Wie das Göttinger Tageblatt den Göttinger Skandal enthüllte

Ein Making-of des Zeitungsredakteurs Jürgen GÜCKEL

Tur-Tur, der Scheinriese – ein Prolog

Den Herrn Tur-Tur, den Scheinriesen aus der Augsburger Puppenkiste, gibt es wirklich. In Lokalredaktionen kommt er in der Gestalt anonymer Hinweise vor: Riesen-Geschichten, die umso kleiner werden, je näher man ihnen kommt. Kaum nimmt man die Recherche auf, schon relativiert sich, was der anonyme Tippgeber, Whistleblower, Anzeigeerstatter oder Enthüller als veröffentlichungswürdigen Skandal offeriert. Meist fallen die Vorwürfe schnell in sich zusammen. Sie sind weder justiziabel noch von irgendeiner Seite zu bestätigen. Sie entpuppen sich als Ausgeburt einer allzu regen Fantasie, sind Produkte stadtbekannter Querulanten, enthalten Rache-Verleumdungen gegen ehemalige Arbeitgeber, sollen verdeckt eingesetzt werden im Familien- oder Rechtsstreit oder haben das Ziel, die Zeitung für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Selbst wenn sich als wahr herausstellt, was da als Skandal beschrieben wird, ist es nicht immer öffentlich relevant. Wen unserer Leser geht ganz privater Streit etwas an? 80, vielleicht gar 90 Prozent dieser Tipps – die anonymen wie auch die von denen, die anonym bleiben wollen – enden nach einigem Rechercheaufwand im Papierkorb: „totrecherchiert“ heißt das bei uns.

Muss man als Journalist all diesen Tur-Tur-Tipps also nachgehen? Ja, man muss! Manchmal ist eine Perle dabei, und dann hat man sie exklusiv. In einer Lokalredaktion wie der des Göttinger Tageblattes gehen wöchentlich vier, fünf solcher Hinweise ein. Oft gleich versehen mit der Drohung, wenn wir nicht darüber schreiben, dann die Bild. Vielfach sind es seitenlange Pamphlete. Das reicht von wirren Schilderungen, dass man sich allabendlich durch den Nachrichtensprecher im Fernsehen ausspioniert fühlt (wandert in den Rundordner), bis zum Hilferuf eines anonymen Rentners, dessen Frau nach 55 Jahren Ehe im Krankenhaus verschwunden sei und die Klinik jede Auskunft verweigere. Bestimmt sei sie längst tot, die Enkel plünderten schon das Erbe. Immerhin hat er den Namen der Vermissten genannt. Das Tageblatt findet sie nach langer Recherche im Frauenhaus. Sie hatte genug von ihm. Hier springt für den Leser wenigstens eine Glosse heraus.

Früher kamen die Tipps ohne Unterschrift mit der Post oder telefonisch, später per Fax mit unterdrückter Nummer, heute über die Internetseiten der Zeitung. „Ihr Kontakt zur Redaktion“ heißt das Werkzeug bei uns.

Rückrufnummer und E-Mail-Adresse werden automatisch abgefragt. Nicht selten, dass sie lauten wie jener Kontakt am Sonntagabend, 10. Juni 2012: Telefon 12345, Mailadresse anonym@anonym.de. Mit diesem Leserhinweis an die Lokalredaktion fing alles an.

Phase eins – der Hinweis

Diesmal ist alles anders. Dabei beginnt der Text mit den typischen Tur-Tur-Worten: „vielleicht ist das interessant für sie“. Es folgt auf nur sechs Zeilen der „Verdacht, dass Prof. O. mit Lebern handelt“. Und: Er habe sich „wohl in das Ausland abgesetzt“. Ein Insidertipp? Die genaue Arbeitsstelle („Universitätsmedizin Göttingen Georg-August-Universität, Abt. Allg.-u.-Visceralchirurgie, Abt. Transplantationschirurgie“) ist fehlerfrei angegeben.

Montagmorgen findet sich die weitergeleitete Mail im Ordner des Polizei- und Gerichtsreporters. Eine halbe Stunde und vier Telefonate später stehe ich schon in der Tür der Lokalchefin Britta Bielefeld und kündige ihr an: „Kannst Du einplanen, die Sache stimmt.“ Die Pressestelle des Klinikums hat notgedrungen bestätigt, dass man sich von Prof. O. getrennt habe und kündigt für den Nachmittag eine Erklärung an. Die Staatsanwaltschaft – routinemäßig fragt man auch bei der Schwerpunkt-Sta für Korruption in Braunschweig nach – hat, wenn auch detailarm, Ermittlungen bestätigt. Es gehe um den Verdacht der Bestechung und Bestechlichkeit.

Phase zwei – die Recherche

Mehr als eine Meldung wäre wohl nicht heraus gekommen, hätte ich mich allein auf diese Quellen verlassen. Am Nachmittag kommt eine dürre Mitteilung der Uni-Medizin, nicht länger als der anonyme Hinweis. Von Auflösungsvertrag ist die Rede und von „gegenseitigem Einvernehmen“. Keine weitere Auskunft aus personalrechtlichen Gründen. Das habe „nichts mit dem von Ihnen avisierten Thema Organhandel zu tun“. Es seien „keine Ermittlungen in diese Richtung bekannt“.

Doch zwischen „kannst du einplanen“ und der offiziellen Uni-Mitteilung liegen nicht nur vier Polizeimeldungen (Messer im Schenkel, Diebe stehlen Tresorwürfel, ...) und der Bericht von den Feuerwehr-Gemeindewettkämpfen des Wochenendes, also die Tagesroutine des Lokalredakteurs, sondern auch mehrere Dutzend Telefonate. Vom Leber-Chirurgen, den man mal im Urlaub kennengelernt hat, über Krankenschwestern, technisches Personal, Anästhesisten bis zum längst emeritierten Medizinprofessor oder dessen Witwe wird jeder angerufen, der weiterhelfen kann. Stochern im Nebel, aber im Gegensatz zu vielen anderen Recherchen mit einem Packende, an dem man sich festhalten kann – dem bestätigten staatsanwaltschaflichen Ermittlungsverfahren.

Viele der Angerufenen wissen gar nichts, kennen aber jemanden, der was wissen könnte. Viele, eigentlich alle, wollen anonym bleiben. Einige haben etwas gehört, andere wissen etwas mehr. Drei bestätigen die Angaben des Hinweisgebers – und wollen ungenannt bleiben. Das Bild rundet sich, ist aber längst nicht vollständig. Das Ergebnis wird Aufmacher im Lokalteil am Dienstag, 12. Juni 2012 (siehe Text). Mit kurzem nachrichtlichen Text und Foto machen wir auch die Titelseite damit auf. Die wird, obwohl wir den Mantelteil der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) bekommen, fast immer regionalisiert.

Zwischenphase eins – die journalistischen Grundlagen

Zwei entscheidende Fragen hat sich jeder Journalist bei jeder Recherche zu stellen: 1. Ist die Geschichte journalistisch relevant? Denn du sollst den Leser nicht langweilen. 2. Gibt es ein öffentliches Interesse? Das brauchst du, wenn die Gefahr besteht, dass ein Beschuldigter identifiziert werden kann. Beides liegt hier auf der Hand. Das Thema Organspendenmangel wurde – auch politisch – selten intensiver diskutiert. Die Staatsanwaltschaft hat mit der Eröffnung des Verfahrens bereits von Amts wegen bestätigt, dass ein öffentliches Interesse besteht.

Zwischenphase zwei – juristische Absicherung

Schnell ist klar, dass eine Identifizierung des Verdächtigen unvermeidlich ist. Nach einigen Klicks mit den richtigen Suchbegriffen, ist man im Netz auf Seiten mit Name, Foto, OP-Dokumentationen und beruflichem Werdegang des Verdächtigen. Rückendeckung gibt der Justiziar des Madsack-Verlages, der in Zweifelsfällen stets befragt wird. Hilfreich ist auch das vom Kollegen Matthias Heinzel erstrittene Urteil des Oberlandesgerichts Braunschweig (AZ: 2U45/07): Heinzel und ich hatten über einen Medizinprofessor mit Kinderpornografie auf dem Dienstrechner geschrieben. Aus den geschilderten Umständen war der Verdächtige für einen kleinen Kreis identifizierbar. Der Prof. hatte gegen uns geklagt. Das Gericht hatte Merkmal für Merkmal dieser Identifizierbarkeit auf Relevanz abgeklopft und festgestellt: Der Leser hat das Recht, über Geschlecht, Alter, medizinischen Rang und Reaktionen der Uni auf den Verdacht etwas zu erfahren – alles Angaben, die ihn, kombiniert man sie, identifizierten. Aber wir durften, ja mussten sie trotzdem schreiben.

Damals haben wir uns auch entschieden, den Namen des Verdächtigen nur abgekürzt zu bringen, was wir bis heute durchhalten. Wir sind deshalb – anders als viele Zeitungen - von ihm nie juristisch belangt worden. Sein Foto haben wir gepixelt.

Zwischenphase drei – motivierendes Störfeuer

Für erfahrene Journalisten ist jede windelweiche Presseerklärung ein Aufruf zu tieferer Recherche. Motivierend wirkt auch, wenn gerade an dem Tag, an dem man die mutmaßlichen Vergehen eines Arztes recherchiert, die Internetseite seiner Abteilung abgeschaltet wird. Versehen mit dem Hinweis „hihi!“, schickt mir um 17.18 Uhr die Lokalchefin den Screenshot der „Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie“. Darauf heißt es „Wir aktualisieren...“ Alle am Vormittag zugänglichen Informationen über die Struktur der Abteilung sind nun unerreichbar. Auch diverse Anrufe beim früheren Arbeitgeber des Verdächtigen in Regensburg stoßen auf eine Mauer des Schweigens. „Wer?, O.? Da sage ich nichts“, lautete einer der verdächtigen Sätze. Wochen später sollte sich klären warum. Am Abend dann versucht eine Kollegin aus der eigenen Redaktion zu erfahren, was ich für den nächsten Tag zu veröffentlichen beabsichtige. Sie ist von Freunden auf meine Fährte gesetzt worden - Zahnärzte, in deren Praxis die Ehefrau des Verdächtigen arbeitet, die ich seit Stunden zu erreichen versuche. Wenig später ruft die Ehefrau tatsächlich selbst zurück, um mich zu beknien, doch mit „Rücksicht auf die Kinder“ nichts zu veröffentlichen. Alles sei Lüge, eine Intrige der Kollegen – ein Argument, das ich in Universität und Klinik oft gehört habe. Zehn Tage nur soll ich stillhalten, dann sei alles restlos aufgeklärt. Inzwischen weiß ich längst: O. befindet sich auf Jobsuche im arabischen Ausland, fraglich, ob er wiederkommt.

Erst am Abend fällt die endgültige Entscheidung, die Chefredakteurin nickt den Text ab: Wir werden die Geschichte bringen. Den Partnerzeitungen des Verlages mailen wir sie noch – zu spät. Sie findet dort keine Berücksichtigung mehr. Wir haben sie exklusiv. Der Stein fällt ins Wasser.

Phase drei – die Folgeberichterstattung

DPA berichtet gegen Mittag des Folgetages. Kollege Matthias Brunnert nimmt Bezug auf das Göttinger Tageblatt. Jetzt melden sich auch die Madsack-Kollegen. Sie wollen mehr. Überregionale Zeitungen fragen an. Ich verweise auf DPA. Ein Fernsehsender versucht, mich vor die Kamera zu bekommen, um Bilder zu kriegen, wie einer über die anonymen Informanten spricht, die der Sender selbst nicht auftreiben kann. Ich lehne ab. In den nächsten Tagen werden noch viele überregionale Medien anfragen, einige Wochenmagazine darunter, die von mir eigentlich nur bestätigt haben wollen, dass jene Tageszeitungen, die mit dem Thema groß aufgemacht haben, doch wohl übertrieben haben - „oder?“. Eine Sonntagszeitung – keine aktuelle Konkurrenz – bietet Informationen an, dafür liefere ich meine Rechercheergebnisse. Nur ein Teil davon wird später gedruckt. Am Sonntag, 17. Juni, ist das Thema schon fast wieder durch.

Bis dahin haben viele Zeitungen berichtet. Etliche nur die DPA-Meldung, einige aus eigener Recherche. Das umfassendste Stück liefert vier Tage nach dem Tageblatt wohl die Süddeutsche mit „Geld oder Leber“. Neues gibt es nur aus Regensburg, wo die Reaktionen der von mir Angerufenen mich schon misstrauisch gemacht hatten. Wir selbst haben inzwischen schon einen weiteren Aufmacher über die Durchsuchungen bei Arzt und Medizinservice-Firma, ein exklusives Interview mit dem Transplantationskoordinator der Universitätsmedizin und die Reaktionen aus dem Niedersächsischen Wissenschaftsministerium veröffentlicht.

Dann ist der Lokalredakteur an seiner Grenze angelangt. Politische Reaktionen finden im Mantelteil statt, von den Politik-Kollegen in Hannover oder dem Berliner Büro der HAZ. In der nächsten Woche dominieren wieder Polizeimeldungen, Prozesse, Ratspolitik und das Schützenfest meine Arbeit – Lokalredakteursalltag eben. Eigentlich anspruchsvoller als Skandale aufzudecken. Die zu recherchieren kann (fast) jeder. Aus der 20. Rassekaninchen-Zuchtschau einen lesenswerten Text zu machen, ist schwieriger. Der Transplantations-Skandal scheint vergessen. Es war wohl nur ein kleiner, ein regionaler Steinwurf ins Wasser mit einigen Wellen, die sich schnell verlaufen.

Phase vier – der große Wurf aus Süddeutschland

Am Freitag, 20. Juli, sitze ich mal wieder beim Chicksexing-Prozess. Es geht um die Geschlechtsbestimmug von Eintagsküken. Mit diesem Job, ausgeführt einzig von Asiaten, sollen zwei Kaufleute die Sozialkassen um Millionen betrogen haben. Verteidiger ist einer, der auch den verdächtigen Medizinprofessor vertritt. Der Prozess schleppt sich. Da vibriert das Handy. In 20 Minuten ist Pressekonferenz bei der Universitätsmedizin. Die Süddeutsche Zeitung hat den großen Wurf gelandet, hat neue Erkenntnisse zu 25 konkreten Verdachtsfällen beim Kongress der Deutschen Transplantationsgesellschaft in Berlin erfahren - diesmal vor uns. Später wird der Klinik-Vorstand behaupten, es selbst erst am Vortag erfahren zu haben. Jetzt schlagen die Wellen hoch. Alle Medien, von Zeitung und Agentur, Magazinen, Funk und Fernsehen bis zu Wissenschaftsjournalisten, steigen jetzt groß ein. Die Pressekonferenz wird per Livestream im NDR übertragen. Zurück in der Redaktion, kennen die Kollegen meine Fragen schon. Sie haben sie im Fernsehen gesehen. Ich kann mir nicht verkneifen, meinen Text damit zu beginnen, dass der Verdacht ja nicht neu ist (und von uns aufgedeckt, soll das heißen), aber „eine neue Qualität“ gewonnen hat.

Wieder machen wir den Titel damit auf, wieder Aufmacher im Lokalen, dazu eine Chronik der Ereignisse und ein Interview mit dem UMG-Vorstand.

Phase fünf – die Folgewirkungen

Noch mehrere Aufmacher folgen: „Staatsanwaltschaft prüft Tötungsdelike“, „Zweiter Professor gefeuert“, im neuen Jahr schließlich die Verhaftung des Verdächtigen und immer wieder Meldungen über die Ergebnisse der Haftprüfungen oder Zwischenberichte über den Fortschritt der Ermittlungen. Am Ende, weil es lokal von Bedeutung ist, wieder ein Interview über die Folgen, die der auf der Uniklinik lastende Verdacht bei den Mitarbeitern hatte. Routine eigentlich. Der Vorteil, nahe dran zu sein, ist verschwunden. Die Ermittlungsbehörden informieren wegen des großen Interesses zeitgleich alle Medienvertreter, die anfragen. Dass man den Richter, der über die Haftprüfung entscheidet, gut kennt, bringt keinen Vorteil. Die Berichterstattung zu den Vorgängen in Regensburg einschließlich der Posse, dass die Ehefrau des Arztes ihren Doktortitel verliert, weil sie ihn mit der Arbeit ihres Mannes erschlichen hat, liefert uns eine freie Kollegin mit Presseagentur zu.

Einzig die Story eines Informanten aus Süddeutschland – diesmal nicht anonym – bringt noch eine exklusive Schlagzeile: dass schon in den 90er Jahren Manipulationen bei Lebertransplantationen in Göttingen üblich waren. Damals wurden am Uni-Klinikum von dem zweiten verdächtigten Arzt, einem Italiener, zahlreiche Landsleute mit neuen Lebern versorgt. Heute nicht mehr strafbar, vermutlich noch nicht einmal damals, und längst verjährt. Deshalb wird der Wahrheitsgehalt dieses Verdachts nie ermittelt werden. Der Informant, der auf Anonymität besteht, war seinerzeit nachweislich sehr nahe dran. Deshalb falle ich auch auf seine weitergehenden Angaben über verwandtschaftliche Verhältnisse eines der jetzt Verdächtigen mit berühmten Vorgängern in der Göttinger Universitätsmedizin herein. Nur ein Teilaspekt, aber er hatte sich geirrt, mich falsch informiert. Ich hatte es nicht gegengecheckt. Wir müssen uns korrigieren. Im Gespräch darüber entschuldigt er sich später und lässt auch sein Motiv durchblicken, warum er mich mit dem 20 Jahre alten Verdacht überhaupt „gefüttert“ hat. Er hatte damals die Uni Göttingen im Streit verlassen und denkt im Zorn an die alten Kollegen.

Herr Tur-Tur lässt grüßen. Haben nicht die meisten Scheinriesen-Geschichten, die wir nach mühsamer Recherche verwerfen, dasselbe Motiv? Also: Misstrauisch bleiben, so motiviere ich mich für die Zukunft, auch wenn die Story noch so riesig scheint.

Nachschlag - es wird doch noch juristisch

Göttingen, 20. März 2013. Die Wächterpreis-Jury hat sich längst entschieden, das Making-of, also die vorausgegangenen Zeilen, sind längst geschrieben und abgesendet, da wird es plötzlich wieder spannend. Aiman O. war ja am 11. Januar in Haft genommen worden, hatte seine Haftbeschwerde verloren, aber sofort weitergehende Beschwerde beim Oberlandesgericht (OLG) eingelegt. Wie andere Medien veröffentlichen wir an diesem Tag, dass O. in Haft bleibt. Die Begründung ist von weitreichender Bedeutung. Indirekt bestätigt erstmals ein Obergericht, dass das, was O. gemacht haben soll, also die Manipulation von Meldungen an die Warteliste von Eurotransplant, strafbar und ein Fall von versuchtem Totschlag ist. Das ist ein deutliches, dramatisches Signal an die Staatsanwaltschaften, die die weiteren Manipulationsfälle in München und Leipzig bearbeiten, und eine Weichenstellung auch für die laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Jetzt ist klar mit einer Anklage zu rechnen - nicht nur in Göttingen.

Und das Gericht bestätigt in der Begründung auch etwas, was ich selbst zwar schon im allerersten Text am 10. Juni 2012 angedeutet hatte, woran ich aber selber inzwischen fast zweifelte, weil kein anderer Medienvertreter das Thema je aufgegriffen hatte: dass schwer alkoholabhängige, nicht abstinente Patienten auf O.s Warteliste standen und gar operiert wurden. Ein Informant hatte mir gesagt, Patienten seien gar betrunken zur Leber-OP gekommen. Tage später hatte ich in dem Interview mit dem Transplantationskoordinator geschrieben, dass 25 Patienten von der Liste gestrichen werden mussten, weil es bei ihnen an Mitarbeit mangelte - sprich: sie nicht abstinent waren. Auch diese Fakten waren nach meinem Kenntnisstand von keinem Kollegen aufgegriffen worden. Jetzt sah es das OLG als Beleg für das planmäßige Manipulationsverhalten O.s an. Eine späte Bestätigung unserer frühen Berichterstattung.

Was wir bei der jüngsten Veröffentlichung exklusiv haben: Das OLG begründet den Haftbefehl mit Fluchtgefahr. Und Fluchtgefahr ergebe sich, so bestätigt ein Sprecher des Gerichts, aus den Abhörprotokollen der Telefonüberwachung (TÜ) der Polizei. Das Amtsgericht Braunschweig hatte die TÜ angeordnet. Dabei wurde in Gesprächen O.s mit Partnern in Jordanien offenbar, dass er mit seiner Familie vom Juli 2013 an dort leben will, ein Haus kauft, eine neue Arbeitsstelle hat und in Göttingen bereits sein Auto zum Kauf anbietet. Das Gericht bestätigt uns nur „Fluchtvorbereitungen“. Vorsichtig schreiben wir nicht über Details, wohl aber als einzige Zeitung über die Telefonüberwachung.

Zwei Tage später bekommen wir doch noch Post von O.s Rechtsanwalt. Eine strafbewehrte Unterlassungserklärung wird verlangt, einzig bezogen auf die geschilderten Fluchtpläne. Selbst der Anwalt schreibt von „Planungen von Prof. Dr. O., seinen Wohnsitz um 1. Juli ins Ausland zu verlegen“, das seien aber keine Fluchtvorbereitungen. Auch habe das OLG „zu keinem Zeitpunkt von konkreten Fluchtvorbereitungen gesprochen“, sondern stelle „lediglich auf Fluchtgefahr“ ab. Das sei etwas anderes. Die Wahrheit aber ist, so steht es im OLG-Beschluss: „dass die festgestellten Vorbereitungen zum Umzug die Annahme einer Fluchtgefahr begründen“.

Ich teile das unserem Justiziar mit, der wohl das Unterlassungsbegehren ablehnen wird. Noch läuft die Prüfung. Einer Klage sehen wir gelassen entgegen.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2013

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