So liefen die Recherchen der SZ-Reakteure

Ein sehr ausführlicher und hintergründiger Recherchebericht von SZ Redakteur Nicolas RICHTER

Mehr als sechs Monate nach seiner Rückkehr aus afghanischer Gefangenschaft teilt Khaled el-MASRI der Welt mit, was ihm widerfahren war. In der New York Times erscheint seine Leidensgeschichte am Sonntag, dem 9. Januar 2005, unter der lakonischen Schlagzeile "German's Claim of Kidnapping Brings Investigation of U.S. Link".

Der Text findet zunächst kaum Aufmerksamkeit in deutschen Medien. Vielleicht liegt es daran, dass der Artikel an einem Sonntag erschienen ist, vielleicht klingen El MASRI's Erlebnisse auch zu abstrus: Ein Deutscher wird bei einer Reise nach Mazedonien festgenommen, von CIA-Agenten verschleppt und monatelang in Afghanistan verhört. Später stellt sich heraus, dass alles nur einer Verwechslung geschuldet war. In der SZ-Redaktion wird am Sonntag kontrovers über den Bericht diskutiert. Manche sehen darin schnell einen politischen Skandal, andere Kollegen sind zunächst davon überzeugt, dass El MASRI ein bloßer Wichtigtuer sei.

Die SZ steigt in die Geschichte ein

SZ-Redakteur Nicolas RICHTER trifft Khaled el-MASRI am Mittwoch, den 12. Januar in der Ulmer Kanzlei des Rechtsanwalts Manfred GNJIDIC. Es ist die Art, wie MASRI seine Erlebnisse schildert, die ihm große Glaubwürdigkeit verleiht. Er spricht sehr ruhig, konzentriert und detailliert, er schildert seine Monate in Gefangenschaft chronologisch und entlang der Fakten, ohne Wertungen oder Anschuldigungen. Es ist, als ließe er einen Dokumentarfilm ablaufen.

Das Gespräch mit ihm dauert mehr als vier Stunden, ohne dass sich MASRI widerspricht oder seine Geschichte erkennbare Lücken oder Unstimmigkeiten aufweist. Als er einmal von einem Mitgefangenen in Afghanistan spricht, beginnt er zu schluchzen und ringt eine Weile um Fassung. Wenn MASRI ein Schauspieler sein sollte, dann ein sehr guter.

Recherchen im Umfeld beginnen. Der Münchner Staatsanwalt Martin HOFMANN, der zu diesem Zeitpunkt bereits gegen die unbekannten Entführer MASRI's ermittelt, hält den Deutsch-Libanesen aus Neu-Ulm für glaubwürdig. Er hat ihn zwar noch nicht selbst getroffen, doch die polizeilichen Vernehmungsprotokolle MASRI's sind so überzeugend, dass die Justiz den Fall an sich genommen hat.

Auffällig sind auch Parallelen zu anderen Fällen so genannter Renditions (Überstellungen). Die SZ vergleicht die Aussagen MASRI's mit denen eines anderen verschleppten Terrorverdächtigen: Mamdouh HABIB klagt zu dieser Zeit vor einem US-Bezirksgericht dagegen, dass ihn die USA aus dem Lager in Guantanamo zurück nach Ägypten überstellen. Dort ist HABIB schon einmal monatelang gefoltert worden. Zur Begründung seiner Klage hat er seine Leidensgeschichte ausführlich seinem Anwalt Joseph MARGULIES geschildert. Die Klageschrift, die MASRI nicht kennen kann, weist frappierende Parallelen zu den Ausführungen des Neu- Ulmers auf. Die Art und Weise, wie die Verdächtigen zum Beispiel für Flüge vorbereitet wurden, schildern MASRI und HABIB nahezu gleich: Ihre Kleider wurden ihnen mit einer Schere vom Leib geschnitten, dann wurden sie nackt fotografiert und in einen Tariningsanzug gesteckt. Es ist eine verräterische Standardprozedur der CIA.

Am Freitag, den 14. Januar 2005 druckt die SZ auf Seite 3 unter der Überschrift "Reise in die Dunkelheit" einen knapp 400-zeiligen Artikel über MASRI. Anfang Februar greift das ZDF-Magazin Frontal21 das Thema auf. Am 9. April wiederum berichtet die SZ exklusiv über das Ergebnis einer Haaranalyse, die die Staatsanwaltschaft bei der Abteilung für Geo- und Umweltwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München in Auftrag gegeben hatte. Darin heißt es, an MASRI's Haaren sei zweifellos nachzuweisen, dass das Opfer in der fraglichen ersten Jahreshälfte 2004 "ganz wesentliche Veränderungen seiner Lebensumstände" erfahren habe. Die Isotopenverhältnisse im Haar passten für diesen Zeitraum zu Afghanistan.

Kein Feedback aus der Politik

Doch während SZ, DER SPIEGEL und andere Medien immer neue Details zum Fall MASRI präsentieren, entfaltet das Thema kaum politische Wirkung. Es gibt zwar kaum mehr Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Geschichte MASRIs und an der Tatsache, dass ein unschuldiger Deutscher vom Verbündeten USA verschleppt und misshandelt worden ist. Doch das politische Berlin, das sonst jedes noch so kleine Thema aufgeregt begleitet, gibt sich sehr gelassen. Die Bundesregierung verweist lediglich auf das Ermittlungsverfahren in München.

Auch das Parlament zeigt sich unbeeindruckt. Im Sommer 2005 erkundigt sich SZ-Redakteur RICHTER bei Abgeordneten des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, ob der Fall MASRI sie nicht auch betreffe:

- Die Vorsitzende Christa NICKELS (Grüne) sieht sich durch die Zwänge der Koalition eingeengt und will nicht den SPD-Innenminister bedrängen.

-Der Vize-Vorsitzende Rainer FUNKE, der als Abgeordneter der FDP und damit der Opposition eigentlich ein Interesse daran haben müsste, Fehler der Bundesregierung im Fall MASRI zu thematisieren, hat von MASRI nach eigenen Angaben noch nie gehört. Die SZ schickt ihm Material, doch Funke meldet sich nie wieder.

Ohne sich namentlich zitieren zu lassen, geben einige Abgeordnete zu, dass MASRI's Geschichte wahrscheinlich in der Öffentlichkeit eine andere Wirkung entfaltet hätte, wenn das Opfer nicht arabischer Herkunft wäre. Wie es scheint, ist die Hautfarbe auch mitbestimmend dafür, ob das Unrecht, das einem Deutschen widerfährt, von anderen Deutschen als solches wahrgenommen wird.

Deutsche Sicherheitsbehörden verstrickt?

Gleichzeitig mehren sich die Berichte darüber, dass auch deutsche Sicherheitsbehörden Kenntnis von fragwürdigen Praktiken in der Terrorabwehr haben oder an rechtsstaatlich umstrittenen Praktiken selbst beteiligt sind. Weil vielen Verdächtigen aus der islamistischen Halbwelt nichts nachzuweisen ist, was strafrechtlich relevant wäre, greifen deutsche Behörden zum Ausländerrecht, um diese Personen loszuwerden: Sie weisen Ausländer aus und schicken sie in ihre Heimatländer zurück, obwohl ihnen dort möglicherweise Folter droht.

Die SZ berichtet unter anderem über den Fall des Mitläufers Thaer MANSOUR, der nach Jordanien zurückkehren muss, weil er sich im Dunstkreis der Terrorgruppe al-Tawhid befunden hatte, oder über den Fall des Mouldi CHAABANE, der nach Tunesien ausgeweisen werden soll. Im Gegensatz zum Strafrecht, wo im Zweifel für den Verdächtigen entschieden wird, ist es im Ausländerrecht genau umgekehrt: Im Zweifel muss der Ausländer gehen, obwohl eine Abschiebung schwerere Folgen haben kann als einige Jahre in einem deutschen Gefängnis. Doch das ist nur ein Aspekt. Im September 2005 berichtet Hans LEYENDECKER in der SZ über den umstrittenen Einsatz von fünf BKA-Beamten in Beirut. Ein Verdächtiger, gegen den die Deutschen ermittelten, soll dort von libanesischen Sicherheitskräften gefoltert worden sein. Betrieben die Deutschen jenes "Outsourcing" von Folter, das sie den Amerikanern in Bezug auf deren Renditions-Programm immer vorhielten?

Die Washington Post macht das Thema zur politischen Affäre

Der Fall MASRI und das Verhalten der deutschen Behörden im Anti-Terror-Kampf jedenfalls wurden erst im Dezember 2005 zu einer Staatsaffäre. Obwohl deutsche Medien schon das ganze Jahr über viele unbequeme Fragen aufgeworfen hatten, war es wieder der Bericht einer US-Zeitung, der den entscheidenden Impuls gab. Die Washington Post berichtete am 4. Dezember, dass der frühere Bundesinnenminister Otto SCHILY persönlich von dem US-Botschafter in Berlin, Daniel COATS, über die versehentliche Entführung MASRI's durch die Amerikaner informiert worden war - allerdings erst kurz nachdem MASRI Ende Mai 2004 wieder in Freiheit war. Die Enthüllung hatte offenbar einen politischen Hintergrund: Im Laufe des Jahres hatten sich Berichte über Flüge von CIA-Maschinen im europäischen Luftraum gemehrt, auch hatte die Washington Post berichtet, dass die USA unter anderem in osteuropäischen Staaten Geheimgefängnisse für Terrorverdächtige unterhielten. Die europäischen Regierungen, speziell auch die deutsche, hatten sich immer ahnungslos bis erstaunt gegeben.

Als US-Außenministerin Condoleezza RICE Ende des Jahres zu einer Europa-Reise aufbrach, musste sie mit bohrenden Fragen der europäischen Presse rechnen. Die gezielte Information, dass Schily eingeweiht war, sollte RICE offensichtlich entlasten: Denn nun verlagerte sich die Debatte in Europa auf die Frage, was die Regierungen der EU-Staaten noch alles wussten, was sie gebilligt und was sie sogar gefördert hatten, ohne es öffentlich einzuräumen.

Bundeskanzleramt schon lange informiert

Die Bundesregierung jedenfalls war besser informiert als sie zugestehen wollte. SCHILY behielt sein Wissen aus dem Gespräch mit COATS zwar angeblich für sich, doch wie SZ-Recherchen ergaben, war das Kanzleramt spätestens im Juni 2004 über das Schicksal MASRI's informiert. Manfred GNJIDIC, der Rechtsanwalt des Neu-Ulmers, hatte das Kanzleramt und das Auswärtige Amt im Juni 2004 schriftlich und ausführlich über die Erlebnisse seines Mandanten informiert. Der BND überprüfte die Vorwürfe und kam zu dem Ergebnis, dass sie stimmten. Diese Tatsachen berichtete die SZ am 6. Dezember 2005 auf Seite 1, das Thema bestimmte auch die Abendnachrichten im Fernsehen. Die FDP, die das Thema lange ignoriert hatte, sprach plötzlich von einem "Anschlag auf die deutsche Souveränität" und einem "Angriff auf den Rechtsstaat".

Die Frage, was der frühere Kanzleramtschef Frank-Walter STEINMEIER wann über MASRI erfahren hatte, bestimmte zunehmend die politische Debatte. Steinmeier war inzwischen Außenminister. Immer deutlicher wurde jedenfalls, dass die Bundesregierung seit Sommer 2004 von MASRI's Entführung wusste, dem Opfer nach seiner Freilassung aber nie persönlich Hilfe angeboten hatte, um eine finanzielle oder moralische Wiedergutmachung von den Amerikanern zu erreichen. Öffentlich wurde das Thema der US-Regierung gegenüber nie angesprochen. Wie die Briefe GNJIDIC's an die Bundesregierung und an die US-Botschaft in Berlin belegen, war der Anwalt stets bemüht, den Fall still und im Einvernehmen mit den Regierungen zu regeln. Erst als ihm bewusst wurde, dass er so noch nicht mal eine Entschuldigung der Amerikaner erreichen würde, schaltete er die Medien ein.

Die Medien bleiben ‚dran’

Die SZ und andere Medien hielten den Druck auf die politisch Verantwortlichen mit ihrer Berichterstattung aufrecht. Eine ganze Reihe von Fällen war ungeklärt, das Verhalten vieler Behörden warf Fragen auf. Wie viel wusste die Bundesregierung tatsächlich über die geheimen Operationen der Amerikaner? Hatte Berlin schon viel früher von MASRI's Entführung erfahren, sie vielleicht sogar durch Hinweise an die US-Geheimdienste selbst provoziert? Warum ließ die Bundesregierung die Münchner Justiz mit ihren Ermittlungen allein?
Wie die SZ berichtete, hatte es die Bundesanwaltschaft mit einer komplizierten Argumentation abgelehnt, den Fall MASRI zu übernehmen. Und während SCHILY und der BND schon im Sommer 2004 wussten, dass MASRI nach Afghanistan entführt worden war, versuchte die Justiz in München genau dies mit einer aufwändigen Haaranalyse nachzuweisen. MASRI selbst warf in einem Interview mit der SZ am 10. Dezember neue Fragen auf.

Detailliert schilderte er die Begegnung mit "Sam", einem Geheimdienstler, der ihn schließlich aus dem afghanischen Gefängnis zurück nach Europa begleitet hatte. Sam habe zu ihm gesagt: "Wir haben einen neuen Bundespräsidenten". Ein klares Indiz dafür, dass Sam selbst Deutscher war. Doch für wen arbeitete er? Falls deutsche Behörden ihn zu Masri geschickt hätten, hätte das bedeutet, dass deutsche Sicherheitskreise noch vor dem Schily-Coats-Gespräch von der Entführung Kenntnis erlangt hatten.

Auch mehrten sich die Ungereimtheiten in den Fällen ZAMMER und KURNAZ. Der Bremer Türke Murat KURNAZ war seit Anfang 2002 im US-Lager Guantanamo gefangen, pakistanische Behörden hatten ihn Ende 2001 aufgegriffen und für terrorverdächtig befunden. Der Deutsch-Syrer Mohammed Haydar ZAMMER wiederum, ein Bekannter der Hamburger Todespiloten, saß in einem syrischen Foltergefängnis. Obwohl die Bundesregierung in ihren öffentlichen Bekundungen Guantanamo kritisiert und Folter ablehnt, hatten deutsche Sicherheitsexperten sowohl ZAMMER als auch KURNAZ in der Gefangenschaft besucht - nicht, um den Verdächtigen zu einem rechtsstaatlichen Verfahren zu verhelfen, sondern um deren Wissen über die islamistische Szene in Deutschland zu nutzen. Über diese Reisen deutscher Geheimdienstler hatte zuerst DER SPIEGEL berichtet. Gleichzeitig offenbarte sich in Deutschland eine kuriose Abwehrschlacht gegen die Rückkehr von KURNAZ. Die Stadt Bremen wollte ihm eine mögliche Rückkehr verweigern, unter dem Vorwand, seine Aufenthaltserlaubnis sei erloschen, weil er länger als sechs Monate im Ausland gewesen sei und sich nicht zurückgemeldet habe. Der Streit um diese offensichtliche bürokratische Posse endete schließlich vor dem Bremer Verwaltungsgericht (SZ vom 30.11.2005). Das Gericht urteilte, dass Kurnaz zurückkehren dürfe.

Den tiefsten Einblick in das Vorgehen der amerikanischen Rendition-Teams erlaubten derweil Unterlagen der italienischen Staatsanwaltschaft, aus denen die SZ Ende Dezember 2005 berichtete. In dem Bericht "Die Jagd auf Abu Omars Häscher" schilderten LEYENDECKER, RICHTER und Italien-Korrespondent Stefan ULRICH, wie die US-Agenten Anfang 2003 einen Islamisten in Mailand auf der Straße kidnappten und nach Ägypten flogen. Italiens Justiz hatte die Spuren, die die Amerikaner mit Handys, Kreditkarten und Hotelaufenthalten hinterlassen hatten, akribisch rekonstruiert. Sogar Fotos der Agenten konnten sich die Ermittler beschaffen, bald wurden Haftbefehle gegen die Kidnapper erlassen. Das Vorgehen der CIA offenbarte sich nicht nur als äußerst aufwändig und teuer. Die Tarnung erwies sich zugleich als dilettantisch, weil kaum vorhanden.

Die Amerikaner verhielten sich wie Leute, die nichts zu fürchten haben und entsprechend auffällig vorgehen. Sie hatten offenbar nie damit gerechnet, dass die europäische Justiz und die Medien sich für die Entführungsfälle interessieren könnten. Sie glaubten eben, im Anti-Terror-Kampf nach dem 11. September sei alles erlaubt – auch dann, wenn dies Menschenrechte und die Hohheitsrechte verbündeter Staaten verletzte.

Rot-Grüne Bundesregierung versucht abzuwiegeln

Doch es blieb nicht bei Justiz und Medien. In Deutschland hatten sich zum Fall MASRI, zu den CIA-Flügen über Deutschland und zum Verhalten von deutschen BND-Agenten während des Irak-Krieges so viele Fragen an die Bundesregierung angehäuft, dass ein Untersuchungsausschuss unausweichlich wurde. Anfang 2006 legte die Bundesregierung zwar ihre Sicht der Dinge in einem - vertraulichen - Bericht an das Parlamentarische Kontrollgremium für die Geheimdienste dar. Doch es blieben so viele Widersprüche und offene Fragen, dass sich die Oppositionsparteien schließlich auf einen gemeinsamen Auftrag für einen Untersuchungsausschuss einigten. Union und SPD hielten dies zwar für überflüssig, doch die kleinen Parteien nutzten ihr Minderheitenrecht und setzten den Ausschuss schließlich im April 2006 ein.

Dies versprach erstmals Einblicke in das Verhalten der rot-grünen Bundesregierung und ihrer Sicherheitsbehörden in den Jahren nach dem 11. September 2001. Schnell offenbarte sich, dass die Bundesregierung das Parlament nicht vollständig informiert hatte: Im Juni musste der BND einräumen, einer seiner Mitarbeiter habe doch schon früh von der Entführung Masris erfahren. Der Beamte des mittleren Dienstes habe dies von Kollegen in einer Kantine in Skopje gehört, seine Vorgesetzten aber angeblich nicht informiert. Die Kantinen-Geschichte war bezeichnend für den Umgang der Regierung mit dem ganzen Thema: Es wurde immer nur zugegeben, was ohnehin nicht mehr zu leugnen war.

Es war ein Affront für das Parlament, für die ermittelnde Justiz und für die Öffentlichkeit, aber gewährte auch einen seltenen Einblick in die – in diesem Fall zumindest - mäßig effiziente Arbeitsweise des deutschen Auslandsgeheimdienstes.

Auch die US-Regierung sah sich allmählich gezwungen, ihre streng gehüteten Geheimnisse preiszugeben. Das Pentagon musste auf gerichtlichen Beschluss hin im März 2006 die Protokolle der Militärtribunale in Guantanamo veröffentlichen. Die SZ dokumentierte auf einer ganzen Seite Auszüge der Verhandlungen und ließ die teils absurden Dialoge für sich sprechen. Den Gefangenen stand kein Anwalt zur Seite, sie sahen sich mit Vorwürfenkonfrontiert, die sie nicht widerlegen konnten, weil die Beweise als geheim eingestuft waren. Die rechtsstaatliche Farce der Tribunale offenbarte sich dann in Dialogen wie diesem:

Gericht: Der Gefangene hat als Koch für die Taliban gearbeitet.

Gefangener: Ich war kein Koch, ich habe nur das Gemüse angebaut. Ich weiß nicht einmal, wie man kocht. Meine Mutter hat immer für mich gekocht.

Gericht: Wir wissen nicht viel über Sie.

Immerhin reichte auch dieses Bisschen schon, um Menschen über Jahre in Guantanamo einzusperren.

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss nimmt seine Arbeit auf – Staatsanwalt hört Rechtsanwalt und Journalisten ab

Während der Untersuchungsausschuss in Berlin seine Arbeit aufnahm, mehrten sich auch kritische Fragen an die Münchner Staatsanwaltschaft, die weiterhin die Ermittlungen gegen MASRI führte. Im Juni 2006 erfuhr MASRI's Rechtsanwalt GNJIDIC von den Ermittlern, dass sie seine Telefonanschlüsse in der Kanzlei, sein Handy und das seiner Frau monatelang abgehört hatten. Angeblich hofften sie darauf, dass die Entführer MASRI in der Kanzlei anrufen würden, um zu drohen oder einen Deal anzubieten.

GNJIDIC nannte den Lauschangriff in der SZ einen "Eingriff in die geschützte Sphäre der Anwaltschaft" und legte sofort Beschwerde gegen die Abhörbeschlüsse ein. Das Entführungsopfer und dessen Anwalt sahen sich plötzlich selbst behandelt wie Tatverdächtige. Im Dezember 2006 stellte sich auch noch heraus, dass die Staatsanwaltschaft bei der Abhörmaßnahme gezielt Telefonate des Anwalts mit Journalisten ausgewertet hatte. Gespräche von GNJIDIC mit dem Stern und dem ZDF wurden als "verfahrensrelevant" zu den Akten genommen.

Dies ergab sich aus Dokumenten, die GNJIDIC für eine Verfassungsbeschwerde gegen den Lauschangriff eingesehen hatte und über die die SZ am 6. Dezember zuerst berichtete. Dass die Ermittler gezielt Journalisten bespitzelt hatten, löste augenblicklich breite Empörung aus. Das Bundesverfassungsgericht hat den Fall noch nicht entschieden.

Zeitweise setzte sich die Staatsanwaltschaft München auch dem Verdacht aus, das Verfahren aus politischer Rücksicht nicht mit dem nötigen Eifer voranzutreiben. Am 21. September 2006 berichteten LEYENDECKER und RICHTER, dass die Staatsanwaltschaft München aus Spanien eine Liste mit den Namen der mutmaßlichen Entführer MASRI's erhalten habe. Gleichwohl seien keine Haftbefehle erlassen worden, noch immer laufe das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Wie die SZ darlegte, hatte GNJIDIC die Namensliste, die aus spanischen Ermittlungen stammte, bereits Ende 2005 der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt. Die Münchner aber stellten erst Ende April 2006, also fast fünf Monate später, ein formelles Rechtshilfeersuchen an die Spanier. Das Verfahren ist Berichtssache, läuft also unter strenger Aufsicht durch das Justizministerium. Es gibt zwar keine Beweise dafür, dass Politiker intervenieren, um das für die deutsch-amerikanischen Beziehungen sehr heikle Ermittlungsverfahren zu bremsen. Offensichtlich ist aber, dass nicht gerade unter Hochdruck ermittelt wird.

Deutscher Haftbefehl gegen CIA-Agenten

Als die Haftbefehle gegen die Amerikaner dann schließlich doch erlassen werden, ist es Januar 2007. Aber sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Die Weltpresse berichtet darüber, dass nach der italienischen nun auch die deutsche Justiz amerikanische Agenten per Haftbefehl suche. In der deutsch-amerikanischen Geschichte ein einmaliger Fall, der in der Politik für großes Unbehagen sorgt. Die Bundesregierung distanziert sich sofort und erklärt das Ganze zu einer Sache der Justiz. Kein Wort darüber, dass Berlin nun diplomatischen Druck ausüben wolle, damit Washington die Täter ausliefert oder zumindest selbst gegen sie ermitteln lässt.

Wie die spanische Polizei den MASRI-Entführern überhaupt auf die Spur gekommen war, berichten Richter und der freie Journalist John GOETZ in der SZ vom 30. September 2006 in der Reportage "Der Jetset der Menschenjäger".

Es werden darin die Parallelen zu dem Mailänder Fall deutlich: Wie schon bei der Entführung Abu OMAR's in Italien verhalten sich die Amerikaner auch bei der Entführung MASRI's äußerst auffällig. Es begann damit, dass der britische Reporter Stephen GREY bei seinen Recherchen über CIA-Entführungen auf ein Flugzeug mit der Kennung N313P gestoßen war. GREY besorgte sich Daten der Flugaufsicht und stellte fest, dass die Routen der Boeing zu den Berichten MASRI's passten: Tatsächlich landete die Maschine, Kennung N313P, Ende Januar 2004 im mazedonischen Skopje und flog weiter nach Kabul in Afghanistan. Vor Mazedonien war die Boeing in Mallorca gewesen.

Die Berichte über CIA-Maschinen in Mallorca lösten polizeiliche Ermittlungen aus, und die Guardia Civil durchforstete die Gästebücher der feinsten Hotels auf der Insel. In ihrem Abschlussbericht finden sich Namen (in der Regel Tarnnamen), Kreditkartennummern und Rechnungen der US-Agenten. Manche waren sogar so leichtsinnig, abends vom Hotelzimmer aus in der Heimat anzurufen.

Auch auf diese Nummern stieß die Polizei. John Goetz, der als freier Journalist, der für die ARD und die SZ arbeitet, verfolgte die Nummer zurück und fand im Bundesstaat North Carolina schließlich ein Haus, das dem Anrufer gehörte, er hatte dort offensichtlich bei der Familie angerufen. Der echte Name unterschied sich nur leicht von dem Tarnnamen. In North Carolina unterhielt die CIA einen Flughafen für ihre Sondereinsätze, und in der Umgebung wohnten viele Piloten und Agenten, die nach dem 11. September für die Terroristenjagd weltweit eingesetzt wurden.

Derweil kam im August 2006 Murat Kurnaz schließlich aus Guantanamo frei, nach fast fünf Jahren in Gefangenschaft. Für die ehemalige Bundesregierung und ihre Mitglieder enthielt dieser Fall die höchste politische Brisanz. Eine Beteiligung oder Mitwisserschaft an der Entführung MASRIS hat sich nicht nachweisen lassen, der Fall KURNAZ aber lag da ganz anders, wie die Bundesregierung in ihrem Bericht das Parlamentarische Kontrollgremium selbst geschrieben hatte.

In einer Chronologie zu KURNAZ hatte sich der Vermerk gefunden:

29.10.2002 Besprechung BKAmt: BND plädiert hinsichtlich Nachfrage der USA, ob M.K. nach DEU oder in die TUR abgeschoben werden solle, für Abschiebung in die TUR und Einreisesperre für DEU. AL6/BKAmt, und StS BMI teilen die Auffassung.

Hinter der technokratischen Formulierung verbarg sich eine politisch sehr brisante Aussage: Während die Bundesregierung in öffentlichen Verlautbarungen Guantanamo kritisiert hatte und sich angeblich für die Freilassung von KURNAZ einsetzte, hatten die Verantwortlichen in Wahrheit seine Rückkehr hintertrieben. Im Grundsatz war dies bekannt, als KURNAZ freikam. Doch mit seiner Rückkehr nach Deutschland sollte die Diskussion über das Verhalten deutscher Behörden neu entbrennen, und gefährlich war das vor allem für Außenminister Frank-Walter STEINMEIER, der bei der Besprechung am 29.10.2002 Kanzleramtschef und damit oberster politischer Verantwortungsträger in dieser Frage gewesen war. Die SZ thematisierte dies am Tag nach der Rückkehr von KURNAZ in einem Kommentar ("Der verstoßene Sohn"). "Die Ergebnisse", heißt es darin, "entsprechen letztlich den Bemühungen: Die Regierung MERKEL wollte KURNAZ zurück, die Regierung SCHRÖDER wollte ihn nicht".

Geheimplan der Rot-Grünen Bundesregierung

Die Regierung SCHRÖDER war erbarmungslos. Mit welchem bürokratischen Eifer sie gegen Kurnaz vorging, zeigten ihre eigenen Unterlagen. Die SZ berichtete über diese Papiere ab dem 19. Januar 2007 in zahlreichen Artikeln. Zu den wichtigsten Dokumenten gehört ein Fünf-Punkte-Plan des Bundesinnenministeriums vom 30.10.2002, er wurde einen Tag nach der berüchtigten Lagebesprechung im Kanzleramt verfasst. Die Beamten planen darin eine Weisung an die Stadt Bremen, die die Aufenthaltserlaubnis des Gefangenen für erloschen erklären sollte. Nun erschloss sich also, dass die Stadt auf Anweisung aus Berlin gehandelt hatte. Auch plante das Innenministerium, sich von den Amerikanern KURNAZ' Pass zu besorgen, um jene Seite herauszureißen, die die deutsche Aufenthaltserlaubnis enthielt. In den folgenden Wochen schilderte die SZ aus den geheimen Unterlagen, wie die Bundesregierung noch bis Ende 2005 versucht hatte, die Rückkehr von KURNAZ zu verhindern, also selbst noch zu einem Zeitpunkt, da der Bremer Türke auch den Amerikanern längst als unschuldig galt.

Die SZ berichtete auch, dass Steinmeier persönlich in die Entscheidung eingebunden war, eine Einreisesperre gegen KURNAZ zu verhängen. Während sich STEINMEINER unter anderem damit verteidigte, dass es gar kein "Angebot" der USA zur Freilassung von KURNAZ gegeben habe, stellte die SZ klar, dass es darauf gar nicht ankam: Denn wie sich aus den Unterlagen, aber auch aus den zunächst geheimgehaltenen Zeugenaussagen vor der Untersuchungsausschuss ergab, hatte die Bundesregierung ihre umfangreichen Vorkehrungen gerade in Erwartung eines solchen Angebotes getroffen.

Wie die Geheimdienstler im Ausschuss berichteten, die im Herbst 2002 Guantanamo besucht hatten, musste Berlin fest damit rechnen, dass die USA KURNAZ zurückschicken würden. Er galt der CIA als völlig harmlos. Doch Berlin wollte den - aus Regierungssicht - potenziellen Gefährder auf Distanz halten und schrieb den Amerikanern, es bestehe der ausdrückliche Wunsch, dass KURNAZ nicht zurückkehre. Die SZ schilderte dies am 17. Februar ("Chronik einer vereitelten Freiheit").

Haltlose Vorhaltungen

Steinmeier und sein Umfeld, vor allem der SPD-Obmann im Ausschuss, Thomas OPPERMANN, reagierten auf die Vorwürfe mit Gegenangriffen auf die Medien, aber auch auf KURNAZ selbst. OPPERMANN unterstellte etwa den Geheimdienstlern, die in Guantanamo waren (und als einzige deutsche Sicherheitsexperten tatsächlich selbst mit KURNAZ geredet hatten), sie seien inkompetent oder schlecht vorbereitet gewesen. In Hintergrundgesprächen wurde der Chef der Geheimdienstmission sogar als Wichtigtuer bezeichnet. Gleichzeitig wärmten SPD-Politiker immer wieder alte, längst widerlegte oder selbst von der Staatsanwaltschaft verworfene Vorwürfe gegen KURNAZ wieder auf.

So etwa ein angebliches Telefonat im Herbst 2001, wo KURNAZ von Pakistan aus anrufend, einem Bremer Hassprediger ankündigen soll, sein Einsatz bei den Taliban stehe jetzt bevor. Wie die Akten belegten, war dies eine uralte Geschichte, die der Bremer Verfassungsschutz vom Hörensagen kannte und die er selbst für nicht beweisbar erklärte. OPPERMANN konfrontierte die Geheimdienstler im Ausschuss trotzdem nachdrücklich damit.

Wenige Tage später machte die Frankfurter Rundschau sogar damit ihre Titelseite auf ("Schwere Vorwürfe gegen Kurnaz"). Die Staatsanwaltschaft Bremen, die jahrelang jeden Vorwurf gegen Kurnaz geprüft hatte, erwähnte das vermeintliche Telefonat in ihren Vermerken kein einziges Mal.

STEINMEIER verteidigt seinen Geheimplan

Obwohl die Strategie infam war, weil sie das Opfer immer wieder zum Täter stilisieren wollte, hielt die SPD sie bis zum Schluss durch, also bis zu STEINMEIER's Aussage vor dem Ausschuss. KURNAZ sei gefährlich gewesen, man habe damals die Republik schützen müssen. Im Rückblick würde er alles wieder genau so tun, sagte der Außenminister. Mit anderen Worten: KURNAZ war an seinem Schicksal selbst schuld, eine Fehleinschätzung hatte es in Berlin nie gegeben. Für STEINMEIER ist die Affäre damit offenbar ausgestanden, zumindest in der Großen Koalition fordert niemand mehr seinen Rücktritt.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir mehr wissen

Doch die Affären um Renditions, CIA-Flüge und die Rolle der Europäer darin sind noch nicht vorbei. Im April 2007 widmete sich ein Ausschuss des amerikanischen Kongresses diesen Fragen, er hörte, was Mitglieder des EU-Parlaments zu sagen hatten, die die Fälle untersucht hatten. Wenn das US-Parlament die Aufklärung weiter vorantreibt, könnten US-Geheimdienstler preisgeben, was die Europäer noch alles wussten und wie sie die umstrittene Renditions-Praxis unterstützt haben. Wie die SZ berichtete, hatten sich polnische EU-Abgeordnete schon im Sommer 2006 bei einer Reise nach Washington sehr besorgt gezeigt über mögliche peinliche Enthüllungen aus Amerika. In Polen soll es ein CIA-Geheimgefängnis gegeben haben, und wenn die amerikanischen Geheimdienste vor dem Kongress Rechenschaft ablegen müssen, könnte das nicht nur Polens Regierung in Bedrängnis bringen. In Washington hat die Aufklärung durch die Demokraten erst begonnen. Der deutsche EU-Abgeordnete Cem Özdemir hat gesagt: "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir mehr wissen".