Frontal 21, 29.11.2005

von Jörg BRASE, Johannes HANO

"Verstoss gegen Grundrechte"

Frontal21: Herr Schulz, wenn sich die Vorwürfe gegen die USA und die betroffenen EU-Staaten erhärten sollten, wie werden Sie weiter vorgehen?

Schulz: Der Vorwurf der duldenden oder gar aktiven Beihilfe zur Folter oder zur Vorbereitung von Folter durch den Transport von Menschen zu Folterstätten ist ein schwerwiegender Verstoß gegen die Grundrechte-Charta der EU. Wenn er sich erhärtet, gibt es nach meinem Dafürhalten nur einen einzigen Weg, den wir als Fraktion gehen können: einen Untersuchungsausschuss im Europaparlament beantragen.

Frontal21: Was müsste der klären?

Schulz: Ob das zutrifft, was an Vorhalt da ist, nämlich, dass Mitgliedstaaten der Europäischen Union und deren Organe oder Organe der EU selbst einen aktiven Beitrag dazu geleistet haben, dass Folter ermöglicht wurde. Alle Staaten der EU haben eine Grundrechte-Charta feierlich proklamiert. Diese Grundrechte-Charta garantiert die Unverletzlichkeit der Person, garantiert die grundsätzlichen Menschenrechte, und alle EU-Staaten haben ja die Folterkonvention unterschrieben.
Das heißt, wenn da tatsächlich Flugzeuge mit Duldung von Mitgliedsstaaten landen konnten, in denen Opfer von späterer Folter gesessen haben, dann ist das ein klarer Verstoß gegen die Grundrechte-Charta und dann müssen wir dem nachgehen.

Frontal21: Die EU-Kommission hat sich in der Frage zurückgezogen - mit der Begründung, sie würde sich nicht zuständig fühlen. Die Vorwürfe müssten die Mitgliedsstaaten klären, weil nationales Recht betroffen sei. Ist das richtig?

Schulz: Nur bedingt. Natürlich ist es so, dass die Mitgliedsstaaten der EU, was die Überflug- und Landerechte angeht, in eigener Hoheit handeln. Aber ich wiederhole noch einmal, dass alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ihren Bürgern und den Bürgern, die sich auf ihrem Territorium befinden, Schutz vor Folter garantieren. Da mögen vielleicht Verfassungsjuristen eine andere Auffassung vertreten, das möchte ich nicht ausschließen, aber das kann man ja dann in einem Untersuchungsausschuss klären.

Frontal21: Es gibt den Vorwurf, dass in EU-Mitgliedsstaaten und in Kandidatenländern in Osteuropa so genannte Black Prisons, schwarze Gefängnisse, eingerichtet wurden. Sollte sich das bestätigen, was würde das für Länder wie Polen, Rumänien und Mazedonien bedeuten?

Schulz: Die Länder, die bereits Mitglieder der EU sind, die diese Grundrechte-Charta ratifiziert und proklamiert haben, unterscheiden sich in dieser Frage nicht von den Kandidatenländern, die in die EU rein wollen. Alle verpflichten sich auch im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zur Wahrung der Grundrechte, der unveräußerlichen Menschenrechte. Und dass es Folterkeller auf dem Boden der EU gibt, die gar noch von anderen Staaten unterhalten werden, dass das zu Sanktionen oder zumindest zu Untersuchungen führen muss, das erklärt sich von selbst. Denn auch Drittländer wie die Vereinigten Staaten von Amerika, in deren Grenzen selbst dieses Verhalten ja auch strafbar wäre, haben die Folterkonventionen unterschrieben.

Frattini: "Schwere Konsequenzen" 
EU-Justizkommissar Franco Frattini hat osteuropäischen Staaten ebenfalls mit schweren Konsequenzen gedroht, falls sie geheime US-Gefängnisse beherbergt haben. In diesem Fall müssten sich die Staaten darauf gefasst machen, dass ihr Stimmrecht im Ministerrat ausgesetzt werde, sagte Frattini bei einer internationalen Sicherheitskonferenz am Montag in Berlin. US-Geheimgefängnisse waren Medienberichten zufolge in Rumänien und im EU-Mitglied Polen eingerichtet worden.
Ich habe schon mit Bestürzung vernommen, dass offizielle Stellen der rumänischen Regierung den Vorgang für einen nebensächlichen oder nachrangigen erklärt haben. Da bin ich entschieden anderer Auffassung. Wenn Kandidatenländer wie Rumänien oder Mazedonien da aktive Beiträge leisten, wird man im Rahmen der Beitrittsverhandlungen darüber zu reden haben.

Frontal21: Was könnte das schlimmstenfalls bedeuten?

Schulz: Da kann man Ergebnissen nicht vorgreifen. Vor allen Dingen gilt ja, wenn man auf der Rechtsstaatlichkeit von Verfahren beharrt, umgekehrt auch, dass man sich selbst an rechtsstaatliche Normen hält. Bis dato sind es Tatverdachtsbeschreibungen. Damit man überhaupt aufklären kann - handelt es sich um einen Verdacht oder um eine reale Tatsache -, hat ja der Europarat bereits Dick Marty als Berichterstatter eingesetzt. Im Rahmen seiner Ermittlungen werden wir auch zu unseren Ergebnissen kommen müssen, ob es sich um tatsächliche Vorgänge handelt.
Nur die Tatsache, dass der Europarat bereits einen Berichterstatter benannt hat, zeigt ja, dass es doch schon über den Bereich einer ersten Vermutung hinausgeht. Erhärtet sich das, dann wird man darüber reden müssen, dass Staaten, die aktiven Beitrag zur Folter leisten, Bedingungen für einen Beitritt zu EU zumindest heute nicht erfüllen.

Ermittlungen:

Der Schweizer Dick Marty untersucht im Auftrag des Europarats, welche europäischen Staaten die CIA möglicherweise bei den Gefangenentransporten unterstützt oder sie geduldet haben. Er forderte bereits Satellitenaufnahmen und Daten zu Flugbewegungen an. Der Europarat reichte außerdem bei den EU-Regierungen Ermittlungsersuche ein.

Frontal21: Was soll konkret untersucht werden?

Schulz: Wir müssen im Europaparlament klären, inwieweit europäisches Recht berührt ist. Ich glaube, dass die Grundrechte-Charta der EU berührt ist. Dann müssten die Mitgliedsstaaten auch Auskunft erteilen an einen Ausschuss des Europaparlaments, beziehungsweise an den Berichterstatter des Europarats. Im Lichte dieser tatsächlichen Auskunftserteilung wird man bewerten können, ob es sich hier um Straftaten handelt, welche strafrechtlichen Konsequenzen gezogen werden müssen und welche internationalen politischen und diplomatischen Konsequenzen zu ziehen sind.

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