Wie die Geschichte der Fast-Pleite der Ulmer Chirurgie ins Rollen kam

Das Making-of der Recherchen, aufgezeichnet von Rudi KÜBLER und Christoph MAYER

Waren es wirklich nur Kinderkrankheiten? Das jedenfalls beteuerte Reinhard Marre, Leitender Ärztlicher Direktor des Universitäts-Klinikums Ulm. Er hatte extra die Medien am Tag 35 nach Inbetriebnahme des größten Klinik-Neubaus des Landes Baden-Württemberg eingeladen - um sich auf die Schulter zu klopfen. "Die neue Chirurgie läuft noch nicht perfekt, aber gut." Kleinere Mängel seien angesichts der Größe des Vorhabens logisch, "das Projekt Chirurgie ist etwas gigantisch Komplexes".  Das war im Juli 2012.


Von Kinderkrankheiten war im Mai 2013  keine Rede mehr. Denn: Das 240-Millionen-Euro-Projekt war in der Tat derart komplex, dass das Uni-Klinikum darüber an den Rand des Ruins geraten sollte. Der noch nicht veröffentlichte Prüfbericht des baden-württembergischen Landesrechungshofes, der den beiden Lokalredakteuren der SÜDWEST PRESSE, Rudi Kübler und Christoph Mayer, zugespielt worden war, attestierte dem Uni-Klinikum als Bauherren schier unglaublichen Pfusch.

40.000 Baumängel listeten die Kontrolleure auf. Kleine und größere. Termine waren nicht eingehalten worden, Leistungen des Generalunternehmers in Teilen gemindert, geändert, entfallen oder mangelhaft. Alles zum Nachteil des Landes Baden-Württemberg, das sich  später um den Bauunterhalt zu kümmern hat. Der gravierendste Fehler passierte demnach beim Bau der zentralen Abwasserleitung unter der 1,5 Meter dicken Betonplatte, auf der die neue Chirurgie errichtet wurde. Sie wies kein oder ein viel zu geringes Gefälle auf. Ferner habe das Klinikum wider besseres Wissen auf eine teurere Pfahlgründung verzichtet, die angesichts des schlechten Baugrunds aber erforderlich gewesen wäre.


Was war von diesen Vorwürfen zu halten? Wen konnten die beiden Redakteure einweihen? Sie konfrontierten einen Experten mit dem 62-seitigen Prüfbericht. Und der? Er klopfte die einzelnen Punkte ab, hielt die darin erhobenen Vorwürfe für stichhaltig.

Der Aufmacher "Schlechte Note für die Chirurgie" vom 7. Mai 2013 und der dazugehörende Kommentar ("Vernichtendes Urteil") schlugen ein wie eine Bombe. Auch und gerade am Klinikum, das am selben Tag eben diese Vorwürfe in einer eilig anberaumten Pressekonferenz zu entkräften versuchte. Währenddessen waren Kübler und Mayer bereits mehrere Schritte weiter. Dank eines Informanten hatten die beiden parallel recherchiert und waren dabei auf Ungereimtheiten finanzieller Art gestoßen. Das Klinikum hatte Ende 2012 bereits vor der Pleite gestanden. Der Klinikums-Vorstand hatte einen Millionen-Kredit beim eigenen Tochterunternehmen aufgenommen, um die drohende Zahlungsunfähigkeit abzuwenden - und das, ohne den Aufsichtsrat zu informieren. Außerdem, so der Informant,  betrage das Minus für das vorhergehende Jahr nicht, wie vom Vorstand vor den Medien verkündet, 6 Millionen Euro sondern fast 15 Millionen Euro. Papiere, die der Informant den Redakteuren übergab, belegten dies Schwarz auf Weiß.


Freilich, all das musste gegengecheckt werden: in unzähligen Telefonaten, die hauptsächlich abends und nachts erfolgten, weil die Informanten tagsüber nicht über die Telefonleitungen der Klinik kommunizieren wollten; bei einem Waldspaziergang, weil die Person auf gar keinen Fall mit der SÜDWEST PRESSE in Verbindung gebracht werden wollte; in der Wohnung einer mit allen Klinikbereichen gut vernetzten Führungskraft, die noch  zwei weitere Informanten zum Kaffee eingeladen hatte; im Lagerraum eines Ulmer Geschäfts, wo Unterlagen übergeben wurden.

Es folgten in derselben Woche ein weiterer Aufmacher, ein Leitartikel und ein Sittengemälde (Titel: "Die Bauherren vom Eselsberg"), das Einblick gewährte in die Befindlichkeiten des Klinikums, das schon bessere Zeiten erlebt hatte, und über den Umgang des Vorstands mit den Klinikmitarbeitern, allen voran den Pflegekräften.


Rückblende:  2008 war der Grundstein für die neue Chirurgie gelegt worden - das Klinikum, allen voran der Leitende Ärztliche Direktor Reinhard Marre und der Kaufmännische Direktor Rainer Schoppik, verkaufte den Baubeginn von Anfang an als Riesenerfolg. Auch die SÜDWEST PRESSE begleitete das Pilotprojekt – als solches galt es, weil ein Uni-Klinikum erstmals in einer solchen Dimension baute und als Bauherr auftrat -zunächst mit Wohlwollen („Leuchtturm der Medizin“), denn nach zwei Jahrzehnten des Stillstands ging endlich etwas voran. Allerdings war der Preis enorm: Das Klinikum finanzierte die Hälfte des 240-Millionen-Euro-Projektes selbst und streckte die andere Hälfte dem Land vor. Woher rührte diese Zuversicht, das alles stemmen zu können? Marre und Schoppik vertrauten den Wachstumsprognosen, doch die realen Zahlen hinkten hinterher, die Patientenzahlen waren rückläufig.

Mit der Bekanntgabe eines 6-Millionen-Euro-Verlustes für 2011 verordnete Schoppik dem Klinikum einen Sparkurs, Stellen wurde in der Folge nicht wiederbesetzt oder ganz abgebaut. Was hauptsächlich zu Lasten des Pflegepersonals aber auch der Ärzte ging. Die Unzufriedenheit auf den Stationen stieg von Monat zu Monat - deutlich wurde dies nicht nur bei den Mahnwachen, sondern auch auf Personalversammlungen, die einer der beiden Redakteure incognito besuchte. Tenor: Der Vorstand um den Labormediziner Marre und den Kaufmann Schoppik agiere bar jeder Kenntnis um den Klinikalltag.

In einem Interview zeigten die beiden Direktoren zwar Verständnis für den Frust der Mitarbeiter, aber sie mussten auf Nachfrage auch einräumen, dass ihre Bezüge trotz schlechter Finanzlage deutlich angehoben worden waren - bei Marre um 17 Prozent von 299 000 auf 351 000 Euro im Jahr. Beide waren "not amused", dass diese Zahlen publik wurden. Diese Veröffentlichung führte dazu, dass vermehrt Klinikmitarbeiter in der Redaktion anriefen, um von Missständen zu berichten: wie dem extrem hohen Krankenstand auf den Stationen oder der von vielen als schier unmenschlich empfundenen Arbeitsverdichtung. Schreiben der Ärztlichen Direktoren und des Personalrats, beide adressiert ans baden-württembergische Wissenschaftsministerium, wurden an die Redakteure durchgestochen, ebenso die Hilferufe von 50 Stationsleitungen und sogar der Klinik-Seelsorger.


Hatte die Klinikleitung den wachsenden Protest bis Anfang Mai 2013 noch lässig ausgesessen, so wurde die Lage für Marre nach den exklusiven Veröffentlichungen in der SÜDWEST PRESSE immer ungemütlicher. Schoppik hatte schon frühzeitig das sinkende Schiff verlassen und am größeren Uni-Klinikum Eppendorf in Hamburg angeheuert. Im Juni zog der Aufsichtsrat die Reißleine und drängte Marre drei Monate vor dessen Vertragsende zum Rücktritt. Die Berichterstattung über die Fehler des Vorstands und die Missstände am Klinikum waren mitursächlich für die Demission.


Dementi zu den veröffentlichten Zahlen waren übrigens von Seiten des Klinikums nie zu vernehmen. Auch nicht, als Rudi Kübler über eine Sondervereinbarung zwischen dem Klinikum und dem Generalunternehmen berichtete, die handschriftlich (!) am Rande der Weihnachtsfeier 2012 abgefasst wurde: über die Zahlung von 29 Millionen Euro. Und das obwohl die dafür zu erbringenden Leistung nachweislich zu diesem Zeitpunkt nicht erbracht worden waren. Seriosität, darin waren sich Bauexperten einig, sieht anders aus.  Gleichwohl, Marre schien selbst beim Abgang noch über allem und jedem zu schweben;  er sei dann mal weg („Iam vero absum“), machte sich der Ex-Direktor in Abschiedskarten auf Latein lustig – was sich im  Artikel mit dem Titel „Moneten, Macht und Medizin“ niederschlug. 


Das ganze Ausmaß des finanziellen Debakels kam einen weiteren Monat später zur Sprache, nachdem sich die beiden Nachfolger im Vorstand einen Überblick verschafft hatten. Der neue Klinikchef Klaus-Michael Debatin sprach von einem "Schock" und erhob schwere Vorwürfe gegen seine Vorgänger. Das Klinikum habe sich mit der Chirurgie und weiteren millionenschweren Bauprojekten finanziell übernommen.


Welche Rolle der Aufsichtsratsvorsitzende Dr. Hartmut Schrade in dem ganzen Desaster spielte, blieb bis zuletzt unklar. Dass er nichts gegen den alten Vorstand unternommen und seinen Kollegen im Aufsichtsrat wichtige Informationen vorenthalten hatte, wurde ihm angelastet. Zunächst in Kommentaren und Leitartikeln, dann auch vom wissenschaftspolitischen Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, der den Rücktritt Schrades forderte. Ministerin Theresia Bauer bestellte nach längerem Zögern im Januar 2014 eine neue Aufsichtsratsvorsitzende.


Das Thema freilich bleibt brisant -  nicht nur, weil die Staatsanwaltschaft nach einer anonymen, aber äußerst kenntnisreichen Anzeige gegen den ehemaligen Vorstand Vorermittlungen aufgenommen hat. Sondern auch, weil völlig offen ist, ob und wie das Klinikum aus der finanziellen Malaise herauskommt. Der derzeitige Leitende Ärztliche Direktor Debatin macht sein Verbleiben im Amt von einer jährlichen Finanzhilfe von 5 Millionen Euro vom Land abhängig - eine Zusage steht allerdings bislang aus.