Pauline Mögles letztes Weihnachten

Von Michael OHNEWALD (Stuttgarter Reportagen)

Vor vier Wochen ist Pauline Mögle gekommen, um zu gehen. Bauchkrebs im Endstadium. Sie fühlt sich aufgehoben an diesem Ort, an dem nicht nur gestorben wird, sondern vor allem gelebt. Eine Adventswoche im Hospiz.
Michael Ohnewald in der Stuttgarter Zeitung, 20. Dezember 2008


Sie hat nicht viel mitgenommen in ihr neues Zimmer. Handtücher, Schlafanzüge, Hausschuhe. Mehr wollte sie nicht einpacken in den schwarzen Koffer, der am Schrank lehnt. Auch die Bilder von den Enkeln hat sie zu Hause gelassen. Nur der Willy steht bei ihr am Bett. Sie hat ein altes Foto rahmen lassen, auf dem er noch volles Haar hatte und erst vierzig war. So hat er ihr am besten gefallen.

An der Wand hängt ein Kalender der Sparkasse, das zwölfte Blatt des Jahres. Ihre Schwiegertochter hat schon einen neuen Kalender gekauft. Das Deckblatt ist von fußmalenden Künstlern gestaltet. Was dahinter kommt? Pauline Mögle wird es wohl nicht erfahren. Vor vier Wochen ist sie ins Backnanger Hospiz gekommen. Bauchkrebs im Endstadium. Das letzte Weihnachten. Was es bringt, weiß sie nicht. „Ich lass mich überraschen.“

Freitag im Advent. Der Schnee hat die Vorgärten gepudert. Vom Bett aus kann man die weißen Dächer der umliegenden Häuser sehen. „Ich leide nicht“, sagt Pauline Mögle. An ihrem Rücken klebt ein kleines Morphiumpflaster, das die Schmerzen unter ihrer gewölbten Bauchdecke betäubt, in der sich Metastasen eingenistet haben. Alle drei Tage gibt es ein neues Pflaster. Sie wird umsorgt. „Es tut gut, wenn die Schwestern kommen und nach meinen Wünschen fragen“, sagt sie. „Auch wenn ich keine mehr habe.“

Pauline Mögle nimmt im Bett einen kleinen Schluck Wasser, ehe sie die Geschichte der Frau erzählt, die sie einmal war, bevor ihr der Krebs harte Züge ins weiche Gesicht geschminkt hat. Sie gehört zu den zähen Naturen. 1932 in Bessarabien geboren, mit neun im großen Treck vor den aufmarschierenden Russen geflohen und in Backnang gestrandet. Mit 14 als Flüchtlingskind ohne Lehre in der Kammgarnspinnerei gearbeitet, mit 18 den Willy kennengelernt. Er war Maschinenschlosser bei Kälble. Die Firma hat ihre gelben Zugmaschinen und Muldenkipper in die ganze Welt verkauft, und der Willy ist mitgegangen auf Montage. Er mochte das. Libyen, Ägypten, Peru. Sie hat sich um die Söhne gekümmert, um Werner und Rainer, und fast alles selbst entschieden, weil kein anderer da war, der entscheiden konnte.

Es ging aufwärts mit Deutschland. Mit 28 das erste Kostüm aus der Backnanger Damenboutique, mit 30 das erste Auto, einen VW-Käfer, mit 38 der erste Urlaub in Italien. Ihr Eigenheim haben sie abgestottert und sich langsam hochgeschafft. Der Willy war am Ende Betriebsleiter bei Kälble. Eine glückliche Ehe habe sie geführt, sagt Pauline Mögle. „Fünfzig Jahre weniger drei Wochen“, schiebt sie hinterher. Der Willy ist früher gegangen. Am 14. Juni 2005 starb er an Krebs. Sie wusste damals noch nichts vom Hospiz. Der Willy hat gekämpft bis zum Schluss. Über eine Magensonde ist er versorgt worden. Medikamente gegen das Unabänderliche. Bittere Zeit.

Pauline Mögle zieht die Decke über ihren karierten Pyjama. „Ich habe keine Angst“, sagt sie. Das liege an ihrem Glauben, der sie hält wie die Gewissheit, das alles geregelt ist und sich alles schon regeln wird. Ihr Willy hat das auch so gesehen. Manchmal hat sie das Gefühl, als würde er hinter ihr stehen. Dann dreht sie sich um, und da ist nichts. Das schmerzt mehr als der im Bauch tobende Krebs. „Vielleicht drehe ich mich bald um, und er ist da“, sagt sie. „Dann erzähle ich ihm, was alles passiert ist. Darauf freue ich mich.“

Mittwoch im Advent. Draußen schmilzt der Schnee. Drinnen schwankt ein betagter Patient auf dem Flur vor Pauline Mögles Zimmer der Küche entgegen. Herr Müller ist wackelig auf den Beinen. „Na, heute wieder Windstärke zehn?“ scherzt Schwester Marion, die ihn stützt. Marion Gremer-Neuwerk ist eigentlich Kinderkrankenschwester. Früher hat sie eine Kinderstation geleitet, jetzt arbeitet sie im Hospiz. „Es ist schön hier“, sagt sie. „Man ist näher an den Menschen.“

Auf kleinen Zetteln sind Vorlieben der Gäste vermerkt

Im Radio läuft Phil Collins. Schwester Marion trällert ein bisschen mit. „Can’t stop loving you.“ Manchmal ist ihr nicht nach Singen. Vor einiger Zeit hat sie eine Frau begleitet, die nur zwei Jahre älter war, und als die Frau starb, kam Schwester Marion an ihre Grenzen. Für solche Fälle gibt es Supervisionen und Rituale. Das Abschiednehmen an den Betten der Verstorbenen gehört für die Mitarbeiter dazu. Zweimal im Jahr gibt es eine Feier für Familien, deren Freunde und Verwandte im Hospiz gelebt haben.

Schwester Marion hat gerade eine Sitzwache organisiert. Einer ihrer Gäste glaubt, dass es heute Nacht so weit ist. Sie lässt sich einen Espresso aus der silbernen Maschine und setzt sich für einen Augenblick an den Küchentisch, neben dem eine kleine Pinnwand hängt. „Herr Müller trinkt gerne Rotwein“, steht auf einem Zettel. „Frau Krause nimmt Milch und Zucker in ihren Kaffee.“ „Frau Bauer isst gerne ein mürbes Hörnchen.“ Notizen für die Ehrenamtlichen, die ins Hospiz kommen. Frühstück richten. Vorlesen. Zuhören. Karten spielen.

Angelika Glock macht das zweimal im Monat. Sie steht in der Küche und erzählt vom gemeinsamen Singen und davon, dass an diesem Ort Wünsche erfüllt werden. Auch was den Speiseplan betrifft. Manchmal riecht das ganze Haus nach Kartoffelpuffer. Heute riecht es nach Gebäck. Auf der orangen Tischdecke mit dem Blumenmuster stehen Plätzchen. Ein Mädchen aus der Max-Eyth-Realschule hat sie gebracht. So was passiert öfter. Angelika Glock lächelt. „Ich hatte früher große Angst vor dem Tod“, sagt sie, „da habe ich mich einfach mal beworben.“ Jetzt sitzt sie in ihrer Freizeit ans Bett von Sterbenden. Sie mag den Tod noch immer nicht, aber ihre Panik ist weg. „Viele hier haben den Frieden im Gesicht, wenn sie gehen“, sagt sie.

Im Schnitt kommt der Tod im Backnanger Hospiz nach 15 Tagen. Heinz Franke kennt solche Zahlen. Er ist der Heimleiter und spricht von seinen Gästen. Einer dieser Gäste blieb nur einen Tag. Ein anderer ist seit fast einem Jahr hier. „Der liebe Gott lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen“, sagt Franke. Früher haben in diesem Haus Mitarbeiter der benachbarten Kreisklinik gewohnt. Franke ließ es umbauen und hat die 900 000 Euro dafür erbettelt. Es hat sich gelohnt. Zimmer mit Nasszellen, Andachtsraum, Wintergarten. Alles ist hell. Terrakottafarben.

Im Oktober 2004 ist das Hospiz fertig gewesen. Mehr als 330 Menschen sind hier auf die letzte Reise gegangen, neunzig Prozent davon Krebspatienten. Es gibt eine Warteliste. Für viele Angehörige sei es nicht leicht, vertraute Menschen zum Sterben ins Hospiz zu bringen, sagt Franke. Sie fühlen sich wie Verräter. Meistens ändert sich das Gefühl. Im Hospiz können die Gäste noch einmal aufatmen, weil sie ihre Schmerzen weitgehend loswerden und die Zeit finden, sich mit dem Leben zu versöhnen – und mit dem Sterben. Davon zeugen zwei bunte Bücher in der Küche. „Danke, dass Sie meiner Mutter ein würdiges Sterben ermöglicht haben“, hat jemand hineingeschrieben. „Danke, dass wir uns hier wohlfühlen durften.“

Pauline Mögle bekommt Besuch. Schwiegertochter Susanne ist aus Frankfurt an der Oder hergeflogen. Sophie und Lisa, die erwachsenen Enkel, sind auch dabei. Lisa bittet Oma Mögle um ihr altes Rezept der schwäbischen Paella. Lisa will es nachkochen. Es klopft an der Tür. Antje Mögle schneit herein, die zweite Schwiegertochter. Sie hat ihre Lena mitgebracht. Lena ist acht Jahre alt. Sie hat ein Kuscheltier und einen selbstgebastelten Stern in der Hand. Lena will Oma das Geschenk lieber schon vor Weihnachten geben. Die todkranke Frau im Bett freut sich.

„Sie ist so ruhig“, sagt Antje Mögle, die Schwiegertochter aus Backnang, als sie sich für einen Moment draußen auf dem Gang die Beine vertritt. Vor vier Wochen hat sie die alte Dame ins Hospiz gebracht. Davor legte Pauline Mögle größten Wert darauf, ihren Schmuck in der Familie zu verteilen. Das Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbrachte, hat sie danach selbst abgeschlossen und ihre letzte Reise aufrecht und mit einer Träne in den Augen angetreten. Sie hatte sich bewusst dafür entschieden. Sie wollte es so. Pauline Mögle war im Juli schon einmal im Backnanger Hospiz. Ihr Hausarzt hatte ihr zugeraten.

In der neuen Umgebung hat sie sich so gut erholt, dass sie noch einmal für vier Monate zurück in ihr Haus gehen konnte. Man versorgte sie ambulant. Der Krebs hat sie begleitet. Diesmal gibt es kein Zurück.

In aller Ruhe besprochen, was am Grab gesungen wird

In aller Ruhe hat Pauline Mögle mit dem Pfarrer und ihrer Schwiegertochter im Hospiz die Kirchenlieder ausgesucht, die bei ihrer Beerdigung gespielt werden sollen. „Jesu, geh du voran.“ Sie hat bestimmt, wer eingeladen und was beim Leichenschmaus serviert wird. „Etwas Gutes“, wünscht sie sich. „Und nicht wieder die Bratwürste, die es sonst oft gibt.“

Pauline Mögle hatte klare Vorstellungen vom Leben, und sie hat klare Vorstellungen vom Tod. „Sie wollte immer selbst entscheiden, und das tut sie auch jetzt noch“, sagt Schwiegertochter Antje. Neulich habe die Witwe wegen ihrer geschwollenen Füße orthopädische Hausschuhe gebraucht. Die kosteten 102 Euro. „Das geben wir aus“, hat Pauline Mögle gesagt, die immer sparen musste. Sie sei sich das wert. Letzter Luxus. Dazu gehört auch, dass sie ihr Essen stehen lässt, wenn ihr danach ist. Dass jemand kommt, wenn sie rauswill. Dass ihr keiner Medikamente gibt, die ihr Sterben verlängern.

Freitag im Advent. Regen wischt den letzten Schnee von den Dächern. „Es ist so düster“, sagt Pauline Mögle. Sie muss sich öfter übergeben und fühlt sich schwach. „Es dauert nicht mehr lange“, sagt sie. Als vor einem Jahr an Weihnachten die Schmerzen im Bauch anfingen, hatte sie noch Hoffnung. Die Hoffnung ist gestorben. Sechs Chemotherapien wollten ihr die Ärzte verordnen. Nach der dritten Infusion hat sie abgebrochen. Es ging nicht mehr. Im Spiegel schaute sie jemand an, den sie nicht kannte. „Ich war mir fremd geworden“, sagt Pauline Mögle.

Im Hospiz ist sie näher bei sich. Die Haare sind noch einmal gewachsen, mit 76. Die Perücke, die sie bekommen hat, liegt jetzt zu Hause. Von ihrem Bett aus telefoniert sie mit ihrer Schwester Maria. Vor einigen Tagen waren die beiden Söhne da und haben ihr gesagt, dass sie alles richtig gemacht habe. Wenn es an Weihnachten passiert, hat sie ihnen mit auf den Weg gegeben, sollen sie mit einem Glas Sekt auf sie anstoßen.

Pauline Mögle ist müde und sinkt in den Schlaf. Sie träumt wieder öfter von Willy.



Wie die Geschichte im Original auf einer ganzen Seite in der Zeitung abgedruckt und mit Bildern und Überschriften ge-layoutet war, können Sie hier als pdf-Datei anschauen: Endstation Leben