Ein Briefumschlag mit 50 Fotos für den Staatsanwalt

Fotos, die wir zur Zeit noch nicht zeigen können. Aber wir sind am Organisieren.

Drei Millionen deutsche Soldaten haben 1941 Stalins Sowjetunion überfallen. Fast 70 Jahre später, 2010, erhält ein Amtsgericht bei Aachen einen Umschlag mit brutalen Hinrichtungs-Fotos aus dieser Zeit. Der Absender bleibt anonym. Aber er hat die dringende Bitte: „Geben Sie sie einem Staatsanwalt“.


In den Briefkästen von Amtsgerichten liegen oft pralle Umschläge. Entscheidungen anderer Gerichte, Stellungnahmen von Anwälten, Eingaben von Bürgern. Das ist Alltag in Justizbehörden und auch in der kleinen Stadt Eschweiler bei Aachen nahe der belgischen Grenze. Als die Poststelle dort im Januar 2010 eine besonders umfangreiche, weiße Sendung herausfischt, ahnt niemand, wie brisant der Inhalt ist. Er ist der Stoff für eine Ermittlung wegen vielfachen Mordes.

In dem Umschlag stecken 50 Fotos. Die Zusendung ist anonym, nirgendwo ist der Name eines Absenders erkennbar. Aber ein Zettel von der Größe einer Streichholzschachtel klebt daran mit nur wenigen Worten. Die Bilder seien „Anfang der 60er Jahre“ in einem Wohnhaus der Eschweiler Innenstadt gefunden worden, „bei der Renovierung“. Der unbekannte Absender bekennt sich als der Finder, der 50 Jahre zuvor einen entsetzlichen Fehler gemacht haben will. „Bitte an einen Staatsanwalt abgeben“, schreibt er. Und: „Habe diese Schweinerei damals nicht weitergegeben.

Der Baum der Leichen

Ein Jahr später hält Oberstaatsanwalt Andreas BRENDEL, Leiter der NRW-Zentralstelle "Bearbeiting nationalsozialistischer Verbrechen" in Dortmund, eines der in Eschweiler abgegebenen Bilder in seiner Hand. Es ist so groß wie eine Zigarettenpackung. Schwarz-weiß, angegilbt, gewellt und mit gezacktem Rand. Es zeigt einen Baum mit knorrigen Ästen. An jedem Ast hängen fünf oder sechs Leichen. Genau ist die Zahl der Gehenkten nicht erkennbar. Der Dortmunder Staatsanwalt ist einem deutschen Verbrechen auf der Spur, das zu diesem Zeitpunkt 70 Jahre zurückliegt. Ein Massaker.

Sowjetunion, Juni 1941. Auf einer Frontbreite von 1600 Kilometern zwischen Weißem und Kaspischem Meer hat HITLER's Wehrmacht mit drei Millionen Soldaten das Land überfallen. Mit dem Unternehmen „Barbarossa“ und einem gezielten „Vernichtungskrieg“ will der braune Diktator „die europäische Kultur retten“. Im Spätherbst fällt Schnee. Die am frühen Morgen des 22. Juni gestartete Offensive rennt sich vor Moskau und im Kaukasus fest. Aber die Invasoren haben bis dahin den westlichen Teil von Stalins Riesenreich erobert und mit blankem Terror überzogen.

Die Linie hatte das Oberkommando der Wehrmacht bereits am 19. Mai 1941 mit einer internen Weisung vorgegeben: „Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes“. Dennoch: Es sind Einzelne, die Verantwortung für ihr Tun tragen. Gerichtsurteile haben das seit 1945 klargestellt.

Dieses Foto hat mich persönlich berührt“, sagt Andreas BRENDEL, „es reicht.“ Er sagt das als Ausdruck des Schocks und der moralischen Abscheu, aber auch als juristische Bewertung. Der Staatsanwalt hat das Bild aus einem Wandschrank seines Büros am Ostrand der Dortmunder City geholt. Alle 50 Bilder sind hier abgelegt, „typische Feldfotos“.

Das Foto vom Baum ist das zentrale Beweisstück. Ein anderes zeigt, wie ein Scherge die nackte Leiche eines jungen Mannes mit schwarzgelockten Haaren an den Ohren festhält. Der Scherge dreht den Kopf des Toten in die Kamera. „Es ist noch kein Schnee zu sehen“, sagt BRENDEL mit Ermittler-Blick, „wahrscheinlich sind die Fotos aus der Anfangszeit von Barbarossa, zwischen Juni und November 1941“.

Wer? Wie? Wann? Wo?

Wer sind die Täter? Gestapo? SS? Wehrmacht? Und wer sind die Opfer? Juden? Kriegsgefangene? Partisanen? Zivilisten? Wo spielte sich das Drama ab? Wann genau? Ist mit den 50 Bildern ein unbekanntes Massaker dokumentiert? Auch, was wichtig wäre als Schlüssel zum Puzzle: Wer war der Anonymus von Eschweiler?

Viele Fragen. Keine Antworten. „Die Ermittlungen haben sich etwas totgelaufen“, sagt Andreas BRENDEL im Jahr nach dem Fund im Briefkasten. Immerhin haben er und sein Team Anhaltspunkte herausarbeiten können: Eine Steppenlandschaft. Eine zerstörte Umgebung. Ein mehrgeschossiger Bau mit Bildern von Stalin und Lenin an der Fassade. Immer wieder: Hinrichtungen, Beerdigungen, Menschen, die Gräber schaufeln. Die eigenen?

Das Ermitteln von Ereignissen aus der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte ist BRENDELs Job. Die Abteilung, die er im Jahr 2011 leitet und neben anderen Sachgebieten auch nach 2020 noch weiter führt, heißt „Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen“. Sie arbeitet eng mit dem nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt zusammen. Die Akten beschäftigen sich mit Massakern, die Hitlers Regime und die deutsche Wehrmacht im 2. Weltkrieg angerichtet haben.

Mehr als 1400 Fälle wurden hier in Dortmund seit der Gründung der Einrichtung 1961 bearbeitet. Es gab Jahre, da haben Vorgänger BRENDELs nationalsozialistische Gewaltverbrechen eher wie Einbruchsdiebstähle behandelt. Bei BRENDEL ist das anders. Mit dem LKA-Fahnder Stefan WILMS und einer Historikerin ist der Jurist schon durch die als Erinnerungsstätte erhaltenen Trümmer der mittelfranzösischen Ortschaft Oradour-sur-Glane gestapft, wo das SS-Panzergrenadierregiment „Der Führer“ am 10. Juni 1944 insgesamt 642 Zivilisten umgebracht hat:

  • 181 Männer
  •  254 Frauen
  • 207 Kinder, jedes vierte Kind unter fünf Jahre alt.

Frauen und Kinder sind in der Dorfkirche verbrannt worden. Solche Tatbestände prägen.

Im Fall Oradour kannte die Justiz den Ablauf der Gräueltat, die Namen der Opfer. Sie wusste mehr von einigen der mutmaßlichen Täter, von Tatort und Tatzeit. Doch ob Distomo, Sant Anna di Stazzema, die Ardeatinischen Höhlen oder eben Oradour - Massaker von Wehrmacht und SS sind schwer zu verfolgende und zu ahndende Verbrechen, die dabei erfolgten Straftaten Einzelner erst recht. Die meisten Verfahren scheitern an der vergangenen Zeitspanne.

Solche Erfahrungen haben auch BRENDELs Ermittler-Kollegen vom Landeskriminalamt in Baden-Württemberg gemacht, gerade zu der Zeit, in der die Staatsanwaltschaft Dortmund über dem Fotosatz brütete. Sie haben ihr eigenes Waterloo erlebt.

2011 wollten sie dem Mord an drei Mitgliedern der Familie EINSTEIN in Italien nachgehen, verübt durch Soldaten der Wehrmacht im August 1944 kurz vor dem Einmarsch alliierter Truppen. Tatort war das toskanische Villa Il Focardo. Ein deutscher Stoßtrupp erschoss Caesarina EINSTEIN und ihre 18 und 27 Jahre alten Töchter, drei enge Verwandte des weltberühmten Physikers, der zu dem Zeitpunkt schon in den USA lebte. Den Befehl soll Adolf HITLER persönlich gegeben haben. Er hasste den Nobelpreisträger.

Eine Suche nach Zeugen der Tat in der ZDF-Sendung „XY Ungelöst“ blieb im Fall EINSTEIN ohne Erfolg. Wie soll dann am Ende der Ankläger BRENDEL eine Verurteilung erreichen, wenn der zentrale Tatbeleg in seinem Foto-Fall alleine in einem Bild von einem leichenbehängten Baum irgendwo in den Weiten Russlands besteht?

BRENDEL und die Ermittler haben sich bemüht, die Fotos zum Reden zu bringen. Gemeinsam haben die Zentralstelle und das Militärgeschichtliche Institut Potsdam Vergrößerungen ausprobiert, Experten befragt, Gesichter und Fälle abgeglichen und in Eschweiler nach einem Haus gesucht, das Anfang der 60er Jahre renoviert wurde. Wahrscheinlich hat es in der Nähe des Marktplatzes gestanden. Wahrscheinlich ist es den Stadtsanierungen der letzten sechs Jahrzehnte zum Opfer gefallen. Aber die intensive Untersuchung der Bilder hat doch kleinere Erfolge gebracht.

Lkw wie die auf den Fotos wurden im Osten 1941 eingesetzt, so viel steht heute fest. Bei einem ist das WH-Kennzeichen erkennbar. WH für Wehrmacht, nicht etwa SS, deren Fahrzeuge die Runen auf dem Nummerschild trugen. Auch in den erkennbaren Ziffern daneben fand man einen interessanten Rechercheansatz. Die Nazi-Jäger unternahmen schließlich einen seltenen Schritt. Sie suchten öffentlich Zeugen von Vorgängen, die 70 Jahre zurückliegen. Den Aufruf stellten sie am 25. Januar 2011 ins Internet mit zwei Fotos, die mutmaßliche Opfer lebend noch und mit einem Judenstern zeigen.

"Ich habe 60 Jahre auf Sie gewartet"

Presseberichte sogar aus Russland sind daraufhin eingegangen, Briefe, Mails, Ratschläge. Beim Simon Wiesenthal Center in Jerusalem verfolgte Efraim ZUROFF die Arbeit der deutschen Ermittler mit Interesse. Lange schien es in Nachkriegs-Deutschland kaum Willen zur Aufklärung zu geben. ZUROFF schöpfte Hoffnung. Wie gut, dass ausgerechnet im Land der Täter es den letzten großen Schub der Ermittlungen gab.

Was es nicht gab: Zeugen, die sich aufgrund der Internet-Fahndung meldeten.  Die Zeit, die BRENDELs Team aufarbeiten musste, liegt so lange zurück. Die „großen Täter“ müssten nach den Regeln der Hierarchie schon zur Tatzeit älter gewesen sein. Sie werden heute tot sein. Wer jetzt im Greisenalter festgenommen werden kann, der war, als die Morde geschahen, zu jung, um eine entscheidende Befehlsgewalt inne gehabt zu haben. Zudem glaubt der Oberstaatsanwalt, dass die Fotografen selbst zur Gruppe der Täter gehört haben und deswegen still halten.

Ein zweites Ermittlungshindernis hat die Aufklärung des Falles erschwert.  Auf einem der Bilder ist eine Massenerhängung an einem exakt zugeschnittenen Balken zu sehen. Das deute, sagt BRENDEL, eher auf die Vollstreckung eines Urteils nach einem „ordentlichen“ Kriegsgerichts-Verfahren hin. Für Ankläger bedeutet das: Wer daran als Täter beteiligt war,  der hat allenfalls Totschlag begangen. Totschlag aber ist verjährt, ein Verfahren demnach sinnlos. Die Sache mit dem Baum ist anders. Sie könnte juristisch Mord sein, sogar ein „grausamer“.

Mord verjährt nicht. Es waren in anderen Fällen nicht selten sehr alte Täter, die, endlich aufgespürt, den Staatsanwalt Andreas BRENDEL erleichtert an der Wohnungstür mit ein paar Worten begrüßt haben: „Ich habe 60 Jahre auf Sie gewartet“.

Die Fahnder haben sich irgendwann entschlossen, die allermeisten Bilder zunächst nicht zu veröffentlichen. Darunter sind das Baum-Bild, das des jungen Mannes mit den  schwarzgelockten Haaren und weitere sehr brutale Abbildungen. Das hat viele Gründe. Sie sind Bestandteil einer staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte. Es geht aber auch um Datenschutz und darum, dass solche Brutalität, von den Falschen ins weltweite Netz gestellt, viel auslösen kann.

Der Fall der Bilder aus dem Eschweiler Gerichtsbriefkasten ist auch mehr als zehn Jahre nach dem Fund ungeklärt geblieben. Das Verfahren wurde eingestellt. Die Dokumente werden noch im Jahr 2023 an das Staatsarchiv in Münster in Westfalen übergeben. Es ist denkbar, dass die Öffentlichkeit dann einen Einblick in die Beweisstücke für unsägliche Verbrechen erhält. 

(DS)


Hinweis

Diesen Text können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/50Fotos. Was die hier angesprochenen Fotos betrifft, so versuchen wir, sie so schnell wie möglich hier dokumentieren zu können. Wir bitten um Geduld, an uns liegt es nicht.

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