Die Chronologie der deutschen Gesundheitspolitik

Im Gesundheitswesen kam es in Deutschland schon häufig zu Reformen. Das Ziel war dabei in neuerer Zeit vor allem die Eindämmung der Kostenentwicklung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dazu musste ein stabiler Beitragssatz erreicht werden. Beim Verfolgen des gesundheitspolitischen Ziels Kostendämpfung lassen sich zwei Phasen unterscheiden.

Die erste Phase reicht von der Mitte der 1970er-Jahre bis zum Jahr 1992 und wird als traditionelle Kostendämpfungspolitik charakterisiert. Sie lässt die Strukturen der GKV weitgehend unberührt und bindet die Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung in die Kostendämpfungspolitik ein.

In der zweiten, bis heute andauernden Phase, die in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre begann, werden zahlreiche neue Steuerungsinstrumente eingesetzt, vor allem um das Gesundheitswesens im Wettbewerb zu steuern. Das verändert die historisch gewachsenen Strukturen des deutschen Gesundheitswesens stark. Diese Etappe ist die Phase wettbewerbszentrierter Strukturreformen.

1970er Jahre

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten und besonders in der sozialliberalen Reformära wurde die Gesundheitsversorgung ausgebaut. Die Wirtschaft wuchs und das führte auch zu immer mehr Einnahmen bei den Krankenkassen. Die expansive Ausgabenentwicklung stellte also kein Problem dar.

1973/74 begann allerdings die erste Ölkrise, die sich zu einer Weltwirtschaftskrise auswuchs. Es kam zu niedrigen Wachstumsraten und höheren Arbeitslosenzahlen. Die Gesundheitsversorgung sei zu teuer geworden, sagten die Gesundheitspolitiker. Ab nun lautet das vordringlichste Ziel: Kostendämpfung in der GKV


1972

Das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) verankert das duale Finanzierungssystem in Krankenhäusern. Danach gibt es für Kliniken eine doppelte Finanzierungsgrundlage: Bundesländer (tragen Investitionskosten) und die Gesetzlichen Krankenkassen (die laufenden Betriebskosten) teilen sich die Krankenhausfinanzierung. Ein Krankenhaus hat nach dem KHG Rechtsanspruch auf staatliche Förderung für Investitionen, wenn es im Krankenhausplan des jeweiligen Bundeslandes aufgenommen wurde. Das duale Finanzierungssystem verbessert die wirtschaftlichen Sicherung der Kliniken. Das Ziel des KHG: Krankenhäuser sollen leistungsfähig sein und eigenverantwortlich wirtschaften. Und damit zu einer bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung und zu sozial tragbaren Pflegesätzen beitragen


1977

Das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) wird eingeführt. Damit versucht die Regierung zu steuern, wie die Leistungen in Anspruch genommen werden, und will mit einer "einnahmenorientierten Ausgabenpolitik" die Beiträge stabilisieren. Einige Punkte des KVKG:

  • Gesetzlich Krankenversicherte beteiligen sich ab nun an den Kosten der in Anspruch genommenen Leistung (pauschale Zuzahlung für Medikamente). Das entlastet die Haushalte der Krankenkassen auch indirekt, weil – so die Erwartungen – die Versicherten dadurch insgesamt weniger Leistungen in Anspruch nehmen
  • Begrenzung bei Zahnersatz-Zuschüssen
  • Eigenbeteiligung bei kieferorthopädischer Behandlung
  • Einschränkungen bei Kuren und Fahrtkosten
  • Zur Stärkung der Kassen gegenüber den Leistungsanbietern werden die sehr unterschiedlichen Handlungskompetenzen und –bedingungen der einzelnen Krankenkassen angeglichen

Eine gemeinsame Selbstverwaltung: Einführung der "Konzertierten Aktion" als Steuerungsorgan


1981

Das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz (KVEG) bringt weitere Kürzungen im Leistungsrecht: Die Zuzahlungen für Verordnungen und Zahnersatz sowie die Eigenbeteiligung an den Fahrtkosten werden erhöht, der Anspruch auf Brillen für Versicherte über 14 Jahre und der Krankenhausaufenthalt bei normaler Entbindung gekürzt


1983

Bisher konnten Rentner sich kostenlos versichern. Seit 1983 müssen auch sie einen Beitrag (abhängig vom Einkommen) leisten


1984

Das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz (KHNG) soll die Ausgabenentwicklung in Kliniken stoppen. Die Bundesländer finanzieren nun alleine die öffentliche Förderung der Krankenhäuser. Sie bekommen auch in der Krankenhaus-Planung mehr Befugnisse. Die Pflegesatzgestaltung findet jetzt zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen statt


1986

Mit dem Gesetz zur Verbesserung der kassenärztlichen Bedarfsplanung soll einer Überversorgung von Ärzten entgegengewirkt werden. Ab nun gibt es die Möglichkeit für zeitlich befristete Zulassungsbeschränkungen oder –sperren in überversorgten Gebieten. Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1992 wird diese Regelung verschärfen


1989

Mit dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) unter Norbert Blüm (CDU) wird die gesetzliche Krankenversicherung aus dem 2. Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab 1. Januar 1989 in das Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) übernommen. Weitere Neuregelungen des GRG:

  • Höhere Rezeptgebühr für Arzneimittel
  • Einführung von Festbeträgen (bei höheren Preisen muss der Patient die Differenz übernehmen)
  • Eigenbeteiligung der Patienten wird weiter erhöht – z. B. bei Arzneimitteln, im Krankenhaus und beim Zahnersatz
  • Das Sterbegeld der Krankenversicherung wird gekürzt

Trotz dieses Rundumschlags an Kosteneinsparungen sind die Beiträge jedoch nur für kurze Zeit stabil


seit 1992

Die zweite Phase der Kostendämpfungspolitik: wettbewerbsorientierte Strukturreformen

1991 und 1992 kommt es zu hohen Defiziten in der GKV. Es beginnt ein Wettbewerb der Krankenkassen um Versicherte. Der Beitragssatz wird zum entscheidenden Kriterium im Konkurrenzkampf um Mitglieder, mit jeder Beitragssatz-Anhebung droht ein Verlust von Marktanteilen


1993

Das Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) tritt in Kraft und verordnet für die nächsten zwei Jahre einen strikten Sparkurs. Dieser Richtungswechsel in den gesundheitspolitischen Reformbemühungen bestimmt bis heute unser Gesundheitswesen. Die Beziehungen zwischen Krankenkassen, Leistungserbringern und Versicherten sollen im Sinne eines regulierten Wettbewerbs (regulated competition) umgebaut werden. Krankenhäuser verlieren durch das GSG eine wirtschaftliche Sicherung, die so nie mehr zurückkommen wird.

Ziel des GSG ist, das seit 1972 geltende Kostendeckungsprinzip durch ein leistungsorientiertes Vergütungssystem abzulösen. Es werden Pauschalen eingeführt, mit denen Ärzte vergütet werden.

Gleichzeitig steigt die Selbstbeteiligung bei Arznei- und Verbandsmitteln weiter an. Regulierungskompetenzen werden bundesweit vereinheitlicht und der Staat verstärkt seine Eingriffe in die Selbstverwaltung, um unerwünschte Nebenwirkungen im geplanten Wettbewerb zu vermeiden. Die Regierung scheitert an dem Projekt einer Positivliste, die alle erstattungsfähigen Medikamente benennt. Unter anderem deswegen wird das Reformziel stabiler Beiträge wieder nur für wenige Jahre erreicht.

Das Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) wird angepasst. Darin finden sich Grundsätze für die Personalbemessung in Kliniken und die Umstellung von der Tagessatz-Finanzierung zu einheitlichen, leistungsbezogenen Fallpauschalen mit Klassifikation in Diagnosebezogene Fallgruppen (DRG - Diagnosis Related Groups). Das soll den Wettbewerb zwischen Krankenhäusern anregen und Leistungen vergleichbar machen


1996

Mit Einführung des Beitragsentlastungsgesetzes führen Arbeitgeber die Beiträge zu den Sozialversicherungen (Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) monatlich als Gesamtsozialversicherungsbeitrag ab. Sie werden am Monatsende überwiesen und nicht erst Mitte des Folgemonats. Dadurch soll verhindert werden, dass es bei den Sozialversicherungen zu finanziellen Engpässen kommt und Arbeitgeber quasi einen zinslosen Kredit auf Kosten der Kassen erhalten


1997

Am 1.7. treten das 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz (NOG) in Kraft. Im Jahr 1996 endeten die Budgetierung vieler Ausgabenbereiche und es zeigt sich, dass das GSG die Ausgaben und das Einnahmedefizit der Krankenkassen nicht senken konnte. Mit den beiden NOG soll in der so genannten "dritten Stufe der Gesundheitsreform" die Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit der sozialen Krankenversicherung gesichert werden. Das 2. NOG bringt nach vier Jahren vergeblicher Anläufe auch endlich die Lösung für die Instandhaltungsfinanzierung der Krankenhäuser: Es gibt einen Zuschlag (von 1,1 Prozent) zum Krankenhausbudget, der über einen jährlichen Sonderbeitrag der Krankenkassenmitglieder finanziert wird.

Die beiden NOG haben die gleichen Ziele wie die Vorgänger-Gesetze: Die gemeinsame Selbstverwaltung soll gestärkt werden. Patienten müssen sich an den Kosten für Arznei- und Heilmittel und Krankenhausaufenthalten noch stärker beteiligen


1999

Das Solidaritätsstärkungsgesetz (SolG) macht Regelungen der NOG dann wieder rückgängig. Das Gesetz bezeichnet man auch als "Vorschaltgesetz" und es soll zur Vorbereitung auf die Gesundheitsreform 2000 die Ausgaben begrenzen. Außerdem soll der Charakter einer sozialen Krankenversicherung gestärkt werden.

Das SolG bringt erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder ein Mehr an Leistungen: Zuzahlungen für die Patienten werden gesenkt (packungsgrößenabhängig), die Härtefallregelungen für chronisch Kranke verbessert, Zahnersatzleistungen wiedereingeführt. Gleichzeitig budgetiert die rot-grüne Koalition aber zur Begrenzung des Ausgabenwachstums Arzthonorare, Krankenhäuser und Arzneimittel.

Die Umstellung auf eine fallbezogene Vergütung wird die kommenden Jahre prägen


2002

Das Fallpauschalengesetz (FPG) vom 23. April führt ein diagnoseorientiertes Vergütungssystem ein. Damit wird das bisherige Krankenhaus-Zahlsystem aus tagesgleichen Pflegesätzen, Fallpauschalen, Sonderentgelten und Krankenhausbudgets auf eine leistungsorientierte Vergütung umgestellt. Das neue System basiert auf Diagnosis Related Groups (DRG), die unterschiedlicher Diagnosen und Krankheitsarten zu einem Katalog zusammenfassen.

Das neue Vergütungssystem erfolgt nach dem FPG in mehreren Schritten: Ab 2003 können Krankenhäuser auf freiwilliger Basis mit DRG abrechnen, die verpflichtende Einführung für alle Krankenhäuser (außer Psychiatrien) erfolgt zum 01.01.2004


2003

Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) verfolgt die rot-grüne Regierungskoalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder ähnlich wie 1989 einen Kostendämpfungs-Rundumschlag. Das Ziel ist, die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung dauerhaft zu senken:

  • Patienten zahlen eine Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal
  • Keine Erstattung verschreibungsfreier Medikamente mehr
  • Selbstbeteiligung bei erstattungsfähigen Arznei- und Heilmitteln
  • Härtefallklausel (Zuzahlungsbefreiung für Geringverdiener) entfällt

2004

Ab 2004 ist es für die Kliniken (Ausnahme Psychiatrie) Pflicht, das Fallpauschalen-System einzuführen. Das 2. Fallpauschalenänderungsgesetz (2. FPÄndG) beschließt die Scharfschaltung der Fallpauschalenfinanzierung. In fünf Konvergenzschritten (15 % 2005 und 20 % 2006-2008) passen sich die Krankenhäuser an


2005

Seit 1951 zahlten Arbeitgeber und den Arbeitnehmer jeweils zur Hälfte die Beiträge zur Krankenversicherung (paritätische Finanzierung). Nun müssen die Versicherten im Zuge des GMG einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent zahlen


2007

Nach langwierigen Verhandlungen und zum Teil heftigen Kontroversen tritt am 1. April die Gesundheitsreform der Großen Koalition in Kraft. Sie sorgt für weitreichende Veränderungen in der Finanzierung, der Versorgung und der Steuerung des Gesundheitswesens:

  • Krankenkassen erhöhen ihre lohnbezogenen Beitragssätze
  • Die lohnbezogenen Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und der Zuschuss aus Steuermitteln werden über einen Gesundheitsfonds unter den Krankenkassen verteilt
  • dazu kommt ein Zusatzbeitrag, den die Krankenkassen von ihren jeweiligen Versicherten individuell erheben können
  • Statt der Begrenzung für Ärztevergütung auf ein festes Gesamtbudget wird die Vergütung auf die Fallpauschalen umgestellt (je Leistung, je behandelte Krankheit oder je Patient)
  • Grundsatz "ambulant statt stationär"
  • Jeder Bürger muss eine Krankenversicherung abschließen. Also müssen auch die privaten Krankenversicherungen einen einheitlichen Basistarif mit einem Mindestmaß an Leistungen anbieten

2007

GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (WSG) ist eine Fortsetzung des Modernisierungsgesetzes. Es hat ebenfalls das Ziel, den Wettbewerb um Qualität und Wirtschaftlichkeit zwischen den Krankenkassen zu verstärken.

  • Krankenkassen haben mehr Vertragsfreiheiten. Sie haben nun bessere Rahmenbedingungen und die Möglichkeit zu Preisverhandlungen bei der Arzneimittelversorgung. Sie dürfen zielgenaue Angebote (z. B. mit Wahltarifen) verfassen
  • Das WSG verbessert die Transparenz der Angebote, Leistungen und Abrechnungen

Versicherte haben mehr Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten


2009

Bislang konnten die Krankenkassen ihren Beitragssatz selbst festlegen. Ab Jahresbeginn 2009 wird er einheitlich von der Regierung bestimmt. Die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer mitsamt Steuerzuschuss fließen nun in den Gesundheitsfonds. Daraus erhalten die Krankenkassen dann Pauschalen für jeden Versicherten


2011

Das Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) ändert die Preisgestaltung für neu auf den Markt kommende Medikamente. Das Gesetz soll die übermäßig gestiegenen Arzneimittelausgaben senken und eine neue Balance zwischen Innovation und Medikamenten-Preisen herstellen.

Ein Pharmahersteller kann die Preise für patentgeschützte Medikamente zunächst wie bisher frei festsetzen, muss dann aber den medizinischen Zusatznutzen seines Medikamentes im Vergleich zu bereits auf dem Markt befindlichen Mitteln nachweisen. Wenn es den nicht gibt, unterliegt das Medikament der Festbetragsregelung. Wenn doch, führt der Pharmahersteller mit dem GKV-Spitzenverband Preisverhandlungen. Grundlage für die Preisverhandlung ist eine Kosten-Nutzen-Bewertung des Medikamentes vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA)


2011

Die Reform, die das GKV-Finanzierungsgesetz (FinG) mit sich bringt, spüren vor allem die Versicherten: Der Beitragssatz in der GKV steigt für Mitglieder auf 8,2 Prozent. Der Arbeitgeberbeitrag (7,3 Prozent) wird eingefroren. Künftige Ausgabensteigerungen finanzieren sich über Zusatzbeiträge, die die GKV-Mitglieder allein tragen. Kann eine Kasse ihre Kosten nicht mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds decken, muss sie - wie bisher - einen Zusatzbeitrag erheben, der ab jetzt nicht mehr limitiert ist.

Neuregelungen des FinG für Krankenhäuser:

  • Für Mehrleistungen, die Krankenhäuser im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr zusätzlich vereinbaren, erhalten sie weniger Vergütung
  • Die bisherige Regelung im Krankenhausentgeltgesetz, dass alle Länder unterschiedliche Preise für die gleichen Leistungen haben, wird aufgehoben. Preisunterschiede sollen einen Preiswettbewerb zwischen den Ländern ermöglichen

2012

Das GKV-Versorgungsstrukturgesetz (VStG) verlangt, dass neue Behandlungsmethoden auf ihren Nutzen hin überprüft werden, ohne sie in dieser Zeit der Patientenversorgung vorzuenthalten. Das Gremium von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen kann künftig neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zeitlich begrenzt und unter kontrollierten Bedingungen erproben, und danach entscheiden, ob sie in den Leistungskatalog aufgenommen werden


(JS)