Kliniken sanieren sich mit sinnlosen Operationen - ein Überblick

Das deutsche Gesundheitswesen ist krank. In den letzten Jahren hat es sich in eine Richtung entwickelt, die immer gesundheitsgefährdender wird und zur Folge hat, dass alle unzufriedener sind.

Die meisten Ärzte sehen den Sinn ihres Berufs darin, Menschen gesund zu machen. Sie sind Arzt geworden, um zur richtigen Zeit die richtigen Worte zu finden. Um Schwerkranken wieder Lebensmut zu geben. Ein Arzt will seinen Patienten glücklich machen, wenn er ihn frisch und fit nach Hause entlassen kann. Das macht auch den Arzt glücklich. Besonders, wenn er ein Dankeschön für eine gute Betreuung bekommt.

Dieses Glücksgefühl haben Ärzte heute allerdings nur noch sehr selten. Denn die Strukturen im deutschen Gesundheitswesen machen das kaum noch möglich.

In den letzten Jahrzehnten gab es viele gesundheitspolitische Reformen , die die Situation der Krankenhäuser verbessern sollten. Verhängnisvoll war die Einführung der Fallpauschale. Sie sollte das Gesundheitssystem transparenter machen und dafür sorgen, dass Krankenhäuser wirtschaftlicher arbeiten und die Versorgung der Patienten effizienter gestalten. Kliniken sollten dadurch besser kooperieren und fusionieren.

Teilweise ist das auch geschehen, aber die negativen Auswirkungen sind drastisch. Gesundheit ist zur Ware verkommen. Das Fallpauschalen-Abrechnungssystem verleitet dazu, aufwendiger zu behandeln als eigentlich nötig ist. Aus einem harmlosen Harnwegsinfekt wird schnell eine Blasenentzündung, weil deren Behandlung mehr Geld bringt. Laut Fallpauschalen-Katalog wird zum Beispiel eine internistische OP eher schlecht bezahlt und daher nehmen Chirurgen möglichst viele orthopädische Eingriffe vor, um Verluste auszugleichen.

Die Fallpauschale macht aus Heilern Unternehmer. Deutsche Krankenhäuser sind Wirtschaftsunternehmen und von denen gibt es in Deutschland zu viele. Alle wollen finanziell überleben und daher wird nachgeholfen, wenn der natürliche Patientenbestand nicht ausreicht. Je schneller der "Fall" ein Krankenhaus wieder verlässt, desto lukrativer ist es für die Klinik. Die Finanzabteilungen üben Druck auf die Entscheidungen der Mediziner aus. Viele Ärzte haben bei ihren Klinikchefs Zielleistungsvereinbarung mit konkreten Patienten-Zahlen unterschrieben, die an einen Bonus geknüpft sind.

Deutschlands Kliniken haben einen Gesamtumsatz von 70 Milliarden Euro pro Jahr. Bis 2003, bis zur Einführung der Fallpauschalen, war es leicht, diese Summe zu erwirtschaften. Geld gab es pro Liegetag des Patienten. Aber weil jetzt mit Pauschalen pro Behandlungsfall abgerechnet wird, bedeutet das: Je mehr Operationen, desto mehr Geld gibt’s von den Krankenkassen.

Insgesamt operieren deutsche Kliniken dadurch zu viel: 16 Millionen Mal im Jahr. Das ist deutlich mehr als in anderen europäischen Staaten. Gerade bei gewinnbringenden Eingriffen und bei denen, für die die Fallpauschale erhöht wurde, nehmen die Operationszahlen zu.

Das hat auch Folgen für die Krankenhaus-Angestellten. Kürzere Liegezeiten und mehr Fälle – das bedeutet eine höhere Arbeitsbelastung. Und um Kosten zu sparen, entlassen die Klinikbetreiber immer mehr Personal.

Klar, dass gute Medizin auf der Strecke bleibt, wenn Krankenhäuser operieren müssen, um Geld zu verdienen. Offen darüber reden kann man aber nur, wenn man aus dem System raus ist. Wer es in Frage stellt, gefährdet Arbeitsplätze und wird zum Außenseiter. Ärzte, die nicht mitmachen wollen, werden nicht mehr für Operationen eingetragen oder – noch härter – es kommt zu Mobbing bis hin zur Kündigung. Es gilt, zu ertragen oder zu gehen.

Hier können Sie die Reportage „Pauschales Versagen“ aus der WELT von Pia Heinemann lesen, die den Wächterpreis der deutschen Tagespresse 2016 erhalten hat. Ein Erklärstück liefert Ihnen Hintergrundwissen zum Fallpauschalen-Vergütungssystem.

Dazu können Sie die Chronologie der Gesundheitsreformen nachlesen und verfolgen, welchen Themenkarriere das Thema in den Medien erlebte.

In unseren Interviews erzählen Experten aus unterschiedlichen medizinischen Bereichen, wie sie selbst mit dem Fallpauschalen-Vergütungssystem leben.

Das Making-of beschreibt, wie Pia Heinemann zu ihrer Reportage gekommen ist.

Wenn Sie diese Geschichte direkt aufrufen oder verlinken wollen, so können Sie dies unter  www.anstageslicht.de/Fallpauschale.

Im Laufe des Semesters werden wir noch mit verschiedensten Experten und Betroffenen aus der Medizinbranche sprechen und sie befragen, wie die Fallpauschale ihre tägliche Arbeit verändert hat.

 

(JS)