SZ-Berichte über Murat Kurnaz, 26.08.2006

von Nicolas RICHTER

Der verstoßene Sohn

Nach vier Jahren im Lager Guantanamo ist Murat Kurnaz wieder frei. Er ist aus illegaler Gefangenschaft zurückgekehrt, seine mutmaßliche Verwicklung in den Terrorismus ist in den USA gerichtlich widerlegt. Er lebt nun wieder in Bremen, seiner Heimat. Heimat, weil er dort geboren und aufgewachsen ist. Aber kann er sich auch wieder zu Hause fühlen? Das könnte ihm schwer fallen, falls er nachlesen sollte, wie die Bundesregierung und die Stadt Bremen mit ihm umgegangen sind. Die Behörden haben ihn lange behandelt wie einen gefährlichen Störenfried, der am besten draußen bleibt. Kurnaz ist ein verstoßener Sohn.

Als er in die Gewalt der Amerikaner geriet, verstand die rot-grüne Bundesregierung schnell, dass sie sich nicht aus der Affäre ziehen konnte. Kurnaz war und ist zwar Türke, doch seine Bindung an Deutschland ist so eng, dass er wie ein Deutscher zu behandeln ist. Die Bundesregierung hat sich deshalb zu Recht um konsularische Betreuung bemüht, was wiederum die USA zurückwiesen, weil Kurnaz eben kein Deutscher ist. Insofern war Deutschland in einer praktischen Lage: Berlin konnte großmütig Hilfe anbieten, die letztlich zu nichts verpflichtete.

Die wahre Befindlichkeit deutscher Sicherheitsexperten zeigte sich Ende 2002, als die USA anfragten, ob Kurnaz im Fall seiner Freilassung nach Deutschland zurückzuschicken sei. Die Verantwortlichen erkannten die Gefahr, einen Problemfall geliefert zu bekommen. Da waren sich Kanzleramt und Innenministerium schnell über die Formel von BND-Präsident August Hanning, der heute Staatsseketär ist, einig: „Abschiebung in die Türkei, Einreisesperre für Deutschland.” Rückkehrverbot also für einen, der 19 Jahre in Deutschland gelebt und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erlangt hatte – ohne jeden Schuldbeweis. Da die Türkei kein Interesse an Kurnaz zeigte, war die Folge vorhersehbar: Der Bremer blieb im Lager. Von den möglichen Vorteilen der Situation hingegen machten die Deutschen diskret Gebrauch. Drei Geheimdienstler flogen nach Guantanamo, um mehr über die Islamistenszene zu lernen. Sie stellten fest: Kurnaz war naiv und harmlos.

Der Untersuchungsausschuss im Bundestag muss klären, warum die rot-grüne Regierung so reagierte. Es könnte sein, dass die Amerikaner eine Freilassung an Sicherheitsauflagen knüpften, die der deutsche Rechtsstaat nicht zugelassen hätte. Allem Anschein nach aber waren sich die Deutschen so einig in ihrem Begehr, Kurnaz auf Distanz zu halten, dass sie nicht einmal versuchten, über die Konditionen zu verhandeln. Was bedeutete es schon, dass ein Türke, der fahrlässig nach Pakistan gereist ist, ein paar Jahre länger in einer Zelle schmort?

Gleichzeitig versuchte die Stadt Bremen, den angeblich gefährlichen Kurnaz mit den Mitteln des Ausländerrechts fernzuhalten. Vordergründig hieß es, seine Aufenthaltserlaubnis sei erloschen, weil er ausgereist und nicht binnen eines halben Jahres wieder eingereist sei. In der außergewöhnlichen, hilflosen Lage, in der sich Kurnaz befand, konnte er diese vordergründig korrekte Argumentation nur als das empfinden, was sie war: Die faktische Ausweisung eines Mannes, den man als gefährlich empfand, ohne dass man es offen sagen wollte. Das Bundesinnenministerium Otto Schilys setzte die Bremer Politik fort und veranlasste eine europaweite Einreisesperre. Es bedurfte eines Gerichtsurteils, um diese formaljuristisch gekleidete Perfidie zu beenden.

Angela Merkel gab den Anstoß für die Freilassung. Sie hatte es leichter als ihr Vorgänger Gerhard Schörder, weil sie einen anderen Kontakt zum US-Präsidenten pflegt, aber auch deshalb, weil die Amerikaner mit Guantanamo mittlerweile so viele Probleme haben, dass sie dankbar sind für jeden Gefangenen, den sie los sind. Die Ergebnisse entsprechen aber letztlich den Bemühungen: Die Regierung Merkel wollte Kurnaz zurück, die Regierung Schröder wollte ihn nicht.