Organtransplantationen: das Making-of der der vielen Enthüllungen in der SZ

Wie die Berichterstattung über die letzten Transplantationsskandale begann. Eine Rekonstruktion von Christina BERNDT, Süddeutsche Zeitung

Anfang Oktober 2011 erregte ein anonymer Brief an den Gesundheitsminister und mehrere Gesundheitspolitiker die Gemüter. Ausgerechnet die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) habe die niedrigen Organspendezahlen mitzuverantworten, hatte ein offenkundig kenntnisreicher Insider geschrieben. Die Stiftung ist eigentlich für die Koordinierung sämtlicher postmortaler Organspenden in Deutschland zuständig – von der Feststellung des Hirntods beim Spender bis zum Transport der gespendeten Organe in die Krankenhäuser, in denen die Empfänger liegen. Dafür wird sie von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Der anonyme Briefeschreiber aber warf den beiden damaligen DSO-Vorständen vor, sie verschwendeten diese Krankenkassengelder, statt sie in die Organspende zu investieren, setzten falsche strukturelle Prioritäten, betrieben Vetternwirtschaft und demotivierten ihre Mitarbeiter durch ihren „Führungsstil nach Gutsherrenart“. So würden der Mediziner Günter Kirste und der Kaufmann Thomas Beck die Organspende in Deutschland kaputt machen, die auf einen hohen persönlichen Einsatz der DSO-Mitarbeiter in den Krankenhäusern angewiesen ist.

Die DSO und ihre Vorstände waren alte Bekannte von mir. In zahlreichen Artikeln der vergangenen zehn Jahre hatte ich bereits über Unregelmäßigkeiten in der Transplantationsmedizin geschrieben, die häufig auch die DSO betrafen. Dabei war vor allem der medizinische Vorstand Günter Kirste durch ethische Grenzgänge aufgefallen, über die ich kritisch berichtet habe. Auch wusste ich, dass sich die DSO-Mitarbeiter mitunter wie bei Scientology fühlten. Manche legten sich regelmäßig neue private E-Mail-Accounts zu, weil sie Angst davor hatten, dass ihr Arbeitgeber sie ausspionierte; andere versteckten Unterlagen in Bahnhofsschließfächern.

Wie in der DSO mit Kritikern umgegangen wurde, unterstrich vor allem ein Fall, zu dem noch zahlreiche Akten in meinem Archiv lagerten und auf einen angemessenen Anlass für die Veröffentlichung warteten: Vor ein paar Jahren hatte eine DSO-Mitarbeiterin auf Unregelmäßigkeiten bei einer Hirntodfeststellung in Düsseldorf hingewiesen. Am dortigen Universitätsklinikum wurden einem Mann Organe entnommen, ohne dass alle Protokolle zur Feststellung des Hirntods vorlagen. War dieser womöglich gar nicht ordnungsgemäß diagnostiziert worden? Man sollte meinen, ein solches Vorkommnis würde die Verantwortlichen aufschrecken. Doch statt verbesserter Qualitätskontrolle hatte der Fall vor allem eine sichtbare Folge: Der Frau wurde gekündigt.

Dass die Vorwürfe aus dem anonymen Brief alles andere als haltlos waren, stand für mich also außer Frage. Gleichwohl hatte ich den Anfang der Berichterstattung verpasst. Den hatte eine Redakteurin der „Tageszeitung“ („Taz“) gemacht, die über die DSO schrieb, während ich im Urlaub war. So beschloss ich, den Vorwürfen in einer umfassenden Recherche nachzugehen, die ich schließlich im Dezember 2011 publizierte: Organversagen.

Die DSO, für die sich bis dahin kaum jemand interessiert hatte, hatte durch den anonymen Brief öffentliches Interesse erlangt. Noch wochen- und monatelang beschäftigte mich die DSO, die als privatrechtliche Stiftung keiner staatlichen Kontrolle unterliegt, zusammen mit den übrigen ähnlich undemokratischen Strukturen des deutschen Transplantationswesens.

Von Gewaltenteilung, wie sie das Transplantationsgesetz von 1997 eigentlich vorsieht, kann in der deutschen Transplantationsmedizin nämlich nicht wirklich die Rede sein. Eigentlich ist die DSO wie erwähnt für die Koordinierung der Organspende zuständig. Die Organvermittlung an die passenden Patienten übernimmt die niederländische Stiftung Eurotransplant. Und die Transplantationen selbst nehmen in Deutschland knapp 50 größere Krankenhäuser vor, die dafür eine Zulassung haben. Regeln und beaufsichtigen sollen das Ganze drei Kommissionen, die bei der Bundesärztekammer angesiedelt sind (die „Prüfungskommission“, die „Überwachungskommission“ und die „Ständige Kommission Organtransplantation“). Doch die Szene der Transplantationsspezialisten aus Medizin, Juristerei und Ethik ist klein. So sitzen zahlreiche Akteure in mehreren Gremien. Wer sich bemüßigt fühlt, den anderen zu kontrollieren, der muss fürchten, beim nächsten Mal selbst mit kritischem Blick beäugt zu werden. Noch dazu gehören die Kontroll-Kommissionen bei der Bundesärztekammer als Teil der ärztlichen Selbstverwaltung zum System.

So haben Verfehlungen innerhalb der Transplantationsmedizin – die es sehr wohl auch schon vor den Skandalen der Jahre 2012 und 2013 gab – in der Vergangenheit denn auch kaum Konsequenzen hervorgerufen. Meist legten die Kommissionen der Bundesärztekammer die Fälle ungeahndet zu den Akten oder hoben allenfalls mahnend den Zeigefinger.

Dass die drei Gewalten des Transplantationssystems wenig trennt und vieles eint, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 2006, der unter der SZ-Schlagzeile Eine Niere auf dem kleinen Dienstweg bekannt wurde.

Damals wollte eine Familie in Berlin die Organe des verstorbenen Vaters nur dann spenden, wenn die dialysepflichtige Mutter eine der Nieren bekam. Das menschlich durchaus verständliche Ansinnen verstößt allerdings schlicht und ergreifend gegen das Gesetz. Sogenannte gerichtete Spenden sind verboten. Gleichwohl einigten sich die Vertreter von DSO, Eurotransplant und Ständiger Kommission Organtransplantation am Telefon darauf, dem Wunsch der Familie entgegen dem Gesetz zu entsprechen. Folgen hatte das nicht.
Immer wieder machten Fachleute und kenntnisreiche Journalisten auf solche Mängel im System aufmerksam und forderten mehr Kontrolle und Transparenz für die Transplantationsmedizin. Doch die Rufe verhallten, ohne etwas zu bewirken.

Allerdings erhöhte die mangelnde Aufklärung von Verstößen gegen Recht oder Gerechtigkeit nach und nach den Unmut innerhalb der Szene. Schon Ende 2011, im Zuge meiner Recherchen zur DSO, machten mich Insider darauf aufmerksam, dass es in Göttingen unlautere Vorgänge bei Lebertransplantationen gegeben habe. Es war vor allem von einem Fall die Rede: Ein alkoholkranker russischer Patient soll eine Spenderleber erhalten haben, auf die er als ausländischer Staatsbürger kein Anrecht hatte. Vermögend soll er gewesen sein, und er hatte eigentlich einen Lebendspender mit nach Göttingen gebracht, der ihm ein Stück Leber hätte abgeben wollen. Doch der Begleiter des Patienten konnte aus medizinischen Gründen gar nicht spenden. Statt den Russen aber wieder nach Hause zu schicken, soll der Leiter der Transplantationschirurgie den Hinweisen zufolge mit Tricksereien dafür gesorgt haben, dass der Mann eine Spenderleber von einem Hirntoten bekam, die eigentlich einem anderen Patienten zugestanden hätte.

Der Fall klang spannend. Aber es schien sich nur um einen Einzelfall zu handeln. Deshalb hatte die Sache zunächst nicht die gesellschaftliche Bedeutung wie der Skandal um die DSO. Dort untersuchte eine Wirtschaftsprüfungsfirma im Auftrag des Stiftungsrats inzwischen die betriebswirtschaftlichen und wirtschaftsethischen Vorwürfe aus dem anonymen Brief. In ihrem Abschlussbericht bestätigte sie die Vorwürfe im Kern, doch das sollte nicht bekannt werden: Trotz des öffentlichen Interesses an der Angelegenheit gewährte der Stiftungsrat zunächst keine Einsicht in den Bericht – nicht einmal den Abgeordneten des Bundestags-Gesundheitsausschusses. Dies geschah erst auf massiven Druck. Und als der Prüfbericht schließlich der Presse zugespielt und die Ergebnisse damit weithin bekannt wurden, trat im April 2012 der kaufmännische Vorstand der DSO zurück.

Zugleich wurde im Frühjahr 2012 der Fall Göttingen größer: Meine vielen Gespräche mit Insidern des Organspendewesens und der Transplantationsmedizin erbrachten immer mehr Hinweise, dass es in Göttingen offenbar um mehr als nur einen Patienten ging. Der verantwortliche Leiter der Transplantationschirurgie arbeite inzwischen nicht mehr an dem Klinikum; die Staatsanwaltschaft ermittle, hieß es.

Nach dem Rücktritt des DSO-Vorstands begann ich mich deshalb, intensiver um die Causa Göttingen zu kümmern. Doch auch wenn die Hinweise der Insider valide klangen und die Gerüchte nicht abbrachen, so konnte ich die Story zunächst nicht hart genug bekommen, um sie für meine Ansprüche und die Ansprüche der „Süddeutschen Zeitung“ druckbar zu machen.

Dazu muss man auch wissen, dass in der deutschen Transplantationsszene viele Gerüchte kursieren. Hartnäckig wurde zum Beispiel kolportiert, dass auch ein Chirurg an einem anderen großen deutschen Lebertransplantationszentrum seit Jahren mit unlauteren Methoden Lebern für ausgewählte Patienten beschaffe. Dazu lasse er zum Beispiel Organe, die er für todkranke Patienten bekomme, so lange auf dem Flur liegen, bis sie für die Todkranken nicht mehr taugten. Dann könne er sie unter Umständen jenen noch gesünderen Patienten geben, die er lieber versorgt sehe, hieß es.

Monatelang habe ich mich mit Recherchen zu diesem Chirurgen beschäftigt. Nichts davon wurde druckreif. Schließlich haben auch Prüfer der Bundesärztekammer-Kommissionen das betreffende Zentrum besucht und dort keinerlei Fehlverhalten festgestellt. Vielmehr habe das Zentrum sämtliche Transplantationen in vorbildlicher Weise dokumentiert, hieß es. Andere große Medien haben später ebenfalls gegen diesen Chirurgen recherchiert, ohne dass sie die Vorwürfe bestätigen konnten.

Bei allen Hinweisen aus der Szene galt es also zu bedenken: Viele Transplantationsmediziner sind einander spinnefeind. Ruhm und Ehr, aber auch Neid und Konkurrenzdruck sind unter diesen Ärzten groß. Wenn schon die gewöhnliche Chirurgie als Königsdisziplin der Medizin gilt, so wird sie von der Transplantationschirurgie noch getoppt, wo in atemberaubenden Operationen zwei menschliche Schicksale völlig neu miteinander verknüpft werden.

Handelte es sich in der Causa Göttingen also ebenfalls nur um böse Gerüchte?

Zunächst hatte das den Anschein. Meine ersten Recherchen liefen auch hier ins Leere. Mitte April 2012 fragte ich bei der Staatsanwaltschaft in Göttingen und der für Korruptionsfälle zuständigen Staatsanwaltschaft in Braunschweig an, ob tatsächlich gegen den ehemaligen Leiter der Göttinger Transplantationschirurgie ermittelt werde.

Sie könne meine Frage nicht bestätigen, antwortete mir die zuständige Staatsanwältin am 15. April. Wie sie mir später entschuldigend sagte, hatte sie damals die Ermittlungen nicht gefährden wollen. In den Augen der Ermittler habe Flucht- und Verdunkelungsgefahr bestanden. Auch stand der Kreis der möglichen Verdächtigen noch längst nicht fest. Er wurde später von dem einen Transplantationschirurgen um den leitenden Internisten des Klinikums und mehr als 20 weitere Beteiligte ausgeweitet.

Bedeckt hielt sich auch das Universitätsklinikum Göttingen. Ja, der Transplantationschirurg arbeite nicht mehr dort. Aber man habe sich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt, hieß es lapidar. Mehr könne man nicht dazu sagen, weil das so im Aufhebungsvertrag festgelegt sei.

Am 14. Juni las ich dann in meiner eigenen Zeitung eine Meldung. Die Nachrichtenagentur dapd hatte ohne Verweis auf eine Quelle gemeldet, dass es in Göttingen womöglich einen Fall von Organhandel gegeben habe. Hintergrund war offenbar ein erster Bericht im „Göttinger Tageblatt“. Da die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen nunmehr bestätigte und andere Journalisten von den Vorwürfen gehört hatten, veröffentlichte ich meine inzwischen recht konkreten Kenntnisse zu dem einen Fall des russischen Patienten am 16. Juni. In diesem Artikel verwies ich auch darauf, dass der verantwortliche Arzt schon früher an seiner Wirkstätte in Bayern aufgefallen war. Er war als Oberarzt in der Regensburger Transplantationschirurgie tätig gewesen.

Im Jahr 2005 verpflanzte der Mann einer Patientin in Jordanien eine Leber, auf die ein europäischer Patient Anspruch gehabt hätte. Aufgrund falscher Angaben war die Leber in die jordanische Hauptstadt Amman gebracht worden. Die Geschichte flog zwar auf, aber aus dem Fall waren damals – wie quasi üblich im deutschen Transplantationswesen – keine Konsequenzen gezogen worden. Das Universitätsklinikum unternahm nichts gegen die beteiligten Ärzte; die Ärztekammer-Kommissionen stellten Fehlverhalten fest, ohne zu sanktionieren; die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein.

Einen Hinweis, dass es in Göttingen um weit mehr als einen Fall gehe, verkniff ich mir in meinem ersten Artikel jedoch. Das Interesse anderer Medien blieb somit verhalten.

Dafür machte ich mich mit verstärktem Einsatz an die große Geschichte, die das ganze Ausmaß der Unregelmäßigkeiten von Göttingen darstellen sollte.

Die Recherchen verliefen weiterhin zäh. Die Staatsanwaltschaft bestätigte nur den einen Fall. Das Universitätsklinikum Göttingen blieb bei seiner abwiegelnden Haltung. Investigative Recherchen auf dem sensiblen Feld der Transplantationsmedizin sind ohnehin besonders schwierig, weil ein ausgesprochener Korpsgeist unter den Chirurgen herrscht, der nur selten etwas nach außen dringen lässt. Whistleblower werden gemeinhin geächtet. Viel Fingerspitzengefühl und über Jahre aufgebautes Vertrauen sind daher nötig, um Details zu erfahren.

An Akten und Schriftstücke, wie sie üblicherweise Grundlage investigativer Berichterstattung sind, war quasi nicht heranzukommen – schon weil die Szene der Eingeweihten in der Transplantationsmedizin so verzahnt und so klein ist, dass schnell herauskommen kann, wer die Unterlagen herausgegeben hat. Außerdem war das Interesse an Öffentlichkeit auch unter kritischen Insidern gering. Schließlich war zu erwarten, dass die Enthüllungen die ohnehin schon nicht besonders ausgeprägte Bereitschaft zur Organspende in der deutschen Bevölkerung wohl auf ein Minimum senken würde.

Dann aber, vom 15. bis zum 19. Juli 2012, fand ein gigantischer Transplantationskongress in Berlin statt. Die International Transplantation Society tagte gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Transplantationsmedizin im Internationalen Kongresszentrum. Dort würde es im kleinen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Kreis der DTG-Mitglieder auch den üblichen Bericht aus der Prüfungs- und der Überwachungskommission geben. Soviel wusste ich – und flog nach Berlin.

Dort gelang es mir, mit vielen Fachleuten noch einmal persönlich zu sprechen. Ich traf mich auf Hotelzimmern und in Privatwohnungen und bewegte mich zugleich durch den Kongress, als kenne ich kaum jemanden. Das Mitteilungsbedürfnis der Ärzte war inzwischen weiter gewachsen. Kenner der Szene ärgerten sich darüber, dass auch dieser Skandal nach dem Willen der Transplant-Funktionäre wie so viele Skandale zuvor möglichst nicht den Weg an die Öffentlichkeit finden sollte. Wahrscheinlich, fürchteten sie, werde es wieder keine Aufklärung und keine Bestrafung der Verantwortlichen geben. Wie auch damals schon im Fall Jordanien; wie bei der Niere auf dem kleinen Dienstweg; wie bei der fragwürdigen, bereits erwähnten Hirntoddiagnostik von Düsseldorf. Gerade dieser letzte Fall verdeutlicht auf eklatante Art, wie schleppend die Aufklärung oft verlief. Denn die gekündigte DSO-Mitarbeiterin hatte von den Ereignissen auch die Prüfungskommission in Kenntnis gesetzt. Diese prüfte lange vor sich hin – und teilte der Krankenschwester am Ende lapidar mit: Die Vorwürfe seien jetzt verjährt.

Während des Transplantationskongresses in Berlin aber las der Vorsitzende der Ständigen Kommission Organtransplantation, der Juraprofessor Hans Lilie von der Universität Halle, den anwesenden Fachleuten zur Überraschung vieler die Leviten. Er mahnte, sich bei der Meldung leberkranker Patienten für die Warteliste an die Richtlinien zu halten, und verwies auf eine ganze Reihe von Leber-Schiebereien am Universitätsklinikum Göttingen.

Er gab nicht viele Details preis. Doch das, was er sagte und was mir gleich nach der Sitzung mehrere Informanten zutrugen, deckte sich mit meinen Recherchen. Mit dieser Bestätigung konnte ich zielgerichtet und erheblich aggressiver weiterfahnden und so die letzten Lücken schließen. Die Zeit für die Veröffentlichung war endlich reif.
Den Chefredakteuren und Nachrichtenchefs der SZ war die Durchschlagskraft des Themas sofort klar. Mutmaßliche Betrügereien mit menschlichen Organen, Missbrauch der Organspendebereitschaft? Das war von erheblicher Brisanz – zumal die hohe Politik erst wenige Wochen zuvor selbstzufrieden ihre Novelle des Transplantationsgesetzes beschlossen hatte, ohne darin den Forderungen nach mehr Kontrolle und Transparenz nachzukommen. Klar war auch: Das Thema würde einigen Platz benötigen. Ich hatte inzwischen so viele Details zu den Vorgängen gesammelt, ich wusste so viel über die Hintergründe der Schiebereien – das musste erklärt werden. Noch dazu ist die Materie hochkomplex. So entschieden wir uns für eine umfassende Berichterstattung auf der „Wissen“-Seite vom 20. Juli 2012. Angekündigt aber wurde die Story mit dem Aufmacherbild auf der Titelseite der SZ – ein ungewöhnlicher Schritt für unsere Zeitung, der der Geschichte gewiss zu weiterer Aufmerksamkeit verhalf.

Die Aufmachung war zweifelsohne gerechtfertigt. Schließlich handelte es sich um den wohl größten Skandal, den es in der deutschen Transplantationsmedizin je gegeben hat. Reihenweise waren in Göttingen Krankendaten gefälscht worden, um Patienten eine Spenderleber zuzuschieben, die noch gar nicht an der Reihe waren. Dazu wurden Laborwerte manipuliert und fälschlicherweise Dialysen angegeben. So erschienen die Patienten kränker, als sie in Wirklichkeit waren. Andere Patienten haben dadurch verspätet und womöglich nicht mehr rechtzeitig eine Leber erhalten. Denn wer ganz oben auf der Warteliste für eine Lebertransplantation steht, ist gemeinhin todkrank.

Seit Januar 2013 sitzt der mutmaßliche Haupttäter von Göttingen deshalb wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags in Untersuchungshaft. Er habe wissentlich in Kauf genommen, dass manche übergangenen Patienten sterben würden, stellte die Staatsanwaltschaft Braunschweig fest. Anfang Mai wird voraussichtlich Anklage erhoben.

Fast alle großen Medien stiegen nach dem SZ-Artikel vom 20. Juli in die Berichterstattung ein. Manche große Tageszeitung versuchte das von der Konkurrenz gesetzte Thema zunächst noch zu ignorieren. Doch die Debatte nahm mit jedem Tag mehr Fahrt auf und beschäftigte von Anfang an auch den Gesundheitsminister. Die Magazine arbeiteten mit ganzem Einsatz: Der „Stern“ aktivierte sofort zehn Redakteure, von denen er zahlreiche nach Göttingen entsandte, der „Spiegel“ setzte drei Leute an die Story, der „Focus“ ebensoviele. Dennoch konnte ich aufgrund meiner monatelangen Vorarbeit und den zahlreichen Kontakten, die ich seit Jahren in die Transplantationsszene hatte, die Berichterstattung wochenlang beherrschen – zumal sich meine durch den DSO-Skandal ebenfalls sehr gut vernetzte Kollegin Heike Haarhoff von der „Taz“ zu dieser Zeit im Sommerurlaub befand.
Nachdem die ersten Tage nach der Veröffentlichung durch Reaktionen aus der Politik geprägt waren, legte ich am 26. Juli nach. In meinem Text „Eine Leber für Jordanien“ enthüllte ich zahlreiche Details zu dem bereits erwähnten Leber-Klau aus dem Jahr 2006. Ich bekam den bis dahin streng geheim gehaltenen Bericht der Prüfungs- und Überwachungskommission zur Regensburg-Amman-Connection zugespielt, der das Ausmaß der schon damals in Regensburg stattgefundenen Unregelmäßigkeiten verdeutlichte – und auch den mäßigen Aufklärungswillen der Staatsanwaltschaft.

Immer mehr Details kamen an den Tag. So erhielt der Göttinger Chirurg für seine Lebertransplantationen unter bestimmten Umständen Bonuszahlungen. Schon bald wurde auch klar: Das konnte nicht ein Arzt allein gewesen sein. Insider machten mich darauf aufmerksam, wie eng Internisten und Chirurgen in Sachen Lebertransplantation zusammenarbeiten. Ich begann, in Göttingen gegen den dort zuständigen Internisten zu recherchieren. Wenig später gab das Universitätsklinikum bekannt, dass es diesen Arzt beurlauben werde. Die Staatsanwaltschaft weitete den Kreis der Tatverdächtigen um diesen Mann aus.

Und in Regensburg? Dort wollte der Chef der Chirurgie nichts von den Machenschaften seines untergebenen Oberarztes in Sachen Jordanien gewusst haben. In der SZ arbeitete ich die enge Verbundenheit des Chefarztes mit dem mutmaßlichen Einzeltäter aus. Beide waren stark in die auch unter ethischen Gesichtspunkten fragwürdige Kooperation mit einer Privatklinik in Jordanien involviert. Auch wies ich darauf hin, dass der Chefarzt nicht nur der Doktorvater des Verdächtigen war, sondern auch der Doktorvater von dessen Ehefrau – einer Zahnärztin, die zum Thema Leberkrebs promoviert haben wollte! Später stellte sich heraus, dass die Doktorarbeit der Zahnärztin aus dem Jahr 2006 ein Plagiat der Doktorarbeit ihres Ehemannes aus dem Jahr 2004 ist. Der Chefarzt der Chirurgie wollte auch das nicht bemerkt haben.

Bald darauf kamen in Regensburg fast 50 Leber-Schiebereien aus der Zeit ans Licht, zu der der mutmaßliche Haupttäter von Göttingen dort arbeitete. Der Regensburger Chirurgie-Chef wurde beurlaubt, durfte aber Ende 2012 wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren, weil ihm „keine Verletzungen von Dienstpflichten“ nachzuweisen seien, wie das Universitätsklinikum mitteilte. Nur wegen des Plagiats der Zahnärztin bekam er Ärger mit seinem Dienstherrn: In diesem Fall habe er seine Sorgfaltspflicht verletzt und somit „gegen arbeitsvertragliche Pflichten verstoßen“, stellte die Universität fest.

Derzeit steht der Chefarzt wieder unter Druck. Die SZ berichtete im März 2013 über eine wissenschaftliche Publikation, derzufolge in seiner Abteilung auch nach dem Weggang des Hauptverdächtigen in großer Zahl Alkoholkranke transplantiert wurden, die noch nicht die erforderlichen sechs Monate trocken waren. Hintergrund dieser Regel ist, dass Alkoholiker mit einer kürzeren Karenzzeit schnell wieder zur Flasche greifen und das Spenderorgan deshalb auch leichter verlieren als andere Transplantierte. Genau das konnte der Chefarzt in der Publikation denn auch bestätigen. Derzeit befassen sich auch die Prüfungs- und die Überwachungskommission mit diesen frei von der Leber weg berichteten Verstößen gegen die Transplantations-Richtlinien.

Es sollte nicht bei Göttingen und Regensburg bleiben. Noch während meines Urlaubs im August hörte ich, dass es offenbar auch am Klinikum rechts der Isar, das zur Technischen Universität München gehört, Unregelmäßigkeiten bei Lebertransplantationen gegeben haben soll. Das stand auch so in einem anonymen Brief, der mich erreichte und als Absender ironischerweise den Direktor der dortigen Chirurgie trug. Aus dem Urlaub sprach ich in einer Telefonkonferenz mit dem Ärztlichen Direktor und dem Leiter des Transplantationszentrums am Rechts der Isar. Gemeinsam zerstreuten sie meine Bedenken. Die Auffälligkeiten seien leicht als Fehler zu erklären.

Manipulationen? Nein, die habe es nie gegeben, hieß es. Ich gab mich damit erst einmal zufrieden, zumal ich nichts Hartes in der Hand hatte.

Ende September aber teilte die Bundesärztekammer mit, dass ihre Prüfer am Rechts der Isar mehrere Auffälligkeiten gefunden hätten und nun eine Sonderprüfung anstehe.

Während andere, bislang kritische Zeitungen offenbar unter dem Eindruck ähnlicher Gespräche mit dem Ärztlichen Direktor und dem Leiter des Transplantationszentrums, wie ich es im August geführt hatte, schrieben, man müsse auch nicht jeden Fehler zum Skandal machen, brachten mich die von mir recherchierten Details und die Berichte meiner Informanten zu einer anderen Auffassung. Am Rechts der Isar waren demnach zumindest in einigen Fällen mit erheblichem Vorsatz Lebern an Patienten vergeben worden, die sie nicht hätten bekommen dürfen. Dazu wurden sogar Blutproben mit Urin gepanscht. Das räumte die Klinikleitung später auch ein, nachdem sie zunächst bei der Version geblieben war, es habe sich lediglich um einige wenige entschuldbare Versehen gehandelt: Münchner Krankenhaus unter Manipulationsverdacht.

Zunehmend wurde somit deutlich, dass der Arzt arabischer Herkunft, den seine Ärztekollegen gerne als alleinverantwortlich für die Manipulationen von Göttingen und Regensburg hinstellten, keineswegs ein Einzeltäter war. Auch anderswo war bei den Lebertransplantationen in den vergangenen Jahren nicht alles nach Recht und Gesetz verlaufen. Nach und nach zeigte sich, dass die Führungsspitze am Rechts der Isar lange von den Manipulationen gewusst hatte, die zum Teil Jahre zurücklagen, und auch intern auf diese Vorgänge hingewiesen worden war. Es hat offenbar kein allzu großer Aufklärungswille bestanden.

Der einzige Klinikdirektor des Rechts der Isar, der schon damals Konsequenzen aus den Manipulationen ziehen wollte, wurde dagegen aus seinem eigenen Haus gebrandmarkt. Er habe sein Wissen nicht mit anderen geteilt, hieß es, und habe die Dokumente in seinem Schreibtisch verschlossen – womöglich, um sie eines Tages für Machtkämpfe zu benutzen. Auf diese Darstellung fiel auch ich herein, zumal der betroffene Klinikdirektor unter dem großen Druck, unter dem er stand, Angst hatte, mit mir zu sprechen. Er gab mir auf meine Anfrage zu den angeblich weggeschlossenen Akten auch nicht den leisesten Hinweis, dass die Darstellung seines Arbeitgebers womöglich nicht der Wahrheit entsprechen könnte. Schließlich hatte das Klinikum ein Disziplinarverfahren gegen ihn angestrengt, weil er angeblich nicht genug für die Aufklärung der Unregelmäßigkeiten getan habe.

Dabei hatte dieser Klinikdirektor unermüdlich darauf hingewiesen, dass es sich seiner Ansicht nach um vorsätzliche Manipulationen gehandelt hat. Er hatte auch den Ärztlichen Direktor informiert, woraufhin dieser schriftlich festhielt, es sei „kein Fehlverhalten“ festzustellen, wie wenig später der „Bayerische Rundfunk“ berichtete.
Die Bundesärztekammer-Kommissionen kommen in ihrem noch unveröffentlichten Abschlussbericht zu den Vorgängen am Rechts der Isar denn auch zu einem unfreundlichen Schluss: Die Klinikleitung habe der notwendigen Aufklärung im Wege gestanden, berichtete die SZ jüngst aus dem Bericht. Der Vorfall sollte offenbar nicht an die Öffentlichkeit kommen.

Das Rechts der Isar sollte nicht das letzte Klinikum sein, an dem es einen Transplantationsskandal gab. Am Neujahrstag 2013 räumte der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Leipzig ein, dass es auch in seinem Haus eine stattliche Reihe von Manipulationen gegeben hat, die man nur als vorsätzlich werten könne. Fast schon serienmäßig wurde dort – bei insgesamt 38 Patienten – fälschlicherweise angegeben, sie hätten dialysiert werden müssen.

Einige wenige Richtlinienverstöße wurden später auch aus Erlangen und vom Klinikum Großhadern der Universität München bekannt. In Erlangen sollen sie auf „Schusseligkeit“ zurückzuführen sein, wie ein Mitglied der Ärztekammer-Kommissionen der SZ sagte; und das Klinikum Großhadern wehrt sich vehement gegen den Vorwurf des Richtlinienverstoßes bei manchen Patienten mit Leberkrebs. Die Richtlinien könnten durchaus so interpretiert werden, wie dies in Großhadern geschehen sei.

Wie viele Manipulationen letztlich auch aufgeklärt werden – eines ist gewiss festzuhalten: Hätten die für Unregelmäßigkeiten in der Transplantationsmedizin zuständigen Bundesärztekammer-Kommissionen in der Vergangenheit ein größeres Interesse an einer wirksamen Verfolgung von Gesetzes- und Richtlinienverstößen gehabt, so hätten sie die aktuellen Skandale wohl verhindern können. Ärzte wären sich bewusst gewesen, dass Manipulationen bei der Meldung von Patienten für die Warteliste kein Kavaliersdelikt sind. Das zeigt sich auch daran, dass die Verstöße in Leipzig im Jahr 2012 von heute auf morgen aufhörten, ohne dass sich an der dortigen Personalsituation etwas geändert hätte.

So aber musste erst der größte Skandal in der Geschichte der deutschen Transplantationsmedizin passieren, damit sich – schließlich doch – etwas änderte. Nachdem die Vorfälle von Göttingen und Regensburg bekannt geworden waren, kam politisch endlich manches in Bewegung.

Inzwischen gibt es tatsächlich mehr Kontrolle über die Transplantationsmedizin. Regelmäßig werden die Ärztekammer-Kommissionen die deutschen Transplantationszentren mit nur einem Tag Vorankündigung besuchen und prüfen, ob dort alles mit rechten Dingen zugeht. Auch die DSO wird stärker kontrolliert. Sie erhält einen neuen Stiftungsrat, in dem weniger Ärzte sitzen, dafür aber von Bund und Ländern legitimierte Vertreter.

Tatsächlich soll es auch mehr Transparenz geben: Die Prüfungs- und die Überwachungskommission bei der Bundesärztekammer wollen ihre Jahresberichte veröffentlichen. Allerdings sind die darin enthaltenen Informationen bislang so anonymisiert und so verkürzt gewesen, dass sie keinen echten Einblick ermöglichen in das, was in Deutschlands Transplantationszentren regelwidrig geschieht und wie es geahndet wird. (Falls es geahndet wird).

Eine „Vertrauensstelle Transplantationsmedizin“ soll bei der Bundesärztekammer ein offenes Ohr auch für anonyme Hinweise auf Fehlverhalten in diesem sensiblen medizinischen Bereich haben.
In den Kliniken dürfen nicht mehr einzelne Ärzte über die Meldung von Patienten für die Warteliste entscheiden. Vielmehr soll ein Mehr-Augen-Prinzip gelten.

Bonus-Zahlungen an Ärzte zur Steigerung der Transplantationszahlen gelten jetzt als pfui.
Wie befürchtet ist zudem die Spendebereitschaft der Bevölkerung dramatisch gesunken. Sie ließ schon nach den Skandalen um die DSO nach, befindet sich aber seit Bekanntwerden der Manipulationen von Göttingen, Regensburg, München und Leipzig im steilen Sinkflug. Immerhin: So vertrauenswürdig wie zur Zeit war die deutsche Transplantationsmedizin wahrscheinlich noch nie. Wer Organspende gut und sinnvoll findet, der kann jetzt wohl davon ausgehen, dass seine Organe auch den Regeln entsprechend an die Bedürftigen verteilt werden. So bleibt die Hoffnung, dass die bislang mit Hybris, Eitelkeiten und Gier vergällte Transplantationsmedizin zu dem wird, was eine Medizin sein sollte, die auf die Solidarität der Bevölkerung angewiesen ist: eine Sparte der Menschlichkeit, Redlichkeit und des Vertrauens.

All das ist nicht nur der Arbeit der Medien und ihrer Wächterfunktion zu verdanken. Dank dafür gebührt auch den zahlreichen Ärzten, Juristen, Pflegern und anderen Kennern der Transplantationsszene, die sich aus der Deckung wagten und Journalisten auf die Skandale aufmerksam machten. Ohne ihre Mithilfe und ohne dass sie persönliche Risiken für Repressalien und Ausgrenzung auf sich nahmen, hätten wir Journalisten unsere Arbeit nicht machen können. All meinen Informanten möchte ich an dieser Stelle deshalb noch einmal herzlich danken – für die wichtigen Informationen, aber auch für die Ratschläge, die Hilfestellung, die Kritik, das Eröffnen neuer Blickwinkel und das Vertrauen, das sie mir entgegengebracht haben.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2013

Die Menschen hinter dieser Geschichte: