Wie die Geschichte entstand - das Making-of

 

von Christian DENSO

Kummerfeld - bereits der Name der 2000-Seelen-Gemeinde im Nordwesten Hamburgs ist geeignet, zwiespältige Assoziationen hervorzurufen. Als „liebevollen Sorgenacker“ bezeichnen die Kummerfelder ihren Ort auf der offiziellen Homepage. In dem ehemaligen Bauerndorf stehen die Zeichen auf Erneuerung. Moderne Einfamilienhäuser für vermögende Stadt-Flüchtlinge sprießen wie Pilze aus dem Boden, alte Bauernhäuser müssen dafür weichen. Unmittelbar an der Hauptstraße jedoch gibt es in bester Ortslage eine große Freifläche. Kahl geräumt und gerodet und besiedelt nur mit einer baufälligen Kate. Wie geschaffen für die nächste Neubausiedlung.

Die Kate aber steht noch heute. Ihre Geschichte ist die Geschichte von Thea Schädlich und dem Kampf der 69-Jährigen um dieses kleine Haus, das 7500-Quadratmeter-Areal und damit letztlich auch um ihre Würde. Ein Krimi um eine Rentnerin, die auf Betreiben von Behörden unter Betreuung gestellt wurde. Deren damalige Betreuer es sich aber lieber einfach machten, statt den Willen der Betreuten so weit es geht zu respektieren. Und es ist die Geschichte von bis heute etwa 50 Berichten, Reportagen und Interviews, zunächst in der Pinneberger Zeitung, einer Regionalausgabe des Hamburger Abendblatts, dann im Abendblatt selbst. Eines Themas, das zunächst klein begann, aber schnell immer größer wurde. So groß, dass andere Medien wie „Der Spiegel“ nicht nur über Thea Schädlich zu berichten begannen, sondern auch über das Abendblatt und seine Recherchen, wie die „Süddeutsche Zeitung“ auf ihrer Medienseite.


„Der Fall der alten Dame“ - so, wie im Frühjahr 2006, als wir von Gerichten auf Betreiben der Betreuer zeitweise gezwungen waren, nur anonymisiert zu berichten, so nennen wir das Thema noch heute, da längst klar geworden ist, dass die 69-Jährige nur eine von Dutzenden, vielleicht Hunderten von Beispielen ist, die zeigen, dass trotz aller Verbesserungsversuche einiges schief läuft bei der rechtlichen Betreuung von zumeist alten Menschen in Deutschland. Vor allem dann, wenn Berufsbetreuer zum Einsatz kommen, die bis dahin keine Beziehung zu den Betreuten hatten.

Besuch der Alten Dame

Am 8. Februar 2006, einem kalten Wintertag, stand Thea Schädlich plötzlich vor dem Schreibtisch von Redakteurin Marion Girke in der Pinneberger Zeitung. Sie trug einen nicht mehr ganz neuen blauen Anorak und zog einen „Hackenporsche“ voller Habseligkeiten hinter sich her, dessen Räder auf dem Fußboden vom Schnee nasse Spuren hinterließen. „Thea Schädlich erzählte eine schier unglaubliche Geschichte“, erinnert sich die Reporterin: „Dass man sie für verrückt erklärt habe, dass sie ihr Grundstück nicht mehr betreten dürfe, weil der Bürgermeister sie immer wegjage und dass die Gemeinde ihr das Grundstück weggenommen habe mit Hilfe von Betreuern, die sie selbst nur ein paar Mal gesehen habe.“

Die Gemeinde, so stellte sich heraus, wollte ihr das Filetstück im Herzen von Kummerfeld schon vor Jahren abkaufen, um die Lücke zwischen zwei Wohnsiedlungen schließen zu können. Bürgermeister Hanns-Jürgen Bohland (CDU) gelang es nicht, Thea Schädlich zum Verkauf zu bewegen. Die Rentnerin hing an dem Grundstück, das sie von einem früheren Verehrer kurz vor dessen Tod geschenkt bekommen hatte. Sorgfältig hütete sie dort nach einer ihr eigenen Ordnung - andere mögen es Unordnung nennen - ihre Schätze und versorgte ihre Katzen.

Auf Anregung der für Kummerfeld zuständigen Verwaltung wurde Thea Schädlich im Juli 2004 wegen eines vermeintlichen Vermüllungs-Syndroms unter Betreuung gestellt. Die Art und Weise, wie die Rentnerin Baumaterialien und den im Laufe ihres Lebens immens angewachsenen Hausstand unter Planen auf dem Areal verwahrte, war ein Dorn im Auge der zuständigen Behörden. Nachbarn hingegen störten die Sachen weniger, zumal etliche von ihnen die etwas schrullige Dame mit ihren Katzen mochten. Im November 2005 verkauften ihre ehemaligen Betreuer das Grundstück an die Gemeinde gegen den Willen der Rentnerin und 30 000 Euro unter dem auf rund 370 000 Euro geschätzten Verkehrswert.


Es dauerte Stunden, bis Thea Schädlich an jenem Nachmittag ihre Geschichte in der Redaktion der Pinneberger Zeitung erzählt hatte. Aus ihrem fahrbaren Rucksack förderte sie wertvolle Kacheln und Porzellan hervor, um zu zeigen, dass sie keine Sammlerin von wertlosem Müll war. „Ich schwankte zwischen Ungläubigkeit und Entsetzen“, sagt Marion Girke. Konnte in unserem Rechtsstaat etwas so derartig schief laufen? Oder fühlte sich mal wieder jemand unnötigerweise von Gott und der Welt verfolgt? Girke: „Schon beim ersten Treffen mit ihrem Anwalt wurde klar: Die Fakten stimmten, die Akten belegten Thea Schädlichs Geschichte.“

Bereichert sich ein Dorf auf ihre Kosten?

Mit dieser Schlagzeile berichtete die Pinneberger Zeitung am 16. Februar vergangenen Jahres erstmals über den Fall. Die Gemeinde Kummerfeld reagierte überrascht, dass jemand nachhakte. „Darf die sich überhaupt einen Anwalt nehmen, die hat doch Betreuer?“, fragte der um eine Stellungsnahme gebetene Bürgermeister zurück. Das Leserecho war gewaltig. „Lassen Sie sich nicht entmutigen, machen Sie weiter so!“, lautete die Aufforderung an die Redaktion.


Schon bald holten Thea Schädlichs Betreuer zum juristischen Schlag aus. Sie wollten jegliche weitere Berichterstattung verhindern, „zum Schutz der Betroffenen“. Einer der Betreuer, ein Anwalt, setzte mit einer einstweiligen Verfügung des Berliner Landgerichts durch, dass der Verlag nicht mehr identifizierend über den Fall berichten durfte. Es durften weder der Name Thea Schädlichs, noch diejenigen der Betreuer genannt werden, nicht einmal der Ort des Geschehens durfte als Kummerfeld näher eingegrenzt werden. Absurde Folgen: Die Ortsangabe vor einem Bericht über eine Gemeinderatssitzung in Kummerfeld lautete: „Irgendwo“. In einem Interview mit dem Bürgermeister durften ebenfalls weder sein Namen noch der Ort genannt werden.

Rückendeckung durch Verlag und Chefredaktion

In dieser Zeit fiel wohl die für die Reporter wichtigste Entscheidung: Sie bekamen jene Rückendeckung von Verlag und Chefredaktion, die für derartige investigative Geschichten unverzichtbar ist.

Herausgefordert durch diesen „Maulkorb“, entschied Chefredakteur Menso Heyl, nicht klein beizugeben. Sondern, im Gegenteil, selbst in die Offensive zu gehen, auch, wenn das eventuell für den Verlag nicht billig werden würde. „Wenn wir uns an dieser Stelle nicht gewehrt hätten, dann könnte künftig von denen, die clevere Anwälte bezahlen können, letztlich bestimmt werden, was in der Zeitung stehen darf und was nicht“, begründet Heyl die damalige Entscheidung.

Die Chance anderer, ohne Einsatz von Anwälten in der Zeitung einen Vertreter ihrer Interessen zu finden, würde dagegen gegen Null sinken.


Mit Rolf Schultz-Süchting wurde ein bekannter Hamburger Anwalt zur Unterstützung unserer Justiziarin Andrea Deters hinzugezogen. Marion Girke bekam mit dem Polizeireporter Christian Denso einen Kollegen an die Seite gestellt, der fortan in der Zentralredaktion des Abenblatts die Fäden zusammen hielt und etwa die Texte vor Abdruck mit den Juristen abstimmte.

Heute, im Nachhinein, ist der erste Bericht im Hauptblatt, die Seite Drei vom 24. März 2006, geradezu ein Sinnbild: Wir schreckten nicht davor zurück, unsere Reportageseite durch einige Dutzend Schwärzungen im Text zu verunstalten, zudem ein Foto von Thea Schädlich zu drucken, das komplett gepixelt und damit unkenntlich gemacht war: Der für jeden somit sichtbar gemachte „Maulkorb“! Ein Wagnis, das uns die Leser dankten, indem sie wieder zum Weitermachen aufforderten: Unzählige Briefe und Anrufe, teilweise mit ähnlichen Schicksalen.

Der Fall Thea Schädlich: kein Einzelfall

Wir hatten, das wurde spätestens jetzt klar, bislang nur die berühmte „Spitze des Eisbergs“ gesehen. Immer mehr Menschen werden angesichts der Überalterung unserer Gesellschaft in den nächsten Jahren wohl auch unter Betreuung gestellt. Eine Entwicklung, mit der die Justiz, die diese Betreuer kontrollieren soll, schlicht nicht mithalten kann. Trotz der Verbesserung des Betreuungsrechts erst vor einigen Jahren. Christian Denso: „Die Kernfrage des Falles war für mich: Wie viel Würde, wie viel freien Willen wollen wir Menschen wie Thea Schädlich zugestehen, die vielleicht nicht in jedes DIN-Format passen, aber ganz bestimmt noch genau wissen, was sie möchten?“


Aus Thea Schädlich wurde damals übrigens wegen der vom Gericht geforderten Anonymisierung notgedrungen „die alte Dame“. Eine Wendung, die wir als Ehrentitel gedacht hatten, gegen die aber nicht nur die 69-Jährige empört protestierte („Ich bin doch nicht alt!“), sondern auch mancher Leser.

Ungeachtet der juristischen Gegenwehr, stellten wir den Fall auf eine noch breitere Basis: Abendblatt-Chefredakteur Menso Heyl kommentierte mehrfach („Betreut bis zum bitteren Ende“), Christian Denso, Marion Girke und weitere Kollegen recherchierten ähnliche Fälle. Zudem analysierten wir im Gespräch mit Experten Missstände im Betreuungsrecht in Hamburg: „Bis zu 1000 Fälle pro Richter - ist das noch Fürsorge?“, lautete die Schlagzeile. Bei einer Telefonaktion, bei der Experten Leserfragen beantworteten, erreichten uns sogar Anfragen aus Süddeutschland, wenn die Anrufer denn eine freie Leitung erwischten. Die Bürgerschaft in Hamburg und der Landtag in Kiel befassten sich mit dem Thema.

Die Geschichte der „alten Dame“ zog sich weiter als roter Faden für eklatante Missstände im Betreuungsrecht durch unsere Berichterstattung. Vom Abtransport des vermeintlichen Mülls und der Rodung des Areals in Kummerfeld etwa profitierte eine kommunale Entsorgungsfirma. Veranschlagt wurden dafür Kosten, die etwa einem Einfamilienhaus in Hamburg entsprechen. Für die Reporter des Abendblattes war die Situation teilweise absurd. „Vor uns stand Thea Schädlich und bestand darauf, dass jedes Detail ihrer weiterhin stets bereitwillig erzählten Geschichte veröffentlicht werden sollte“, sagt Marion Girke: "“Und gleichzeitig versuchten die eigentlich ihrem Wohl und Willen verpflichteten Betreuer, genau dies zu verhindern – und das auch noch in ihrem Namen.“ Thea Schädlich gegen die Axel Springer AG – so lautete der Anschlag vor dem Gerichtssaal bei den jeweiligen Prozessterminen – verkehrte Welt.

Von Anfang an war Thea Schädlich damit einverstanden gewesen, ihren Fall mit Fotos von sich und ihrem vollen Namen rückhaltlos öffentlich zu machen. Dieser persönlichen Einsatzbereitschaft verdankt die Geschichte ihren außerordentlich hohen Grad an Authentizität - für die Leser buchstäblich ein Fall zum „Anfassen“. Thea Schädlich war in ihrem Umkreis mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund.

Am Gründonnerstag, 13. April 2006, hob die für Presserecht zuständige Kammer des Landgerichts Berlin schließlich die einstweilige Verfügung so wieder auf, dass wir fortan wieder (fast) ganz frei berichten durften. Bis heute aber sind diverse Details mit Unterlassungserklärungen belegt. Zwei Mal mussten wir Gegendarstellungen zu Nebensächlichkeiten abdrucken.

Der Grundstücksverkauf muss wieder rückabgewickelt werden

Marion Girke: „Als Reporterin hat mich die Recherche auch persönlich in irritierender Weise an Grenzen der Zulässigkeit staatlichen Handeln geführt. Als die alte Dame und ich vor gut einem Jahr erstmals gemeinsam ihr ehemaliges Grundstück besichtigten, wurden wir von einem Polizisten verfolgt, obwohl wir das Gelände nicht einmal betreten hatten. Die Gemeinde als neue Eigentümerin ließ das Areal unter polizeilicher Aufsicht räumen und roden, und der Beamte fuhr uns noch hinterher, als wir mit dem Wagen schon wieder ein ganzes Stück entfernt waren.“

Inzwischen hat sich der Fall Thea Schädlich zum Guten gewendet - wohl nur, weil er öffentlich gemacht und derart mit Nachdruck verfolgt wurde. Der Kaufvertrag mit der Gemeinde ist für ungültig erklärt worden, die 69-Jährige kann das Grundstück zurück verlangen. Ihre ehemaligen Betreuer sind gegen Menschen ausgetauscht worden, die den Willen der Rentnerin respektieren.

Die Verantwortlichen in der Gemeinde, ob Bürgermeister, ob innerörtliche Opposition, ob Gemeinderat, sind sich wie die ehemaligen Betreuer bis heute keiner moralischen Schuld bewusst. Mittlerweile begnügt sich der Bürgermeister mit dem stereotyp wiederholten Satz: „Die Gemeinde wird sich an Recht und Gesetz halten.“