SPIEGEL-Affäre und Protest: Die Zivilgesellschaft geht auf die Strasse

Eine Chronologie aller Protestaktionen

Vorbemerkung:
Die nachfolgende Dokumentation des Protests als Folge der SPIEGEL-Invasion - 50 Jahre nach den Ereignissen im Jahr 2012 - wäre nicht möglich, wenn uns nicht das Urheberrecht zu Hilfe gekommen wäre. Nach 50 Jahren erlöschen bei Fotos der Zeitgeschichte, die nicht als "Werke" anzusehen sind, die Leistungsschutzrechte.
Da die Dokumentation ein Non-Profit-Projekt dreier Hochschulen in Hamburg ist, das von der Bundeszentrale für politische Bildung einen kleinen finanziellen Anteil für die Programmierung einer eigenen Website sowie für die Beauftragung eines Dozenten zur technischen Anleitung der Videointerviews einwerben konnte, hätte dieser wichtige Teilaspekt in dieser Aufmachung entfallen müssen.
Das Interesse über die Vorgänge und Hintergründe, die Empörung über das dreiste Verhalten der staatlichen Macht, sich über die Pressefreiheit hinwegzusetzen, ist aber genau das, was die SPIEGEL-Affäre ausgelöst hat: das Ende des Obrigkeitsstaats unter Bundeskanzler ADENAUER und der Beginn einer sehr viel lebhafteren demokratischen Entwicklung.
Wir dokumentieren hier die Ereignisse in vielen Städten und belegen dies mit, soweit vorhanden, eindrucksvollen Bildern von Fotografen und anderen Personen, die diesen wichtigen Teil deutscher Zeitgeschichte festgehalten haben.

28.Oktober 1962

STUTTGART:

20 junge Stuttgarter protestieren am Nachmittag „stumm“ auf der Königsstraße gegen das Vorgehen der Bundesanwaltschaft. In einer Presseerklärung heißt es, sie seien „dem ‚Spiegel‘ für seinen couragierten Bericht über das Manöver Fallex 62 dankbar“ und dass die Anschuldigungen gegen den Spiegel lächerlich seien, „da außer dem Bundesanwalt wohl niemand in der Bundesrepublik die russische Spionage für so unfähig hält, daß sie auf die Spiegel-Lektüre angewiesen wäre.“


29.Oktober

DÜSSELDORF:


Der 30jährige Werbegraphiker Günter W. warnt am frühen Nachtmittag auf der Königsallee mit einem Plakat vor „Josef [Strauß] … mit dem großen Hackebeilchen“. Um ihn sammeln sich rund 200 Menschen. Günter W. wird festgenommen.

Nachmittags versammeln sich etwa 12 junge Leute vor dem amerikanischen Generalkonsulat in der Cecilienallee zu einem Sitzstreik. Mit Plakaten fordern „sie eine „Atomfreie Zone“ und „Kein Krieg um Kuba“. Als die Polizei erscheint, lassen sich die Demonstranten „ohne jeden Widerstand“ abführen


FRANKFURT:

Studenten überkleben mehrere hundert Wahlplakate der CDU, die für „Frischen Wind in Hessen“ werben, mit Titelseiten des SPIEGEL und dem Schriftzug „DER SPIEGEL“. Auch die Frontscheiben parkender Autos werden nicht verschont. Indes wird mittels einer Telefonkette zu privaten Demonstrationen aufgerufen. Studenten tragen SPIEGEL-Ausgaben mit dem Konterfei STRAUß‘ schweigend durch die Innenstadt.


ULM:

Ein neuer "Spiegel"-Leser? An einem Kiosk ergatterte dieser Mann eines von fünf Rest-Exemplaren der Ausgabe Nr. 41


30.Oktober

FRANKFURT:

Ungefähr 150 Studenten kommen am Nachmittag vor der Hauptwache zu einer Demonstration für die Pressefreiheit und gegen den Verteidigungsminister zusammen. Umherstehendes Publikum wird von ihnen aufgefordert, am Sitzstreik teilzunehmen. Nach einstündigem Protest ziehen sie über den Goetheplatz zum Opernhaus weiter. Am Abend besprechen die Studenten in einem Café nahe der Universität mögliche weitere Aktionen


31.Oktober

HAMBURG:

 

Hörsaal B / Untersuchungsgefängnis


Im Hörsaal B der Universität artet die geplante Podiumsdiskussion in einen Tumult aus. Etwa 1000 Menschen drängen sich in den Saal und protestieren lautstark mit Plakaten. Der Innensenator SCHMIDT spricht sich für die Sicherung der Pressefreiheit in Hamburg aus. Nach dem Abbruch der Diskussion zieht ein mehrere hundert Mann starker Demonstrationszug zum Untersuchungsgefängnis, in dem AUGSTEIN inhaftiert ist, und bekundeten diesem durch Sprechchöre ihre Solidarität

Mehr dazu unter Protest in Hamburg am 31. Oktober

Eimsbüttel


Etwa 100 Jugendliche folgten den Ruf der „Jungen Aktion gegen den Atomtod“ zu einem Demonstrationszug im Stadtteil Eimsbüttel mit der Parole: "Jeder Bürger muß es schrein – Augstein raus und Strauß muß rein“  


BERLIN:


Die Internationale Liga für Menschenrechte veranstaltet eine Kundgebung auf dem Steinplatz. Zu den Rednern zählen mehrere Schriftsteller und Künstler, die den Stellenwert der Pressefreiheit betonen und teilweise sogar den Rücktritt STRAUß‘ fordern. Das Publikum wächst schnell auf über 500 Zuhörer und Demonstranten an


BRAUNSCHWEIG:


Mitglieder der „Internationale der Kriegsdienstverweigerer“ demonstrieren vor dem Pressehaus der Braunschweiger Zeitung. Zwei Gegendemonstranten erscheinen, es bilden sich mehrere Diskussionsgruppen


HANNOVER:


Vor den Pressehäusern an der Goseriede (Sitz der Hannoverschen Presse) und der Georgstraße sowie vor dem Gefängnis an der Alten Celler Heerstraße demonstrieren einige Jugendliche. Sie tragen beschriebene Garderobenspiegel


1.November

HAMBURG - TAGSÜBER:


Kriegsdienstverweigerer protestieren vor dem Hamburger Pressehaus


HAMBURG - ABENDS, 20 UHR:


Auditorium maximum


Nach dem Abbruch am Vortag wird die Podiumsdiskussion wiederholt. Über 2000 Zuhörer drängen in das Audimax der Universität. 200 Bereitschaftspolizisten riegeln den Eingang ab, die Diskussion verläuft ruhig, aber lebhaft


2.November

MÜNCHEN:


Rund 300 Studenten treffen sich vor der Universität und ziehen in einem Protestzug zum Königsplatz. Die Münchner Kriminalpolizei ordnet das Durchstreichen und Übermalen einiger Plakate an. Der Vergleich der Spiegel-Affäre mit dem Fall Carls von Ossietzky wird den Demonstranten untersagt


3.November

FRANKFURT:

Auf dem Frankfurter Römerberg wird nachts die Statue der Justitia mit einem Zettel versehen. Er trägt die Aufschrift „Pressefreiheit“


REMSCHEID:


5 Mitglieder des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer ziehen am Nachmittag durch die Innenstadt und protestieren 1 Stunde lang vor dem Redaktionsgebäude einer Remscheider Zeitung. Es kommt zu einem großen Andrang und Diskussionen mit Passanten


STUTTGART:


Etwa 200 SPIEGEL-Leser demonstrieren nachmittags von 15.00 – 16.45 Uhr mit ca. 25 Plakaten in der Königstraße. Es gibt keine Zwischenfälle


5.November

ESSEN:


An allen Kiosken gibt es eine starke Nachfrage nach dem aktuellen SPIEGEL Nr. 45/62 (Titel: Rudolf AUGSTEIN)


LÜBECK:


Schon vormittags ist das aktuelle SPIEGEL-Heft ausverkauft - bedingt durch die hohe Nachfrage der Lübecker Bürger


6.November

HEIDELBERG:


Im Marstallhof finden sich etwa 1000 Studenten samt dem Professor Konrad DUDEN zusammen, um zu betonen, wie wichtig ein Presseorgan wie der SPIEGEL für den Rechtsstaat ist. Die Opposition spricht von einer „Privatfehde“ AUGSTEINS gegen STRAUß


MANNHEIM:

Mit Fackeln und Transparenten wie „Maulkörbe nur bei Tollwut“ und „Wer schützt uns vor Strauß?“ zieht abends eine auf 2000 Köpfe anwachsende Menschenmasse von der Hauptfeuerwache zur Kurpfalzbrücke und unterschreiben eine Sympathieerklärung an den SPIEGEL. Bis auf wenige Sprechchöre verläuft die Demonstration ruhig


HAMBURG:


Vor dem Pressehaus demonstriert ein Mann mit einem Plakat. Die Aufschrift: „Wie bei Ulbricht, Redakteure im Gefängnis“. Um ihn sammelt sich eine Menschenansammlung, die Staatsanwaltschaft ordnet die Beschlagnahmung des Plakats an


7.November

BRAUNSCHWEIG:

Knapp 200 Studenten der Technischen Hochschule und der Pädagogischen Hochschule formieren sich mit Plakaten und Transparenten zu einem Marsch durch die Innenstadt zum Burgplatz. Die Demonstration gegen die Einschränkung der Pressefreiheit verläuft ruhig


REUTLINGEN:


Chemiestudenten des staatlichen Technikums tragen die Pressefreiheit öffentlich mit einem Sarg zu Grabe


8.November

TÜBINGEN:

Die politischen Hochschulgruppen versammeln über 450 Menschen zu einem Protestmarsch von der Universität zum Marktplatz, auf dem sie den „Schluß mit der schleichenden Diktatur“ fordern und eine Resolution an den Bundestagspräsidenten verlesen


MÜNCHEN:

Ein Münchner Bürger macht auf die Unverhältnismäßigkeit im Umgang mit dem SPIEGEL aufmerksam


11.November

DÜSSELDORF:


Karnevalisten ziehen mit Plakaten über die Königsallee


GELSENKIRCHEN:


Die „Internationale der Kriegsgegner“ ruft 200 Menschen zu einer Demonstration zusammen. Parole:„Augstein raus - Strauß rein“


ULM:


Studenten und Professoren der Hochschule für Gestaltung sprechen sich in einer Entschließung gegen „faschistische Methoden“ der Justiz aus


12. + 13. November

MÜNCHEN:

Eine Gruppe des Liberalen Studentenbundes organisiert vor der Universität eine Petition für die Entlassung STRAUß‘. Bis zum darauffolgenden Abend sammeln sie über 2000 Unterschriften. Nachts verschaffen 1500 Studenten ihren Forderungen lautstark Gehör


14.November

DÜSSELDORF:

Etwa 50 Studenten der Düsseldorfer Kunstakademie veranstalten einen friedlichen Protestmarsch durch die Innenstadt. Ihren Weg begleiten Sympathiebekundungen der Bürger


MÜNCHEN:


Unbekannte überkleben Wahlplakate der CSU mit Titelseiten des SPIEGEL


15.November

HANNOVER:

Am Café Kröpcke im Zentrum Hannovers finden sich sechs Studenten zu einem Sitzstreik zusammen. Ihre Parolen: „Strauß nach Elba“ und „Pressefreiheit ist Pressepflicht“. Parallel werden in der Pädagogischen Hochschule und der Werkkunstschule Unterschriften für die Absetzung STRAUß‘ gesammelt


16.November

FREIBURG:

Zwei Gruppen zu je 9 Studenten ziehen mit Plakaten durch die Freiburger Innenstadt. Ihre Kommilitonen fordern mit einer Unterschriftenaktion den Rücktritt des Verteidigungsministers


HANNOVER:


Erneut sammeln sich, diesmal deutlich mehr, Studenten am Cafe Kröpcke. Ihr unangemeldeter Demonstrationszug wird nach eineinhalb Stunden von der Polizei aufgelöst


LÜNEBURG:


Im Lüneburger Schützenhaus findet eine Podiumsdiskussion statt, an der unter anderem Josef AUGSTEIN, der Bruder des inhaftierten Chefredakteurs, teilnimmt. Die Räume sind in kürzester Zeit überfüllt, die Diskussion wird über Lautsprecher nach außen übertragen

Mehr unter Lüneburg


17.November

MANNHEIM:

An der Kurpfalzbrücke sammeln Mannheimer Jugendorganisationen Unterschriften für eine Petition an den Bundestag


18.November

MÜNCHEN:

Auf der Bühne des Münchener Schauspielhauses bekunden 31 Schauspieler ihre Solidarität mit den Redakteuren des Spiegel. Sie wollen die Bevölkerung warnen und erinnern an die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch den Nationalsozialismus


19.November

HAMBURG:


Vor der Mensa in der Schlüterstraße bauen Studenten Transparente auf und sammeln Unterschriften für den Rücktritt des Verteidigungsministers


NÜRNBERG:


Im Grand Hotel findet eine Tagung der FDP statt. Vor dem Eingang bauen sich Studenten auf. Da die Demonstration nicht gesetzmäßig angekündigt wurde, droht die Polizei mit Verhaftungen. Nach kurzzeitigem Abzug kehren die Studenten zurück. Diesmal einzeln, da die Demonstration einer Einzelperson nicht verboten ist


20.November

BERLIN:

Studenten fahren mit einem Autokorso aus 15 mit Plakaten gepflasterten Wagen eine Stunde lang durch das Zentrum West-Berlins


BONN:

An der Ermekeil-Kaserne und dem Verteidigungsministerium vorbei marschieren über 2000 Studenten, um schweigend für die „Rettung der Demokratie“ und die Absetzung des Ministers einzufordern. Einige sehr drastische Plakate werden eingezogen, die Wasserwerfer der Polizei kommen nicht zum Einsatz. Der Zug löst sich nach dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne planmäßig auf.
In einem Schreiben an den Bundestag äußern derweil 63 Professoren der Universität Bonn ihre Sorge über die innenpolotische Entwicklung


21.November

NÜRNBERG:

Eine Podiumsdiskussion in den Humboldt-Sälen zum Thema Pressefreiheit stören Besucher immer wieder durch Zwischenrufe und Pfiffe. Ein Redner: Professor VON DER HEYDTE, der den Spiegel wegen Landesverrats anzeigte und somit die SPIEGEL-Affäre in Gang setzte


23.November

STUTTGART:

Jugendliche Demonstranten ziehen mit Plakaten durch die Innenstadt und versammeln sich auf dem Schillerplatz im Herzen Stuttgarts. Dort spricht sich auch SPD-Stadtrat SCHWAB aus für die Absetzung des Ministers


MÜNCHEN:


Eine Gruppe von Demonstranten trifft sich vor dem Münchner Löwenbräukeller und macht ihrem Ärger vor der anstehenden Landtagswahl mit Protestschildern Luft 


24.November

FRANKFURT:


Selbst am Heiligen Abend demonstrieren junge Frankfurter am Eschenheimer Tor und vor dem Rundschau-Haus. Gefordert wird die sofortige Freilassung von AUGSTEIN, SCHMELZ und MARTIN, die als Beschuldigte noch immer in Haft gehalten werden


25.November

BAYREUTH:

Im Vorfeld der Landtagswahl am 25.11.1962 werden zahlreiche Wahlplakate mit Titelblättern des SPIEGEL überklebt


26.November

HAMBURG:


In der Heinrich-Herz-Schule in Winterhude findet eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema:„Demokratie, Pressefreiheit, Landesverrat“ statt. Teilnehmer unter anderem: Josef AUGSTEIN und Henry NANNEN


4.Februar 1963

FRANKFURT:

Zum hundertsten Hafttag Rudolf AUGSTEIN sammeln sich 50 Studenten der Frankfurter Universität zu einer „Jubiläumsdemonstration“ 


20.Februar 1964

MÜNCHEN:


Mit 5000 Flugblättern fordern Studenten den Rücktritt von HÖCHERL. Sie kritisieren unter anderem die Haltung des Bundesinnenministers in der SPIEGEL-Affäre


(clj / BeK)