So entstanden die beiden Geschichten

Von Philip EPPELSHEIM

GRUNDSCHULE DÜNSEN

Jasper von Altenbockum, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verantwortlich für politische Nachrichten, bat mich, über das Schulsterben in Deutschland zu berichten. 1992 gab es in Deutschland 43878 allgemeinbildende Schulen. Im Schuljahr 2006/2007 waren es 36305, im Schuljahr 2007/2008 35566. Die Idee war, eine Schule zu suchen, die gerade geschlossen wird und zu recherchieren, welche Gründe, welche Folgen und welche Bedeutung die Schließung dieser Schule hat – gerade in ländlichen Regionen. Die Frage, die sich mir zudem stellte, war, ob das Schulsterben wirklich immer nur durch sinkende Schülerzahlen ausgelöst wird: im Schuljahr 2007/2008 besuchten rund 2,9 Millionen Schüler allgemeinbildende Schulen. Das waren 157 000 weniger als im Vorjahr.

Ich begann mit den Recherchen, indem ich zunächst Kontakt mit verschiedenen Kultusministerien aufnahm und mich nach aktuellen Schulschließungsplänen in den jeweiligen Bundesländern erkundigte. Allerdings erhielt ich nur ausweichende Antworten, nie eine konkrete Angabe. Ich recherchierte daraufhin im Internet und stieß dabei auf Berichte niedersächsischer Lokalzeitungen (Kreiszeitung, Nordwest-Zeitung, Weserkurier), die über eine kleine Grundschule in der Ortschaft Dünsen berichteten. Es ging um Holzschädlinge, die das Dach befallen hatten, um 65000 Euro Kosten für ein neues Dach und um Vorschläge einiger kommunaler Politiker, sich angesichts dieser Lage die Schulentwicklungszahlen anschauen zu müssen.

Immer mehr Details kamen von Tag zu Tag hinzu: Dass es schon 1993 ein Gutachten gegeben hatte, das auf Holzschädlinge aufmerksam gemacht hatte, dass der Samtgemeindeausschuss darüber nachdachte, die Grundschule zu schließen, nicht zuletzt wegen einer „Haushaltsmisere“. Am 14. Dezember 2007 beantragte die CDU-Fraktion, keine Sanierungsarbeiten an der Grundschule durchzuführen. Angesichts sinkender Schülerzahlen sei die Schließung der Schule zu überlegenAuf der Internetseite der Grundschule war das Schulgebäude zu sehen. Ein kleiner roter Klinkerbau. „Unsere Schule soll leben“, stand auf der Seite. Schüler hatten ein Lied verfasst:

Lasst unsere Schule stehn, sie ist doch gut,
keiner hat was dagegen, außer die Politik.
Wir Kinder wollen dass sie bleibt,
deswegen kämpfen wir um ihren Verbleib.
Unsere Zukunft hängt davon ab.
Hier haben wir vieles gelernt,
das was wichtig ist für unser Leben,
von eins bis zwei, von A bis Z.
Deswegen singen wir dieses Lied,
damit die Schule erhalten bleibt.
So wie sie heute ist, ist sie doch gut.
Wir wollen dass sie für immer bleibt.


Ich nahm mit der Schulleiterin Gabi Chapus Kontakt auf. Sie erzählte mir, von den Plänen einiger Politiker, die Schule zu schließen und äußerte Zweifel, dass es hier wirklich um die Kosten der Sanierung oder um sinkende Schülerzahlen gehe. Nach diesem Gespräch vereinbarte ich einen Termin mit ihr und mit Politikern der Fraktionen aus der Samtgemeinde, mit dem Samtgemeindebürgermeister von Harpstedt, Uwe Cordes, und dem Bürgermeister von Dünsen und CDU-Vorsitzenden Hartmut Post. Während die Befürworter der Schulschließung hauptsächlich auf die Kosten und die sinkenden Schülerzahlen hinwiesen, sprachen die Befürworter der kleinen Grundschule mit ihren 59 Schülern und sechs Lehrkräften von persönlichen Gründen und alten Fehden.

Ich besuchte daraufhin die Grundschule in Dünsen, um mir die Schule und das Dorf anzusehen und mehr darüber zu erfahren, was die wirklichen Gründe für die geplante Schließung sein könnten. Ich kam in ein zersiedeltes Dorf mit knapp 1300 Einwohnern. Früher gab es hier ein 150 Hektar großes Übungsgelände der Bundeswehr und anderer Nato-Truppen, zwei Gewerbebetriebe sind in Dünsen ansässig, ein Landhaus, ein Landhaushotel, drei Vereine (Sportverein, Schützenverein und Heimatverein) und eben die kleine seit 1867 existierende Grundschule am Rande der Ortschaft.

Frau Chapus erzählte mir von den Streitigkeiten, die die acht Dörfer Harpstedt, Beckeln, Colnrade, Dünsen, Groß Ippener, Kirchseelte, Prinzhöfte und Winkelsett hatten und haben, seit während der kommunalen Gebietsreform zwischen 1965 und 1974 aus den acht Dörfern die Samtgemeinde Harpstedt wurde. Damals schlossen die Dorfschulen, nur die Dünsenser behielten ihre Schule.

In der Grundschule stapelten sich Protestschilder, die die Eltern gebastelt hatten. Es wurde immer deutlicher, wie wichtig die Schule für die Dünsener ist, dass sie weit mehr als „nur“ ein Ort der Bildung ist, sondern ein Mittelpunkt des Dorfes, an dem man sich trifft. Der CDU-Vorsitzende Hartmut Post bekräftigte diesen Eindruck. Er kämpfte gegen den Entschluss seiner Fraktion, weil er selbst einmal wegen der Grundschule nach Dünsen gezogen war. Mehr habe das Dorf eigentlich auch nicht zu bieten.

Wie weit die Fehden der Dörfer gingen, wurde mir klar, als ich erfuhr, dass jeden Morgen die Kinder aus Kirchseelte mit dem Schulbus an der Dünsener Grundschule vorbeifuhren – fünf Kilometer weiter bis nach Harpstedt. Doch die Gegner der Schule verwiesen weiter auf die Prognose sinkender Schülerzahlen in den nächsten Jahren. Immer wieder klang aber auch durch, dass es hier nicht nur um diese Zahlen ging: Die anderen Orte hätten die Schulschließungen schließlich auch überlebt, war immer wieder zu hören.

Die Dünsener Schulleiterin schaltete einen Rechtsanwalt ein, Eltern gründeten einen Förderverein für die Grundschule. Eltern, Lehrer, Dünsener kämpften gemeinsam um ihre Schule, wie sie es schon einmal getan hatten. Der ehemalige Schulleiter Wilfried Winkelmann erzählte mir, dass die Grundschule schon im Schulentwicklungsplan 1978 nicht mehr vorgesehen gewesen war.

Ich blieb weiterhin in Kontakt mit der Schule, den Eltern, Politikern und informierte mich über die Geschehnisse in Dünsen. Inzwischen war auch ein Erscheinungstermin meines Artikels vorgesehen. Er sollte einige Zeit vor der entscheidenden Sitzung des Schulausschusses des Gemeinderats erscheinen. Während eines Telefonats mit Frau Chapus erfuhr ich, dass der Termin vorverlegt worden war. So gelang es letztendlich doch noch, den Artikel am Tag der Sitzung zu veröffentlichen.

Der Harpstedter Samtgemeinderat sprach sich mit vierzehn Ja-Stimmen, neun Nein-Stimmen und einer Enthaltung für den Erhalt der Grundschule in Dünsen aus.

CLAUBERG GYMNASIUM

Kurz nach dem Erscheinen des Artikels über die Grundschule Dünsen, bat mich die politische Redaktion, mich weiter mit dem Thema Schulsterben zu beschäftigen. Der Fokus lag diesmal auf Schließungen von Gymnasien in Städten, denn laut Statistik waren die Schülerzahlen im Schuljahr 2007/2008 an Gymnasien (nur an Gymnasien) gestiegen. Wie also konnte an Gymnasien eine Schließung begründet werden, was waren die Ursachen?

Bei Recherchen wurde ich auf das Clauberg-Gymnasium im Duisburger Norden aufmerksam. Sein Schicksal war besiegelt. Es wurden keine neuen Schüler mehr aufgenommen, nur noch 300 Schüler besuchten die Schule. In der Vergangenheit war immer wieder über das Gymnasium in dem Problembezirk der Stadt geschrieben worden. „Abiturfach Türkisch in Duisburg“ als umstrittener Integrationsansatz stand im Fokus der Berichterstattung. Es wurde hervorgehoben, dass das Clauberg-Gymnasium „Schule ohne Rassismus“ sei, Unesco-Partnerschule, dass es Auffangklassen mit Deutschförderunterricht gebe.

Ich informierte mich darüber, warum das Gymnasium trotz dieser Projekte bis 2010 geschlossen werden sollte. Es hatten sich für das Schuljahr 2006/2007 nur 39 statt der geforderten 52 Schüler angemeldet. Die Bezirksregierung Düsseldorf hatte daraufhin die Bildung von Eingangsklassen untersagt. Die Anmeldezahl sei zu gering, hieß es in einem Brief an die Eltern. Und zudem habe eine Lehrstandserhebung „ein nicht schulkonformes Niveau der schulischen Leistungen“ festgestellt.
Daraufhin sprach ich mit Eltern, Schülern, Lehrern und der Schulpflegschaft am Clauberg-Gymnasium. Sie berichteten, dass die Schule einst eine Vorzeigeschule war, schnell aber als „Proletenschule“ und schließlich als „Türkenschule“ verschrien war. Sie erzählten, dass es 1998 schon einen Versuch gegeben habe, die Schule zu schließen, dass danach klar gewesen sei, dass das Gymnasium sich immer wieder neu bewähren müsste.

Die Lehrer sprachen von Fehlern, die in der Vergangenheit innerhalb des Kollegiums gemacht worden seien. Doch das war nicht der einzige Grund. Es ging hier auch um den Ruf der Schule. Hier ging es also, ebenso wie in Dünsen, nicht „nur“ um sinkende Schülerzahlen.