Financial Times Deutschland, 22.11.2002

von Sonia SHINDE

Lücken im System

Der Rock war kurz, der Mund rot, das Angebot verführerisch: Zahnarzt Michael Pohlmann* sollte reich werden. Die junge Frau, Typ Barbiepuppe, stand an einem kalten Februartag unangemeldet in seiner Praxis. Bis zu 240 Euro zusätzlichen Profit versprach sie dem Arzt für jedes Gebiss, das er über ihren Arbeitgeber beziehen würde.

Hunderten Dentalmedizinern fühlte die Dame in ähnlicher Weise auf den Zahn, ob sie bei einem einträglichen Betrugsgeschäft mitmachen wollen. Signalisierten die Ärzte Interesse, kam wenig später der Regionalleiter der Mülheimer Dentalhandelsgesellschaft Globudent vorbei und machte den Deal perfekt. Die Firma importierte aus China billige Gebisse, Brücken und Kronen und rechnete nach durchschnittlich fünfmal so hohen deutschen Preisen ab. Die Differenz teilte sich Globudent mit den Zahnärzten. Der Händler verdiente prima, die Dentisten blendend. Die Krankenkassen wurden abgezockt.

Jetzt ist der Schwindel aufgeflogen. Bundesweit wurden am Mittwoch Dentalhandelsfirmen, Arztpraxen und Wohnungen durchsucht. Vier Personen wurden festgenommen. Der Schaden beläuft sich nach Schätzungen der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) auf mindestens 50 Mio. Euro - der größte Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen der Nachkriegszeit. Die Summe wäre dreimal so hoch wie beim so genannten Herzklappen-Skandal vor acht Jahren. Damals hatten bestechliche Krankenhausärzte auf Kassenkosten überteuerte Herzklappen eingekauft und selbst davon profitiert.

Wie so häufig im Gesundheitswesen wurde auch der neue Abrechnungsskandal durch Fehler im System begünstigt. Weder die Patienten noch die Kassen können kontrollieren, was Zahnärzte tatsächlich einbauen. Gebohrt und gebosselt wird auf Treu und Glauben. "Es ist nicht so, dass das System Lücken hat", sagt Christopher Hermann vom Vorstand der AOK Baden-Württemberg. "Das System ist die Lücke."

Wer es darauf anlegt, Rechnungen zu fälschen, dem kommt die indirekte, umständliche Abrechnungsprozedur sehr entgegen. Das Zahntechniklabor oder der Dentalhändler schicken ihre Rechnung an den Zahnarzt, der sie mit seiner eigenen an die Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZV) weiterreicht. Die KZV begleicht die Rechnungen, die ganz zuletzt die Kassen auf den Tisch bekommen. Kontrollen? Fehlanzeige.

"Wir können der Rechnung nicht entnehmen, ob Firmen wie Globudent den Zahnärzten Rabatte gewähren oder nicht", sagt Elke Damann von der Barmer Ersatzkasse. Allein die Barmer kommt jedes Jahr für 1,5 Millionen Fälle von Zahnersatz auf. Da müssen sich Gauner in Weiß schon ausgesprochen dumm anstellen, wenn sie ertappt werden wollen.

Viele Dentisten, die es auf einen Betrug mit Chinagebissen anlegen, können kinderleicht verschleiern, dass sie Importware einsetzen. Rund 40 Prozent aller Zahnärzte, so die Kassen, haben ihr eigenes Dentallabor. Sie rechnen stets mit sich selbst ab. Bei krimineller Energie beziehen sie die Lieferung - beispielsweise von Globudent - über ihr Labor. Dieses stellt dann eine eigene Rechnung aus, die der Zahnarzt weiterreicht. "In diesem Fall taucht Globudent noch nicht mal in der Rechnung auf", sagt Damann.

"Zahnärzte werden so gut wie gar nicht kontrolliert", moniert Thomas Isenberg, Gesundheitsexperte beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Allein in den letzten beiden Jahren habe es mehrere Dutzend Fälle gegeben, bei denen Mediziner Rechnungen für Zahnersatz ausgestellt und die Kosten für die Dentallabore nach oben manipuliert hätten. "Im Prinzip müsste jeder Patient eine Kopie der Labor-Rechnung anfordern", so Isenberg.

Ein weiteres Einfallstor für Betrüger ist die überaus intransparente Gebührenordnung. Jeder Leistung hat eine Gebührenordnungsziffer und außerdem einen Bemessungsfaktor. Zahnärzte können selbst entscheiden, ob sie unter "erschwerten Bedingungen" Löcher stopfen müssen, etwa beim Präparieren unter der Lupe. Dann dürfen sie eine höher dotierte Gebührenordnungsziffer beziehungsweise einen höheren Bemessungsfaktor ansetzen.

Eine Studie der Barmer Ersatzkasse weist nach, dass bei privat mit den Patienten vereinbaren Zusatzleistungen die Hälfte aller Fälle "medizinisch nicht notwendig oder nicht sinnvoll" waren und zudem überhöhte Gebühren berechnet wurden.

Auch eine Kontrolle von Diagnose und Therapie findet Gesundheitsexperte Isenberg zufolge nicht statt. So wurden einem Patienten, der für das Institut für angewandte Verbraucherforschung in Köln bei zehn verschiedenen Zahnärzten vorstellig wurde, Heil- und Kostenpläne mit einer durchschnittlichen Differenz von 800 Euro angeboten. "Es ging sogar so weit, dass die Zahnärzte sich noch nicht einmal in ihren Befunden einig waren, welche Zähne überkront werden müssten, geschweige denn wie viele."

Und die Krankenkassen? "Die können da nur Plausibilitätsprüfungen machen", so Isenberg. Die China-Connection flog nur deshalb auf, weil ein Zahnarzt die Firma Globudent bei der AOK Niedersachsen angeschwärzt hatte. Dort arbeitet seit 1998 eine spezielle Gruppe von Ermittlern, die mit dem Juristen Peter Scherler an der Spitze Abrechnungsbetrügereien nachgehen. Sechs weitere AOKs sind dem niedersächsischen Beispiel seither gefolgt und fahnden mit eigenen Mannschaften nach schwarzen Schafen in der Gesundheitsbranche.

Der Aufwand macht sich bezahlt. Allein im letzten Jahr hat Scherlers Truppe rund 4 Mio. Euro von betrügerischen Ärzten, Krankengymnasten, Apothekern und anderen Gesundheitsdienstleistern eingetrieben. "Und in diesem Jahr werden wir über die 5-Mio.-Euro-Grenze kommen", schätzt er.

Die Recherchen gestalten sich oft mühsam. Erste Hinweise können unter anderem Umsätze sein, die weit über dem Durchschnitt dessen liegen, was Ärzte derselben Fachgruppe oder vergleichbare Dienstleister verdienen. Bei vermutetem Rezeptschwindel hilft der Computer beim Datenabgleich, genauso wie bei großen Zeitabständen zwischen dem Einlesen der Patientenkarte und dem Behandlungsbeginn.

In vielen Fällen hilft nur Kommissar Zufall oder ein ehrlicher Kollege oder Untergebener mit einem Tipp. "Und dann führen wir Gespräche", sagt Scherler. Oft dauert es Monate, bis sich die Puzzleteile zu einem kompletten Betrugsraster zusammenfügen. Dann stehen Scherler und seine Mitstreiter auch schon einmal unangemeldet auf der Matte und lassen sich die Leistungsnachweise zeigen.

Unterschreiben die Delinquenten ein "Schuldanerkenntnis" und machen den Schaden wieder gut, landet der Fall nicht immer bei der Justiz, "Das hängt aber auch von der Schwere und der Schadenshöhe ab", sagt Scherler, "kaufen lassen wir uns nicht."

Schon einmal hatte die Medizinerzunft mit Betrügereien im großen Stil den weißen Kittel besudelt. Im so genannten Herzklappen-Skandal, der 1994 aufflog und die Gerichte bis Februar diesen Jahres beschäftigte, hatte die Staatsanwaltschaft gegen 1860 Chefärzte und Techniker in 418 Kliniken Ermittlungen eingeleitet. Sie standen unter Verdacht, von Lieferanten Produkte zu drastisch überhöhten Preisen abgenommen und im Gegenzug einen "Bonus" von 500 bis 1000 DM für jede Herzklappe kassiert zu haben.

Das System war simpel: Die Ärzte konnten die Höhe der Bonuszahlungen über die Bestellmenge selbst steuern und über den Verwendungszweck des "Kick-back" frei bestimmen. Manche leisteten sich mit dem Schmiergeld Luxusreisen, andere Geräte für die eigene Praxis oder ihr Krankenhaus. Ein Münchner Chefarzt ließ die Feier zu seiner Antrittsvorlesung von Feinkost Käfer bewirten.

Die juristische Aufarbeitung der bis dahin größten Medizinkorruption der Nachkriegsgeschichte blieb für die Ermittler äußerst unbefriedigend. Zwar wurden 80 Prozent der Firmenvertreter verurteilt, 80 Prozent der Ermittlungsverfahren gegen Ärzte wurden indes eingestellt.

Nur wenige Mediziner bekamen Haftstrafen aufgebrummt, viele beglichen ihre Schuld durch Zahlung eines Strafbefehls. Letztlich kamen die Bestochenen besser weg als die Bestecher, weil die Fahnder auf ein oft undurchdringliches Schweigekartell stießen. "Die Ermittlungen bei den Ärzten waren schwieriger, weil Korruption nur bei Amts- und Entscheidungsträgern strafbar ist", sagt Oberstaatsanwalt Herbert Mühlhausen. Hunderte von Assistenzärzten kamen mit dem Schrecken davon.

Darauf dürfen ertappte Zahnärzte jetzt nicht bauen. Gegen sie wird nicht wegen Korruption, sondern wegen Betrugs ermittelt werden. Bei den Durchsuchungen vom Mittwoch haben die Fahnder Belege für Globudent-Provisionen an Zahnärzte gefunden. Einige Mediziner sollen schon gestanden haben, Bargeld angenommen zu haben. Staatsanwalt Mühlhausen: "Der Verdacht hat sich erhärtet."