar nur bei 2000 Euro brutto - unabhängig von der Anzahl der Berufsjahre. Die Hälfte der Arbeitnehmer, die diese Angaben machten, hatte zum Befragungszeitpunkt bereits promoviert. Im Durchschnitt verdienen Männer 550 Euro mehr als Frauen. Für den Beruf sind nie Tarifvereinbarungen getroffen worden.

Vergleicht man die Situation der jungen Uni-Angestellten in der Tiermedizin allerdings mit dem Fach Humanmedizin, fallen gravierende Unterschiede ins Auge: 3800 Euro brutto verdienen Ärzte direkt nach dem Examen schon im ersten Jahr der Facharztausbildung an Universitätskliniken.

Die geringen Gehälter für Tiermediziner scheinen allerdings nicht durch ein Überangebot an Studienabsolventen zustande zu kommen. Im Gegenteil: Im "Deutschen Tierärzteblatt" kommt auf 14 Stellenangebote derzeit ein Gesuch. Dennoch können die Inhaber von Praxen und Kliniken offenbar die Gehälter diktieren. "Die Probleme des Berufsstandes hängen natürlich stark mit der Verschiebung in Richtung Frauenberuf zusammen", meint Frank Menz. Sabine Merz, die Sprecherin der Bundestierärztekammer in Bonn, sagt es noch deutlicher: "Frauen müssen lernen, ihren Wert einzuschätzen und Gehaltsanpassungen zu fordern."

Dass Standesvertreter so offen über die Gehaltssituation sprechen, ist neu. Lange wurden die niedrigen Löhne tabuisiert - schließlich vertreten Kammern und Verbände Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichzeitig. Erst vor wenigen Wochen, Anfang Januar, gründete eine Gruppe von Tierärztinnen eine Interessenvertretung. "Unser Ziel ist es, Tariflöhne einzuführen", sagt die erste Vorsitzende Stephanie Jette Uhde. "Wir gehen davon aus, dass es im Berufsstand eine ganze Reihe von verschleppten Insolvenzen gibt: Praxen, die sich nur am Markt halten, weil sie ihre Mitarbeiter nicht ordnungsgemäß bezahlen." Die neue Vereinigung "Vet Lobby" stützt sich in ihrer Arbeit maßgeblich auf die Daten aus der Hannoveraner Studie. "Dass man die Löhne als sittenwidrig bezeichnen kann, ist dadurch deutlich geworden", sagt Uhde. "Vet Lobby" will sich insbesondere für die Rechte der Tierärztinnen einsetzen. "Frauen überwiegen mittlerweile im Berufsstand; in den entscheidenden Positionen der Standesgremien sitzen aber Männer", sagt Uhde.

Die neue Tierärztegewerkschaft macht sich allerdings nicht nur für höhere Löhne, sondern auch für bessere Arbeitsbedingungen stark. Denn auch, was Arbeitszeit und -belastung angeht, liegt einiges im Argen: Der Studie aus Hannover zufolge beträgt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit angestellter Tierärzte 48 Stunden, wobei Notdienste noch nicht berücksichtigt sind. Für 75 Prozent der Angestellten bleibt der Notdienst unvergütet. Viele bemängeln ein fehlendes Privatleben; nicht einmal ein Drittel der angestellten Frauen hat Kinder. Am unzufriedensten sind die Pferdetierärzte. Ein Drittel von ihnen gibt zu Protokoll, während des Arbeitstages überhaupt keine Pause zu haben.

"Wenig Geld, viel Arbeit, keine Freizeit - wir machen es trotzdem", kommentiert die Studienanfängerin Katharina Jung die Bedenken lakonisch. Auf die Frage, mit welchem Gehalt sie anfangs rechne, antwortet sie realistisch: "Um die 1800 brutto." Nach einer Pause fügt sie mit einem Grinsen hinzu: "Ich habe schon 2700 verdient in meinem ersten Jahr nach der Laborausbildung." Ob sie das nicht ins Grübeln bringe? Katharina zuckt mit den Schultern. "Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, vierzig Jahre lang im Labor zu arbeiten."

Eine Mischung aus Idealismus und Schicksalsergebenheit fällt auch im Gespräch mit den Kommilitoninnen der Sechsundzwanzigjährigen immer wieder auf. Viele Studierende sind durchaus im Bilde darüber, was sie nach ihrem Examen erwartet; von ihrem Traumberuf lassen sie sich aber trotzdem nicht abbringen. Jasmin Rocha etwa, Studentin im siebten Semester in Gießen, arbeitete vor dem Studium als Tierarzthelferin: "Ich weiß, worauf ich mich einlasse: Früher in der Praxis habe ich immer die Abrechnungen für die Assistenzärzte gemacht", sagt die Achtundzwanzigjährige. "Mehr als 2400 brutto verdiente dort keiner." Trotzdem wartete sie sogar sechs Jahre auf einen Studienplatz.

Etliche Studentinnen blenden die Probleme, die ihre berufliche Zukunft mit sich bringen wird, allerdings auch aus. Die 18 Jahre Maria Stühmer ist heute, am ersten Tag des Studiums in Gießen, spät dran, und läuft zielstrebig auf das Hörsaalgebäude zu. Tierärztin habe sie schon immer werden wollen, sagt sie im Vorbeigehen. Um von ihren Haustieren zu erzählen, bleibt sie dann doch stehen. Einen Schäferhund, zwei Katzen, Zwergkaninchen und Enten habe sie zu Hause bei den Eltern in einer Kleinstadt bei Leipzig. Auf die Frage, ob sie die Gehaltssituation der Tierärzte kenne, antwortet sie fast etwas ungehalten: "Keine Ahnung - ich mache das alles ja nicht wegen des Geldes."

Solcher Idealismus bereitet prekären Arbeitsverhältnissen den Weg. Vor allem in der Kleintiermedizin arbeiten junge Tierärztinnen für wenig Geld. Meist nehmen sie geringe Gehälter in Kauf, um Spezialkenntnisse zu erwerben - etwa über besondere Operationsmethoden oder Diagnoseverfahren, die nicht in jeder Praxis möglich sind. Tiermedizin auf hohem Niveau bieten vor allem die Kleintierkliniken der Universitäten. Sie beschäftigen seit Jahren Tierärzte auf extrem niedrig bezahlten Vollzeitstellen, die auf ein bis zwei Jahre befristet sind und als "Internship" deklariert werden. Die Kleintierklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München etwa schreibt in ihrer aktuellen Stellenanzeige für Internships, Bewerber mit Doktortitel und Berufserfahrung würden bevorzugt; die tägliche Arbeitszeit gehe von 7.30 Uhr bis nach 19 Uhr. Das Gehalt betrage 600 bis 850 Euro brutto im Monat inklusive Nacht- und Wochenenddiensten. In Berlin erwartet man ein "überdurchschnittliches Examen" und zahlt 600 bis 800 Euro. Auch in Gießen werden Internships angeboten. 850 Euro brutto zahlt die Kleintierklinik monatlich. "Nachtdienste stellen Ausbildung dar", heißt es in der Stellenanzeige lapidar.

Trotz solcher Bedingungen ist der Andrang groß. "Es gab wohl mehr als fünfzig Bewerbungen auf die acht Stellen", sagt Eva Reith. Die Achtundzwanzigjährige hat es geschafft. Sie verbringt ihre Mittagspause mit ihrem Hund auf der Wiese vor der Kleintierklinik. "Das Gehalt steht zwar in keinem Verhältnis zu unserer Ausbildung, aber man sieht das Ganze unter dem Aspekt, dass man hier viel lernt", sagt sie. Sie möchte den Titel "Fachtierärztin für Kleintiere" erwerben - das geht nicht überall. "Wir sind hier in der Uni schon sehr verwöhnt, was den Standard und die Geräte angeht", hebt die Gießener Studentin hervor. "Ich möchte hier einfach eine gute Ausbildung erhalten."

Mittlerweile hat es angefangen zu regnen in Gießen. Ein kalter Wind weht auf dem Veterinärmediziner-Campus. Die Studenten, die von einem Stall in den nächsten eilen, ziehen ihre grünen Kittel fest um sich. Das Studentencafé hat geschlossen; eine Mensa gibt es auf dem Fakultätsgelände nicht. Stoisch steht ein rotbraunes Pferd in einem Auslauf gegenüber dem Verwaltungsgebäude und kehrt dem Wind sein Hinterteil zu. Der Campus belebt sich erst wieder, als die Anatomievorlesung endet und die Erstsemester aus dem Hörsaal strömen. Die wenigen Männer unter den Studienanfängern haben sich in kleinen Grüppchen zusammengefunden. Einer von ihnen ist der zwanzigjährige Felix Scholz aus Hamburg, ein sportlicher, sonnengebräunter Surfer-Typ. Nach dem Abitur hat Felix ein Jahr lang als Tauchlehrer auf den Philippinen gearbeitet. "Der Berufswunsch Tierarzt stand für mich schon lange fest", sagt Felix. Sein Vater ist Fischereibiologe; er selbst will später als Experte für Fischzucht oder mit Nutztieren, etwa Rindern, arbeiten. Eins weiß er schon jetzt: "Ich will auf jeden Fall im Ausland leben." Mit Blick auf die Überzahl an Kommilitoninnen sagt er: "Es ist mir ein Rätsel, warum nicht mehr Männer sich für den Beruf interessieren."

In der Tierärzteschaft wird seit langem darüber diskutiert, warum Männer dem Studium fernbleiben. Oft wird vermutet, dass ihre Abiturnoten eben schlechter als die der Frauen sind, so dass sie die hohen Zugangshürden nicht bewältigen können. Das wird jedoch kaum der einzige Grund sein. Auch viele Frauen nehmen wegen ihres nur mäßigen Abiturdurchschnitts lange Wartezeiten in Kauf. Außerdem zeigt sich schon bei der Bewerbung um einen Studienplatz ein Missverhältnis: Fast neunzig Prozent der Bewerber sind Frauen. Generell ist die Bewerberzahl pro Platz höher als bei allen anderen Fächern, die die ZVS verwaltet: Seit Jahren verzeichnet die Vergabestelle 5000 Bewerbungen und mehr auf die 1000 Studienplätze im Fach Veterinärmedizin, die bundesweit zur Verfügung stehen. Die Popularität des Faches sei wohl auch den vielen Fernsehserien geschuldet, in denen Tierärzte die Hauptrolle spielen, heißt es bei den Berufsverbänden.

Dass die Serien ein unrealistisches Bild des Berufs vermitteln, zeigte zuletzt wieder die ARD-Serie "Tierärztin Dr. Mertens", deren dritte Staffel im Januar zu Ende ging. Die Titelheldin ermutigt ihre Tierarzthelferin in einer der Folgen, ein Studium zu beginnen. "Im Moment muss sie wegen ihres Gehalts noch in einer WG wohnen", lassen die Drehbuchautoren Dr. Mertens sagen. Das Mädchen solle lieber Veterinärmedizin studieren, fügt die Fernseh-Tierärztin hinzu. Um aus ihrem Leben etwas zu machen.