So liefen die Recherchen im Fall des Sozialleistungsmissbrauchs

von Michael OHNEWALD

Prolog

Manchmal endet das bürokratische Desaster in einem kleinen Gerichtssaal, und kaum einer draußen bekommt es mit. Es ist Sommer 2005 in Backnang, einer schwäbischen Kleinstadt, die noch über ein eigenes Amtsgericht verfügt. Hier sitze ich im Gerichtssaal, um eine Reportage zu schreiben über den Alltag eines rechtschaffenen Strafrichters, der Schicksale im Halbstundentakt besiegelt, der sich jeden Tag graben muss durch den Gemüsegarten menschlicher Verfehlungen. Das hatte ich mir selbst eingebrockt. Also verfolge ich an diesem frühen Morgen als einziger Beobachter mit Block auf dem Schoß die juristische Aufarbeitung menschlicher Kleinkarambolagen, vom Auffahrunfall bis hin zum Streit im Mietshaus. Die Tagesordnung bestand aus Fällen, die sonst unter der Wahrnehmungsschwelle der Redaktion liegen, uns aber in der geballten Form eine Reportage wert waren.

Die Stunden verflogen. Angeklagte kamen und gingen. Am frühen Nachmittag musste sich eine junge Türkin verantworten, die im Verdacht stand, das Arbeitsamt betrogen zu haben. Der Staatsanwalt sagte, sie habe vor Jahren einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe gestellt und dabei ihre erkleckliche Barschaft auf einem türkischen Sparbuch verschwiegen. In Ankara habe sie mehr als 25 000 Euro angelegt. Die junge Türkin bestritt den ihr vorgehaltenen Leistungsbetrug und ließ ihren aus Hannover angereisten Anwalt erklären, dass sie von dem Vermögen in der Türkei nichts gewusst habe, weil ihr Mann für Geldgeschäfte zuständig sei. Der Richter musste den Fall vertagen und den Mann der Angeklagten laden. Er war sauer. „Solche Fälle haben wir hier öfter“, sagte er. Dies machte mich stutzig.

Die Geschichte

Ich schrieb zunächst die Reportage über den Tag im Amtsgericht und erwähnte den Fall mit der jungen Türkin darin nur in drei Sätzen. Nebenbei versuchte ich mir das Thema zu erschließen, und fragte bei Richtern nach und bei Ermittlern, um mehr zu erfahren über die angeblich verschwiegenen Konten in der Türkei. Entscheidend weiter kam ich zunächst nicht. Der Verzweiflung nahe, spielte mir der Zufall einen Trumpf in die Hand. Wie ich erfuhr, kümmerte sich ein Staatsanwalt in Stuttgart um diese Fälle, den ich von einer anderen Geschichte kannte. Ich hatte mir damals seine Durchwahl notiert und profitierte jetzt davon. Ich konnte ihn direkt anrufen und musste nicht über die Pressestelle der Staatsanwaltschaft gehen. Dort sind schon manche Geschichten beerdigt worden.

Als ich den besagten Oberstaatsanwalt am Apparat hatte, traute ich meinen Ohren nicht. „Endlich interessiert sich mal jemand für dieses Thema“, sagt er. Und dann legte der erfahrene Ankläger derart los, dass mein Kugelschreiber Hitzewallungen bekam. Er erzählte mir davon, dass im Jahr 2000 bei einer Bankrazzia in Frankfurt von Steuerfahndern mehr als 220 000 Ein- und Auszahlungsbelege türkischer Sparer mit Wohnsitz in Deutschland sichergestellt worden waren. Die Finanzbehörden hatten die Dateien weiter an die Arbeitsmarktinspektoren beim Landesarbeitsamt in Stuttgart geschickt. Diese sollten prüfen, ob unter den Kontoinhabern auch Leistungsbezieher sind, und ob sie gegebenenfalls zu Unrecht Arbeitslosenhilfe bezogen hatten. Nun sei die behördliche Aufarbeitung endlich in Gang gekommen und plötzlich würden sich deutsche Bürokraten gegenseitig blockieren, beklagte der Jurist. Dies halte er für einen Skandal.

Wie sich bei der weiteren Recherche zeigte, die mir wie ein Puzzle vorkam, bei dem sich jedes Teil ins andere fügt, hatte der Oberstaatsanwalt nicht übertrieben. Die Fahnder in Baden-Württemberg hatten zunächst eine Stichprobe mit 4500 Fällen näher untersucht und dabei festgestellt, dass 589 Leistungsempfänger den Staat betrogen und insgesamt 6,6 Millionen Euro zu Unrecht bezogen hatten. Es handelte sich dabei um in Deutschland ansässigen türkische Staatsbürger, die Arbeitslosenhilfe erhalten, aber in ihren Anträgen das Vermögen bei der türkischen Nationalbank in Ankara verschwiegen hatten. Der Schaden, so die Quellen, belaufe sich allein in Baden-Württemberg auf geschätzte 30 Millionen Euro. Interessant war für mich dabei nicht nur der Betrug selbst – wohl wissend, dass der Fiskus auch von Deutschen, Spaniern oder Italienern geprellt wird. Interessant war für mich viel mehr der vom Oberstaatsanwalt angedeutete Vorwurf, die Fahnder in Baden-Württemberg würden bei der Aufklärung durch die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg ausgebremst. Tatsächlich hatte die Bundesagentur für Arbeit zunächst einen Datenabgleich für die erste Stichprobe per Amtscomputer ermöglicht, sich dann aber einer weiteren Prüfung mit dem Hinweis auf den Datenschutz verweigert. Und das bei einem solchen Anfangsverdacht und einem Millionenschaden!

Ich versuchte natürlich – audiatur et altera pars - auch die andere Seite zu hören. Die aber zeigte sich sperrig und präsentierte verschiedene Varianten von Begründungen. Eine der ersten lautete: die Arbeitsmarktinspektoren seien durch eine Gesetzesänderung jetzt nicht mehr bei den Arbeitsämtern angesiedelt, sondern bei der Zollverwaltung. Deshalb greife nun der Datenschutz. Bei der ersten Stichprobe sei dies noch nicht der Fall gewesen. Die Behörde legte allerdings nie einen entsprechenden Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten vor. Auch sonst waren für mich die Argumente der Bundesagentur schwer nachvollziehbar. Denn in der Praxis sah dies nach der angesprochenen Gesetzesänderung, vereinfacht gesprochen, wie folgt aus: Herr MÜLLER, zuständig für den Kampf gegen Sozialmissbrauch beim Arbeitsamt, saß noch immer in seinem Büro, also im Behördenbau des Landesarbeitsamts, hatte aber jetzt ein anderes Türschild und durfte deshalb nach Lesart der Bundesagentur nicht mehr ins hauseigene Computernetz, weil sonst vertrauliche Daten „nach außen“ getragen würden.

Zwei Wochen nach der Reportage im Amtsgericht von Backnang hatte ich die nötigen Fakten - noch leicht unscharf an den Rändern - für die Geschichte zusammen und wir druckten sie am 30. Juli 2005 auf der ersten Lokalseite („Da werden Millionen in den Sand gesetzt“). Fünf Tage später folgte ein weiteres Stück. Aufgeschreckt durch die Berichterstattung in der Stuttgarter Zeitung hatte sich der baden-württembergische Justizminister Ulrich GOLL zu Wort gemeldet und Vorwürfe an die Adresse der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg gerichtet. Mit fragwürdigen Argumenten habe die Bundesagentur einen für die Strafverfolgung notwendigen Datenabgleich von Arbeitslosenhilfeempfängern mit Datensätzen der Fahnder verweigert, so der Justizminister. Dies könne nicht hingenommen werden. Ansonsten setze sich die Behörde „dem Vorwurf aus, „schützende Hände über Betrüger zu legen.“

Im Laufe der weiteren Recherche offenbarten sich interessante Details. Wie sich zeigte, waren im März 2004 nach der ersten Stichprobe von 4500 Fällen weitere 19 332 Datensätze über türkische Kapitalanleger bei den Fahndern in Stuttgart eingetroffen. Dies waren alles Fälle aus der Bankrazzia, die Baden-Württemberg betrafen. Interessant waren nicht zuletzt die in den Anträgen auf staatliche Unterstützung verschwiegenen Beträge. Die betroffenen Türken verfügten in Ankara über Konten zwischen 5000 Euro und mehr als 200 000 Euro. Wegen der aufwendigen Ermittlungen bat das mittlerweile zuständige Hauptzollamt in Stuttgart die Bundesagentur für Arbeit deshalb um einen umfassenden Datenabgleich. Am 2. März 2004 sandten die Zollfahnder 13 Disketten zur Prüfung nach Nürnberg. Dort aber blieben sie liegen, obwohl um eine Erledigung binnen vier Wochen gebeten worden war. Erst am 15. September 2004 antwortete die Bundesagentur und teilte mit, dass ein Datenabgleich aus Datenschutzgründen nicht möglich sei. Sechs Monate waren ungenutzt verstrichen.

Auch darüber berichtete ich in der Stuttgarter Zeitung. Dies rief Politiker wie den FDP-Generalsekretär Dirk NIEBEL auf den Plan, der selbst viele Jahre als Arbeitsvermittler gearbeitet hatte. Dass auch sein Parteikollege GOLL sich weiter um den Fall bemühte und seine Kritik an der Bundesagentur erneuerte, erwies sich für die weitere Recherche natürlich als hilfreich. Auch andere Medien berichteten jetzt. Das Heute-Journal drehte im Backnanger Amtsgericht und beim Oberstaatsanwalt in Stuttgart, die Stuttgarter Nachrichten schrieben über das Thema und auch das Nachrichtenmagazin SPIEGEL.

Es mag seltsam klingen, aber die Aufmerksamkeit der Konkurrenz hat mir die Arbeit vereinfacht. Ich war lange allein dran an diesem Thema und musste in der Redaktion immer wieder dafür werben, mir Platz zu geben. Nun konnte ich sagen, dass wir die Geschichte weiter drehen müssen, weil auch die Konkurrenz am Ball ist. So konnte ich leichter argumentieren und meine Ansprüche rechtfertigen. Frei nach dem Motto: „Die anderen schreiben ja auch drüber. Also kann es nicht so schlecht sein, was wir da aufgedeckt haben.“

Am 8. November 2005 druckte die Stuttgarter Zeitung eine ganze Seite zu diesem Thema („Schwarze Konten in Ankara“). Ich versuchte, den Behördenstreit in einem Hintergrundstück zurück gelehnt aufzuarbeiten und dabei auch komplizierte Sachverhalte zu erklären. Mittlerweile hatte sich auch der Bundesrechnungshof eingeschaltet und meine Artikel angefordert. Am 23. Dezember 2005 konnte ich exklusiv über ein vertrauliches Schreiben der Bonner Prüfbehörde an das Bundesfinanzministerium berichten. Darin wurden der Bundesagentur schwere Versäumnisse bei der Verfolgung von Leistungsmissbrauch vorgeworfen. Eine Vorabmeldung der Stuttgarter Zeitung lief bundesweit über die Agenturen. Die Bundesagentur wehrte sich. Auch diese Meldung kam ins Blatt.

Inzwischen hatte der Justizminister die Landesregierung davon überzeugt, dass Baden-Württemberg im Bundesrat auf eine Gesetzesänderung drängen sollte, „die es der Bundesagentur nicht mehr erlaubt, die Interessen der Steuerzahler hinter vermeintliche Datenschutzbelange zu stellen“. Am 10. Februar 2006 folgte der Bundesrat den Stuttgarter Vorschlägen. Die Länderkammer billigte die Einführung neuer Rechtsgrundlagen, um bei einem begründeten Anfangsverdacht leichter in großem Stil gegen Missbrauch von Sozialleistungen vorgehen zu können. In Zukunft soll ein umfassender Datenabgleich zwischen Ämtern und Trägern von Sozialleistungen möglich sein. Das entsprechende Gesetz wird jetzt vorbereitet.

Epilog

In Baden-Württemberg sind heute (Stand April 2006) noch mehr als 1000 Betrugsfälle von türkischen Sparern bei der Staatsanwaltschaft anhängig. Viele der betroffenen Leistungsempfänger wurden bereits zu Rückzahlungen verurteilt. Dabei flossen Millionen in die Staatskasse. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Mittlerweile hat die Bundesagentur ihre Bemühungen gegen Sozialmissbrauch ausgeweitet und Lehren aus diesem Fall gezogen.
Es bleiben dennoch ungeklärte Fragen. Baden-Württemberg hat seine Fälle bearbeitet. Was aber ist in anderen Bundesländern mit den Datensätzen aus der Bankrazzia passiert? Manches deutet darauf hin, dass Datenblätter mit Kontonummern türkischer Sparer dort in Kartons verstauben.