Über allem ein Vielleicht

Von Michael OHNEWALD (Reihe Stuttgarter Reportagen)

Irja KASS hat ein Buch geschrieben: „Tot auf Probe.“ Es ist ihr erstes, und es wird ihr letztes bleiben. Begegnung mit einer krebskranken Autorin, die in vorausgreifender Gewissheit für den Augenblick lebt.
Michael OHNEWALD in der Stuttgarter Zeitung, 15.1.2011.


Neben einem roten Sofa steht eine weiße Kiste. Konservierte Erinnerungen aus 41 Jahren. Die Kinderzeit. Die Studienzeit. Die Reisezeit. Alles durcheinander. Momentaufnahmen in Schwarz-Weiß und Farbe, die ein Deckel davor schützt, am Licht zu vergilben.

Es hätte noch Platz in der Kiste, aber viele Bilder wird es wohl nicht mehr geben. Das Leben drückt die Vorspultaste. Es lässt sich nicht stoppen. Irja Kass hat sich auf ihre Art eingerichtet im Unabänderlichen. „Man kann sich nur immer wieder auf den Weg begeben, egal ob er gerade, im Kreis oder eher wie eine Acht verläuft“, sagt sie. „Wenn man Glück hat, kommt so am Ende noch ein hübsches Muster zusammen.“

Ihr persönliches Muster findet sie eigentlich ganz passabel. Auf Außenstehende wirkt das seltsam. Da sitzt eine junge Frau mit fröhlichem Erlebnishunger in einer kleinen Wohnung, kramt Bilder aus einer alten Kiste und redet ein Leben schön, das keine Zukunft hat. Seit fünf Jahren nagt der Krebs an ihr. Mehr als hundert Chemoinfusionen hat sie hinter sich. Die Tumormarker im Blut lassen darauf schließen, dass es nicht mehr allzu lange gehen wird. Austherapiert. Alles versucht. „Ein Jahr wäre schön“, sagt sie. „Aber das wird knapp.“

Ein trüber Vormittag in Markgröningen. Die Stadt trägt das nasskalte Wetter wie ein Kleid. Irja Kass hat es sich auf ihrem Sofa neben Emily bequem gemacht. Der Chihuahua kuschelt sich an den schmächtigen Körper seiner Besitzerin, zu der ein grafisch gezeichnetes Gesicht mit süchtigen Augen gehört. Verspielte
Strähnen einer gut gemachten Perücke umrahmen eine runde Stirn. Auf dem Tisch stehen frische Rosen: gelbe, rote, weiße. Daneben liegen eingeschweißte Tabletten. Zwölf Stück muss sie jeden Tag schlucken, um noch ein bisschen Zeit zu schinden. Hochdosierte Chemie. „Dieser Krebs tut alles, um mich dranzukriegen.“

Das erste Mal ist sie ihm vor sechs Jahren begegnet. Vom einen Tag zum anderen gerät ein Leben aus den Fugen. Irja Kass wächst in Estland auf, studiert in Aachen Soziologie und Psychologie, lernt Steffen kennen und zieht mit ihm in die Nähe von Stuttgart, wo er als Ingenieur arbeitet. Im Kopf hat sie einen Masterplan. „Noch ein bisschen Karriere machen und dann Kinder großziehen.“ Vom Knoten in der Brust steht nichts im Masterplan. Es ist Frühjahr 2004. Irja Kass weiß, was das bedeuten kann. Ihr Vater ist mit 51, ihre Mutter mit 53 an Krebs gestorben. Der Hausarzt beruhigt. „Verhärtete Milchdrüse.“

Ein paar Monate später spürt Irja Kass nicht nur den Knoten, sondern auch noch ein fieses Ziehen in den Achselhöhlen. Sie sucht einen anderen Mediziner auf, dessen Befund eindeutig ist. „Krebs, bösartig.“ Die Lymphknoten sind schon befallen.

Vor der Operation gibt es eine Chemotherapie. Das Gift wirkt schnell. Bei einem Mittagsimbiss fährt sich Irja Kass durch die Haare und hat ein ganzes Büschel in der Hand. Immer wieder streicht ihre Hand über den Kopf. Am Ende sieht es unter dem Esstisch aus wie auf dem Holzboden bei ihrem Friseur. Ein Schock. Eigentlich hat sie ihr ganzes Leben versucht, nicht aufzufallen. Das kann sie sich abschminken.

Eingriff, Chemo, Brustaufbau. Ende Dezember 2005 wird Irja Kass aus der Klinik entlassen. „Jetzt scheint die Sonne wieder“, denkt sie. Die Tumormarker im Blut deuten eher auf Gewitter hin. VierWochen später sitzt sie erneut im Wartezimmer. Der Krebs wuchert. Es gibt erste Metastasen in der Leber. „Wir können leider nicht mehr von Jahren reden“, sagt der Arzt ihres Vertrauens, „eher von Monaten.“ Sie fragt, ob man zum Zählen dieser Monate eine Hand oder beide braucht. Sein trauriger Blick verrät die Antwort.

Irja Kass nimmt es an, nicht hin. Das ist ein Unterschied. Sie denkt über sich nach. „Alle werden sterben, ich sterbe nur etwas früher“, redet sie sich ein. Die Zeit vergeht bei verschiedenen Menschen verschieden schnell. „Wenn man die große Dimension bedenkt, sind wir alle wie Lemminge, die hintereinander eine Schlucht hinabstürzen, die einen zuerst, die anderen halt eine Millionstelsekunde später.“

In der vorausgreifenden Gewissheit, nicht mehr lange zu leben, spürt Irja Kass eine merkwürdige Leichtigkeit. Sie hält sich an ihr fest. Das gelingt nicht immer. Wenn es sehr wehtut, legt sie eine CD von Janis Joplin ein und übersetzt den Text auf ihre Weise. „Freedom is just another word for nothing left to lose“ – Freiheit ist, wenn man nichts mehr zu verlieren hat.

Irja Kass beschließt, die letzten Monate zu reisen. Ihr Arzt hilft ihr dabei. Mit Steffen fliegt sie nach Indien. Das Elend auf der Straße macht beide nachdenklich. „Ich empfand dort eine tiefe Dankbarkeit für mein eigenes Dasein, auch wenn es bald zu Ende sein sollte“, sagt Irja Kass. Reisen tut gut. Jedes Mal danach sind die Werte ein bisschen besser. Malaysia, Amerika. In Las Vegas kommt ihr das Leben völlig entrückt vor. Am Roulettetisch verzockt sie 400 Euro. „Es war eine tolle Nacht. Natürlich nicht wegen der 400 Euro, denen weinte ich durchaus nach, sondern weil ich mich darüber freute, dass ich mich auch den primitivsten Verlockungen bedenkenlos hatte hingeben können.“ Ägypten. Kuba. Ihr Arzt baut die Behandlungen dazwischen ein. Er gibt ihr ein neues Medikament, das den Krebs zwar nicht bekämpft, aber an seinen Rezeptoren ansetzt. Es schenkt ihr mehr als zwei Jahre.

Irja Kass gewöhnt sich an den Klang des Totenglöckchens wie an ihre Perücken. Sie hört nicht hin, weder zu Hause noch unterwegs. Das würde ihr doch nur die Stimmung vermiesen. Irgendwann bricht sie nach Thailand auf. Ko Samui, die Trauminsel. Ihr Mann Steffen bleibt zu Hause, er hat nicht so viel Urlaub. Bevor sie losfliegt, gibt es wie immer eine Chemotherapie. Aber diesmal ist alles anders. Als sie ankommt im Paradies, lernt sie die Hölle kennen. Füße und Hände beginnen unerträglich zu brennen, sie verfärben sich blutrot, die Haut löst sich ab. Nebenwirkung der Medikamente.

Abgeschnitten von der Außenwelt, bringen sie die Schmerzen fast um den Verstand. Sie ist hilflos, robbt auf Knien zur Toilette und stützt sich mit dem Handrücken ab. Ihre Füße bestehen aus rohem Fleisch. Vor ihrem Zimmer rollen die Wellen an einen makellosen Strand. Sie liegt im Bett und kann sich kaum noch regen. An der Wand tanzen die Schatten, im Kopf die Gedanken. Zum ersten Mal denkt sie darüber nach, dass es vielleicht besser wäre, wenn es kein Morgenmehr gäbe.

Mit letzter Kraft schafft sie es in ein Hospital und von dort nach Hause. In Deutschland kommt sie als Mumie an. Es dauert Monate, bis die geschundenen Füße wieder belastbar sind. Irja Kass verarbeitet dieses Trauma, indem sie alles aufschreibt. „Tot auf Probe. Noch einmal zurück ins Leben.“

Draußen faucht der Wind über den kleinen Balkon. Drinnen ist Irja Kass in der Gegenwart angekommen. Der Chihuahua döst auf dem Sofa. Er ist eingeschlafen über ihrer Geschichte. Der Tisch in der Stube übersät mit Fotos aus dem Karton. Obenauf liegen die Bilder ihrer verstorbenen Eltern.

„Es werden unschöne Zeiten kommen“, sagt Irja Kass und streift für einen Moment die Angst vor dem Tag, an dem ihr der Humor abhanden-kommt und vielleicht auch die Klarheit des Verstands. „Ich bin für Sterbehilfe“, schiebt sie hinterher, „aber ich glaube, ich werde meine äußerste Grenze nicht selbst bestimmen können. Solange ich noch lesen, Farben sehen, mich mit Freunden unterhalten kann – was davon möchte ich mir denn nehmen? Es gibt nichts, auf das ich verzichten will. Ich habe großes Vertrauen in die moderne Schmerztherapie, deshalb hoffe ich, nie wieder vergleichbare Pein ertragen zu müssen wie damals in Thailand, sondern mein Leben mit einem erträglichen Maß an Schmerzen beenden zu können.“

Ob es vielleicht noch eine Wende gibt? Ein Bruch des bösen Zaubers? So etwas wie Spontanheilung? Diesen Gedanken hat Irja Kass für sich lange beerdigt. Besuche am Grab lehnt sie charmant ab. Der Tod macht ihr keine Angst mehr seit Ko Samui. „Ich bin dankbar, dass er es sich anders überlegt hat“, sagt sie. „Jetzt hat er was gut bei mir.“

Das Buch liegt im Wohnzimmer auf dem Boden. Vor sechs Wochen kam es auf den Markt. Es ist ein bisschen wie ihr Testament. Ratschläge gibt es darin nicht. Ratschläge können auch Schläge sein, wenn man Krebs hat. Das mag sie nicht. Sie wollte nur ihre Geschichte aufschreiben, einen Abspann des Lebens mit persönlichen Gedanken. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, heißt es auf der vorletzten Seite. „Ich schmiede mein Glück aus Schrott und Altmetall und sage mir immer wieder: Träume nicht von rostfreiem Stahl, wenn der für dich sowieso unerreichbar ist.“

Der Chihuahua reckt seine Glieder. Über der Stadt hellt sich der Himmel auf. Irja Kass packt ihre Vergangenheit in den alten Karton. Es zieht sie hinaus.

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Irja KASS ist im März 2014 verstorben. Bis zuletzt hat sie einen Blog geschrieben, der heute von Freunden weitergeführt wird: http://irja-kass.blogspot.de