Wie die Berichterstattung in Stendal über die Wahlfälschung entstand

Eine Rekonstruktion des Journalisten Marc RATH

 

Es ist der 25. Mai 2014, "Superwahltag" in Stendal: Europawahl, Kreistagswahl und Stadtratswahl. In dieser Reihenfolge beginnt nach 18 Uhr auch die Auszählungen in den 37 Wahllokalen und für die drei Briefwahlbezirke.

Auf der Internetseite der Stadt lässt sich verfolgen, wie sich am späten Abend nach Eingang der einzelnen Ergebnisse die Sitzverteilung zwischen den Parteien im Stadtrat der größten Stadt in Sachsen-Anhalts Norden entwickelt: Die CDU liegt zunächst deutlich in Führung, doch unter den bisweilen bis zu 20 Mandaten fehlt der Name eines  ihrer Aktivposten: Holger Gebhardt. 

Das ändert sich erst kurz vor der Zielgrade: Praktisch aus dem Nichts schießt Gebhardt auf den dritten Platz. Als alles ausgezählt ist, bringen ihm seine 837 Stimmen das viertbesteErgebnis bei der CDU ein, die mit 16 Sitzen die stärkste Fraktion im 40-köpfigen Stadtrat stellt.

Was ist da passiert? Die Frage bewegt mich, nachdem am Montag und Dienstag die übliche Wahlnachberichtserstattung erfolgt ist.

Traditionell fließen die Briefwahlergebnisse immer recht spät in ein Ergebnis ein, weil meist mehr Stimmen auszuzählen sind als in den einzelnen Wahllokalen. Dies war am 25. Mai vor einem Jahr auch in Stendal der Fall. Am Donnerstag nach dem Wahlsonntag bitte ich daher die Pressestelle im Rathaus um das nach den einzelnen Kandidaten aufgeschlüsselte Ergebnis der Briefwahl. Der Pressesprecher verweist darauf, dass dies erst am Montag erfolgen könne. Am Montag entschuldigt er sich für eine Verzögerung um einen weiteren Tag.

Die Mail geht dann am Dienstag gleich zu Arbeitsbeginn ein. Und das Ergebnis elektrisiert: Holger Gebhardt bekam hier allein 689 Stimmen, ein sagenhafter Anteil von 11,3 Prozent der 6100 Briefwahlstimmen. In den 37 Wahllokalen, wo 28907 Voten abgeben wurden, hatte er dagegen nur 148 Stimmen. Zum Vergleich: Die Linke-Bundestagsabgeordnete Katrin Kunert erhielt mit 4041 die meisten Stimmen aller 104 Bewerber, davon 633 aus der Briefwahl. Bei der CDU hatte Landtagsabgeordneter Hardy Peter Güssau mit 2826 Stimmen das beste Ergebnis, davon kamen 339 aus der Briefwahl.

Holger Gebhardt hatte dagegen Mehr als jede zehnte der gesamten Briefwahl-Stimmen erhalten, aber nur jede 200. in den Wahllokalen - kann das sein? Ich beginne meine Recherchen.

Bereits am Nachmittag tagt der Wahlausschuss der Stadt, um das Ergebnis zu bestätigen. Durch meine Nachfragen ist das Ergebnis dort ein Thema. Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt bekräftigt, formal sei "alles korrekt gelaufen". Eine Manipulation schließt er aus. Auch dass jemand in großem Stil gegen die Vorschrift verstoßen gaben könnte, dass man nur für vier weitere Personen eine Vollmacht für die Briefwahl vorlegen darf, kann er sich nicht vorstellen. 

Holger Gebhardt urlaubt in dieser Woche in Italien. Auf schriftliche Fragen schickt jedoch umgehend eine Mail - es ist die letzte Reaktion von ihm zu diesem Thema.
"Ich habe aktiv für mich seit Wochen geworben, viel telefoniert und Menschen ganz direkt angesprochen."

Ob er sich sicher sei, dass nicht gegen die Grundsätze der Briefwahl verstoßen worden sei, beantwortet er mit: "Das kann ich eindeutig bejahen."

Eine gezielte Briefwahl-Kampagne? Der Gang zum Wahllokal ist doch viel einfacher. Ich spiele Varianten durch. Gesetzt den Fall, ein Kandidat will bei der Briefwahl ganz legal helfen, dann müsste er oder sie:
- Als Bote den Briefwahlantrag (ohne Vollmacht, denn dies geht ja nur in vier Fälle ) ins Rathaus befördern.
- Und dann ein zweites Mal bei dem Betreffenden vorbei gehen, um den verschlossenen Umschlag wiederum ins Rathaus zu befördern.
Wer dann die Stimmen bekommen hätte, bliebe immer noch ungewiss...

Drei Wochen später, ist etwas anderes gewiss: Der Stadtwahlleiter muss am 26. Juni auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz einräumen, dass nach internen Prüfungen doch nicht alles "formal korrekt" gelaufen ist. Im Rathaus hatte man die so genannte Vierer-Regelung beider Briefwahl übersehen. Zwölf  Bevollmächtigte hatten - nach damaligem Stand - 179 Briefwahlunterlagen erhalten (später muss er diese Zahl auf 189 nach oben korrigieren). In einem Fall waren es mehr als 30...

Maximal 48 Unterlagen hätten ausgegeben werden dürfen. 131 Wahlscheine verstoßen also formal gegen die wahlrechtlichen Bestimmungen. Da bei Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt drei Stimmen vergeben werden können, handelt es sich um 393 Stimmen. Ein klarer Verstoß.

Das Kommunalwahlgesetz des Landes formuliert recht sperrig, welche Auswirkungen das haben kann: "Eine Unregelmäßigkeit bei der Vorbereitung und Durchführung einer Wahl bewirkt nur dann deren (Teil-)Ungültigkeit, wenn sie die Sitzverteilung beeinflusst hat oder haben könnte." Und: "Ein wesentlicher Einfluss auf das Wahlergebnis liegt nur dann vor, wenn die Sitzverteilung in der neu gewählten Vertretung ohne die vorgekommenen Wahlverstöße anders ausgefallen wären oder hätten können."

Bei der Stadtratswahl verfehlte bei der Linken eine Kandidatin um vier Stimmen den Einzug, bei der FDP eine Bewerberin um sieben. 

Kleefeldt berichtet am 26. Juni noch eine weitere Besonderheit: Zehn Stendaler suchten am 25. Mai ihr Wahllokal auf, wo ihnen eröffnet wurde, dass sie schon gewählt hätten. Als sie dies jedoch verneinten, seien ihre Briefwahlunterlagen aussortiert worden, so dass sie im Wahllokal wählen durften.

Diese Rathaus-Panne betrifft auch die Kreistagswahl, bei der Holger Gebhardt übrigens nicht kandidiert hatte. Beide Wahlen waren so genannte verbundene Wahlen, das heißt, die Bevollmächtigten erhielten für beide Wahlen die Stimmzettel. Auch beim Kreistag waren in dem Wahlbereich Stendal die Abstände derer, die knapp den Einzug in das Gremium verfehlten, niedriger als 393.

Allerdings kommt Kreiswahlleiter und Landrat Carsten Wulfänger (CDU) eine Woche später, am 3. Juli, zu dem Ergebnis, dass die Kreistagswahl gültig sei. Unterschriftenprüfungen hätten ergeben, dass es keine nennenswerten Abweichungen in Größenordnung gegeben habe und der "Wählerwille gewahrt" worden sei.

Das ist eine Argumentation, die scharf am Gesetz vorbei schrammt. Die Mehrheit des Kreistags folgt ihr jedoch. Und die oberste Kommunalaufsicht im Landesverwaltungsamt folgt ihr zumindest insofern, dass sie keinen Widerspruch einlegt.

Am 7. Juli tagt der Stendaler Stadtrat. In der Zwischenzeit erreichte der Fall eine neue Dimension: Beim Stadtwahlleiter hatte sich eine Person gemeldet, der versicherte, dass seine Vollmacht gefälscht worden sei. Dennoch empfiehlt Kleefeldt entgegen seines ersten Votums von Ende Juni dem Stadtrat, die Wahl für gültig zu erklären. Dem CDU-Mann folgt jedoch nur die Fraktion CDU/Landgemeinden/Grüne. Die Stadtratsmehrheit von Linke, SPD, FDP und Piraten erklären die Briefwahl für ungültig. Diese muss damit wiederholt werden. Wenig später wird dafür der 9. November anberaumt.

Mitte Juli stellt Stadtwahlleiter Kleefeldt Strafanzeige gegen unbekannt. Er reagiert damit auf die eidesstattliche Versicherung des Mannes, der seine angebliche Vollmacht als Fälschung identifiziert hatte.

Danach passiert in der Sache zunächst einmal - nichts. Linke, SPD, FDP und Piraten nehmen allerdings Oberbürgermeister Klaus Schmotz (CDU) unter Beschuss, der sein Veto gegen einen von ihnen beantragten Wahlprüfungsausschuss einlegt. Im politischen Fokus stehen damals neben Holger Gebhardt jene zwölf Bevollmächtigten, über die strenges Stillschweigen herrschte. Einer soll indes stadtbekannt sein, wie der Wahlleiter in seiner ersten Pressekonferenz eingeräumt hatte. Wer sind diese Menschen? Warum holen Sie so viele Vollmachten ab? Das würde auch die Mehrheit der Stadtpolitik gerne herausfinden.

Für mich liegt in dieser Zeit der Schlüssel zu dem Fall aber auch bei den zehn Personen, die am 25. Mai wählen wollten, dies aber zunächst nicht dürften, da sie ja angeblich schon gewählt hatten. Derjenige, die Strafanzeige auslöste, gehörte auch zu diesem Kreis.

Es ist nicht unüblich, dass sich solche Menschen auch Journalisten anvertrauen. Doch es passiert nichts. Ich starte auch über das regionale Facebool-Profil der Volksstimme und meinen Twitter-Account Aufrufe. Ich frage bei Parteien, Bekannten und guten Informanten. Nichts. Wochenlang nichts. Dann berichtet mir jemand, dass er eine Person kenne, die eine der zehn ist.

Die Frau sei aber sehr vorsichtig, zumal sie bei ihrer Vernehmung um Zurückhaltung gebeten worden sei. Es vergehen nochmals Tage. Ich versuche mit Angeboten (Abstimmung der Zitate) und Zusicherungen (Anonymität) Vertrauen aufzubauen. Am 27. Oktober ist es soweit - die Frau besucht mich abends in der Redaktion.

Was sie berichtet, macht mich fassungslos. Derjenige, der bei ihr als Bevollmächtigter eingetragen war, war der Frau selbst kein Begriff, ist aber in Stadt und Kreis eine politische Größe: Wolfgang Kühnel, CDU-Kreischef seit 1990, Vorsitzender der CDU-Kreistagsfraktion und Mitarbeiter des regionalen Bundestagsabgeordneten. Ein Stratege und Strippenzieher.

Ich umschreibe dies in meinem Text am 29. Oktober erst einmal, denn die Frau war nicht mehr ganz sattelfest, ob es wirklich die Vollmacht war. Dies, so dachte ich mir, wird in wenigen Wochen noch zeitig genug herauskommen.

Im Mittelpunkt des an dem Tage erschienenen Artikels stand ein anderes Thema, das in der Stadt einschlug. Meine Informantin war nämlich wenige Tage zuvor von einem jungen Mann aufgesucht worden, der sie an der Haustür fragte, ob er nicht ihre Wahlbenachrichtigung haben könne. Er wolle ihr gerne bei der Wahl helfen. Zudem gab er sich als Anhänger der Grünen aus. Dieser Vorfall gab ihr den letzten Stoß, doch mit mit mir zu reden.

Was passiert da in dieser Stadt? Klingelmännchen für Wahlbenachrichtigungen? Es durften nicht einmal zehn Prozent der Wahlberechtigten erneut abstimmen. Da muss doch eigentlich schon jemand sehr genau einzelne Briefwähler kennen...

Die Grünen stellen Strafanzeige, die Polizei lässt mitteilen, dass die 
Frau kein Einzelfall ist.

Dann schlagen die Strafermittler zu. Am Mittwoch 5. November - vier Tage vor der Wiederholung der Briefwahl - durchsucht sie Wohn- und Geschäftsräume von sechs Verdächtigen. Unbemerkt - den ersten Hinweis bekommen wir erst am nächsten Vormittag.

Dann ergeben die Recherchen aber sehr schnell, dass nicht nur Holger Gebhardts Arbeitsplatz und Wohnung im Visier standen, sondern auch die CDU-Kreisgeschäftsstelle, denn neben Kühnel gehört noch eine Mitarbeiterin zu den zwölf Bevollmächtigten.

Die Nachricht löst ein politisches Beben in der Stadt aus. Kühnel reagiert schnell. Am Donnerstagabend verkündet er, dass Holger Gebhardt seinen Parteiaustritt erklärt habe, sein Stadtratsmandat niederlege und seinen Nebenjob als Sekretär der Kreistagsfraktion kündige. Ein Schuldeingeständnis sei dies aber nicht. Er selbst wolle sich als Beschuldigter in dem Verfahren auf Anraten seines Anwaltes nicht näher äußern.

Bei der Wahl am 9. November schafft es Holger Gebhardt auch nicht mehr in den Stadtrat, er bekommt nur noch 97 Stimmen statt der 689. Die CDU büßt bei der Briefwahl im Vergleich zum Mai neun Prozentpunkte ein, hält aber ihre 16 Sitze, da sie sich im Gesamtergebnis nur um einen Prozentpunkt verschlechtert.

Vier Tage vor der Wiederholung der Briefwahl wird klar, dass nicht nur zu viele Wahlunterlagen an Bevollmächtigte abgeben wurden, sondern ein größerer Teil davon auch noch gefälscht sein müssen. Dies für den neuen Wahlgang sauber zu trennen, gelingt in der verbleibenden Zeit nicht mehr. Die Wiederholung der Briefwahl wird daraufhin Ende Januar vom Stadtrat für ungültig erklärt, am 21. Juni muss daher eine komplette Neuwahl des Stadtrates anberaumt werden.

Deutlich wird in diesen November-Tagen, was Holger Gebhardt jetzt vorgeworfen wird: Als Mitarbeiter des Jobcenters soll er Unterschriften seiner Klientel besorgt haben, die dann für die Vollmachten gefälscht wurden.

Das Jobcenter reagiert umgehend mit Hausverbot. Gebhardt war von der Stadt eingestellt und für die Aufgabe delegiert worden. Das Rathaus kündigt ihm fristlos. Vor dem Arbeitsgericht einigen sich beide Seiten auf einen Vertragsauflösung zum 30. November 2014. Auch Gebhardts Lebensgefährtin, die eine der zwölf Bevollmächtigten ist, wird wenig später von der Stadt gekündigt.

Jetzt liegen einige Puzzleteile mehr vor. Nicht - wie zunächst vermutet- in Altenheimen sind Stimmen gesammelt worden, sondern unter Ausnutzung von Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Ob man wohl dachte, dass diese nicht wählen gehen? Zehn haben dies jedoch getan.

Drei davon habe ich inzwischen kennengelernt. Diese drei stehen mitten im Leben, interessieren sich für Politik, wissen darüber durchaus Bescheid und reden mit. Nur: Sie lesen keine Tageszeitung. Sie nutzen auch nur sehr begrenzt unsere mobilen Angebote. Ich konnte sie also gar nicht oder nur durch glückliche oder gar zufällige Umstände erreichen.

Ein solcher ereignete sich am Abend des 7. Januar 2015: Da fragte jemand auf Twitter, wie denn die Volksstimme immer an ihre Informationen komme. Ich antwortete allgemein und es gab einen kurzen Dialog, bis ich merkte, mit wem ich da schrieb: Jener Mann, der im Sommer die Fälschung bei der Stadt angezeigt hatte.

Ich wechselte in den Modus auf persönliche Nachricht. Nach zwei längeren Abenden bis nach Mitternacht und mehr als 200 Tweets hatte sich eine neue Dimension des Wahlskandals aufgeblättert. Jener Stendaler, den wir Siegfried S. nennen, hatte am Wahltag im Stadthaus die angebliche Vollmacht gezeigt bekommen und nach seinen Angaben deutlich die Fälschung bezeichnet. Diese Information hat der Wahlleiter seinen Angaben nach aber nicht erhalten.

Durch Siegfried S. werden auch einige Zeitschienen klarer: Dass es mindestens eine Fälschung gab, war im Stendaler Rathaus 48 Stunden vor der Sitzung des Kreistages im Juni klar, denn er hatte dem Stadtwahlleiter am 1. Juli diese Information gemailt - nachdem er durch einen Zufall einen Artikel über die Verwaltungspanne gelesen hatte.

Im Kreistag sitzt auch Oberbürgermeister Klaus Schmotz. Er erklärt Ende Januar, am 3. Juli um 18.40 Uhr per Mail von seinem Büroleiter über die eidesstattliche Versicherung der Fälschung informiert worden zu sein - wenige Minuten nachdem der Kreistag die Wahl für gültig erklärt hatte.

Was Siegfried S. der Volksstimme über diesen 3. Juli noch berichtet, löst eine weitere Strafanzeige des Stadtwahlleiters aus: S. bekommt nämlich an dem Abend an der Wohnungstür Besuch von zwei jungen Frauen. Sie bitten ihn, doch von seiner Aussage zurückzutreten, er würde den Bevollmächtigten nicht kennen. Wer hat diese beiden geschickt? Wer wusste von der Aussage im Rathaus? Wer war hier der "Maulwurf"?

Auch hier ermittelt die Staatsanwaltschaft. Dass Holger Gebhardt ein Einzeltäter gewesen sein soll, behauptet inzwischen keiner mehr. Wie viele an den Fälschungen beteiligt waren und wie groß deren gesamtes Ausmaß ist, wird erst in den nächsten Monaten deutlich werden - weit nach der Stadtratswahl vom 21. Juni.

Das Innenministerium will einen neuen "Fall Stendal" verhindern und plant Änderungen bei der Kommunalwahlordnung. Künftig soll verbindlich vorgeschrieben werden, dass Bevollmächtigte auf der Wahlbenachrichtigungskarte erklären, dass sie nicht mehr als vier Vollmachten einreichen. Zudem sollen in den Rathäusern Bevollmächtigtenverzeichnisse eingeführt werden.