Warum es so lange gedauert hat, bis Asbest verboten wurde: die darauffolgenden 50 Jahre

Asbest-Chronologie, Teil II

Die ersten Hinweise und Warnungen auf die Gefährlichkeit von Asbest für die menschliche Gesundheit gab es bereits kurz vor der Jahrhundertwende des Jahres 1900. Insbesondere in Großbritannien kamen die Gefahren zur Sprache, lösten dann aber auch in anderen Ländern wissenschaftliche Forschung aus. Trotzdem stieg die Asbestverarbeitung unaufhaltsam an - zu groß waren die Vorteile, die mit diesem als "Wunderstoff" ("magic mineral") bezeichneten Material verbunden waren. Und zu groß das wirtschaftliche Interesse der Unternehmen, die damit arbeiteten - egal ob in den Asbestminen, der Asbestverarbeitung oder bei den Konsumgüterproduzenten, die in ihren Endprodukten Asbest verwendeten.

In Deutschland mussten sich die Wirtschaftsinteressen ab 1933 einer "nationalsozialistischen" Wirtschaftspolitik unterordnen. Die Gesundheit der (arischen) Arbeiter war daher wichtiger als die monetären Ziele der Unternehmen. Folge: Das Deutsche Reich wurde weltweit führend in der Asbestforschung und der Asbestbekämpfung. Bis 1945.

Diese Darstellung lässt sich auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Asbestchronologie-II.

Diese ersten 70 Jahre sind rekonstruiert unter Warum es so lange gedauert hat, bis Asbest verboten wurdeHier ist jetzt die weitere Entwicklung bis zum Asbestverbot 1993 dokumentiert:

1945

Das Ende des Wektkrieges, der jetzt mit der Nummer "2" belegt ist, hinterlässt eine tiefe Zäsur - europaweit. Aber auch in den USA. Am stärksten in Deutschland, das flächendeckend in Schutt und Asche liegt.

Auch die medizinische Wissenschaft und jene in Sachen Asbest liegt in den Trümmern des "Deutschen Reiches" begraben. Niemand möchte davon etwas wissen, am wenigsten im Ausland. Alles, was aus Deutschland bisher kam, gilt derzeit als wenig populär. 

Und viele Asbestfälle haben sich weitgehend erledigt - die Toten liegen irgendwo auf den Schlachtfeldern.

So entstehen die nächsten Forschungen in den USA und Großbritannien


die ersten 10 Jahre nach dem Krieg

In den USA führt 1947 die Industrial Hygiene Foundation eine Untersuchung durch, deren Ergebnisse den Auftraggebern, Unternehmen der Asbestindustrie, nicht gefallen. Sie wird daher auch nicht veröffentlicht. Eines der Ergebnisse besagt, dass die von Waldemar DREESEN im Jahr 1938 empfohlene und von der American Conference of Governmental Industrial Hygienist übernommene Obergrenze bei der Staubbelastung völlig unzureichend ist. Die Messungen in Betrieben, die inzwischen eine Belastung von weniger als die Hälfte wie zuvor hatten, ergaben, dass immer noch rund 20% der Beschäftigten Asbestprobleme haben. DREESEN hatte vor sieben Jahren rund 700 Arbeiter aus vier Fabriken in North Carolina untersucht, die Textilien aus Asbest produzieren. Und die Unternehmen hatten - bevor die Wissenschaftler im Auftrag des Public Health Service kamen - 150 Beschäftigte entlassen: jene, die am längsten mit Asbest in Berührung gekommen waren.

Etwas offener geht man mit der Thematik in Großbritannien um. Im Jahresbericht 1949 des "Chief Inspector of Factories" wird eine hohe Quote von Lungenkrebs bei Asbestose-Toten erwähnt und zwei Studien in den USA angesprochen, die nicht veröffentlicht wurden. Letztere werden erst mehr als vierzig Jahre später bekannt in der Publikation "Chronology of asbestos cancer discoveries: experimental studies at the Saranac Laboratory", wenn der südafrikanische Whistleblower Gerrit SCHEPERS auch international öffentlich macht, was er 1949 in den USA entdeckt hatte: experimentelle Tierstudien, den Zusammenhang zwischen Asbest und Lungenkrebs beweisen, aber geheim gehalten wurden (mehr dazu unter Asbest in den USA: Fake Science und ein Whistleblower).

Dass drei interne Krebsuntersuchungen bei Turner & Newall in Rochdale bei Manchester keine Zusammenhänge zutage fördern (können), überrascht nicht. Der Betriebsarzt, dazu später befragt, wird erklären, er habe von Statistik zu wenig Ahnung - ein grundsätzliches Problem bei Medizinern und Arbeitsmedizinern ganz speziell: Der korrekte Umgang mit Zahlen, Statistiken oder epidemiologischen Zusammenhängen gehört meist nicht zum Standard des medizinischen Curriculums.  

Als Turner & Newall 1953 Dr. Richard DOLL, einen unabhängigen Epidemiologen, mit einer Studie beauftragt und dieser zu dem Ergebnis kommt, dass das Lungenkrebsrisiko bei Beschäftigten, die mindestens 20 Jahre damit zu tun haben, 10 Mal so hoch ist wie das der Normalbevölkerung, will das Unternehmen das nicht publizieren. DOLL macht es zwei Jahre später trotzdem: "Mortality from lung cancer in asbestos workers".  

Bis die britische Regierung aus dem Zusammenhang "Asbest und Lungenkrebs" politische Konsequenzen zieht, wird es aber noch 30 Jahre dauern. Im Deutschen Reich wurde diese Kausalität bereits vor zehn Jahren amtlich anerkannt: als Berufskrankheit, die auch jetzt noch Gültigkeit hat


ab 1951

Da die deutsche Kriegsführung von Kriegsbeginn an mit ihren U-Booten den Frachtverkehr zwischen Großbritannien und den USA unterbinden wollte und damit anfangs erfolgreich war, die Briten die Verluste aber alleine nicht ausgleichen konnten, hatte man in den USA ein "Emergency Shipbuilding Program" aufgelegt: den Bau von sog. Liberty-Frachtern, die einfach und schnell zu bauen waren, so dass die Amerikaner schneller bauen als die Deutschen solche Schiffe versenken konnten. An der Ostküste der Vereinigten Staaten entstanden viele neue Werften und insgesamt waren es 1,7 Millionen Menschen, die damit beschäftigt waren.

Mit Asbest wurde aus Gründen der Feuer- und Hitzebeständigkeit nahezu alles verkleidet und ausgebaut: Maschinenräume, Schornsteine, Heizungsrohre, Frachträume, Schotten - kurzum das ganze Schiff.

Jetzt, wo der Krieg zu Ende war, machen sich die ersten Gesundheitsbeschwerden bemerkbar. Die (ehemaligen) Schiffbauer, die inzwischen in anderen Berufen arbeiten, werden krank, leiden an Atembeschwerden oder Tumoren. 

Einer ihrer Anlaufadressen ist das bekannte "Mount Sinai Hospital" bzw. die "Mount Sinai School of Medicine" in New York City. Es gilt als eines des besten Krankenhäuser in den USA, ebenso die medizinische Ausbildung.

Dort arbeitet Dr. Irving J. SELIKOFF gemeinsam mit Anatomen und Pathologen. SELIKOFF, ursprünglich Lungenspezialist (Pneumonologe), wird später den Bereich Arbeitsmedizin und Umweltmedizin übernehmen und leiten.

Bei Dr. SELIKOFF laufen immer mehr Menschen auf, die asbestgeschädigt sind. Manche haben 'nur' eine Asbestose, andere bereits einen Lungenkrebs. Seltener kommen Patienten mit einem sog. Mesotheliom in die Klinik - eine Erkrankung, die offiziell noch nicht durch Asbest verursacht anerkannt und bisher kaum bekannt ist.

Das Mesotheliom ist der allerschlimmste Asbestschaden: Der Tumor breitet sich im Rippenfell, Bauchfell oder dem Herzbeutel aus. Wenn dieser besonders aggressive Krebs ausbricht, stirbt man innerhalb eines Jahres. Die Überlebenschance ist gleich Null (mehr unter Asbest: die 4 tödlichen Schadensbilder).

SELIKOFF wundert sich über die Häufigkeit dieses 'neuartigen' Tumors. Um das Problem zu ergründen, will er interdisziplinäre, experimentelle und epidemiologische Untersuchungen initiieren. Doch die Unternehmen, insbesondere die Werften, verweigern ihre Unterstützung. Sie beginnen eine Kampagne gegen SELIKOFF, titulieren ihn als "Industriefeind". SELIKOFF muss kämpfen, gibt nicht auf. In den nächsten Jahren wrd es ihm gelingen, im Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ausreichend große Kohorten solcher Asbestgeschädigten untersuchen zu können.

SELIKOFF wird nach und nach weltweit zum führenden Asbestexperten werden - zum Experten, der die Dinge so benennt, wie sie sind


1955 bis 1960

Das, was SELIKOFF in New York konstatiert, eine besonders aggressive Krebserkrankung des Rippen- und/oder Bauchfells oder gar des Herzbeutels, die aber noch keinen anerkannten Namen hat, wird auch in Südafrika diagnostiziert und von drei Medizinern untersucht, allen voran John Christoffer WAGNER aus Johannesburg. Die Ergebnisse werden zum ersten Mal 1959 auf einem medizinischen Kongress in Johannesburg vorgestellt und ein Jahr später, 1960, im "British Journal of Industrial Medicine" für die ganze Welt veröffentlicht: WAGNER, J.C/SLEGGS, C.A./MARCHAND. P. (1960): "Diffuse pleural mesothelioma in the North-West Cape Province". Mit "Primary malignant tumours of the pleura are uncommon" beginnt der erste Satz der Aufsehen erregenden Publikation.

In Deutschland gründet die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), eine Selbstverwaltungseinrichtung zur Förderung von Wissenschaft und Forschung im Jahr 1955 die "MAK-Kommission", ein Arbeitskreis von "Experten", die für die zahlreichen Gefahrstoffe jeweils eine "Maximale Arbeitsplatz-Konzentration", konkret sog. Grenzwerte festlegen sollen. Über die Funktion, die aktuelle Besetzung und die Arbeitsweise dieses Gremiums haben wir in etwas anderem Zusammenhang Informationen zusammen gestellt: www.ansTageslicht.de/DGUV. Das Gremium wird sich in den ersten Jahren an den Grenzwerten orientieren, die in den USA gelten: Grenzwerte, die nicht sonderlich schützen. 

Über Grenzwerte bei Asbest wird man in  der MAK-Kommission erst zu Beginn der 70er Jahre diskutieren, also in fünfzehn Jahren. Bis dahin ist das kein Thema, denn die Asbestindustrie blüht mit dem beginnenden "Wirtschaftswunder" in Deutschland ebenso auf wie alle anderen Branchen, die Arbeitsplätze und den Wohlstand der Deutschen sichern: Kohle- bzw. Bergbauindustrie, Konsumgüterhersteller, Automobilproduzenten, Keramikindustrie und alle anderen. Asbest wird in Isoliermatten und Brandschutzdecken, Thermoskannen und Backöfen, Garagendächern, Fenstersimsen, in Kitten, Dichtungs- und Spachtelmassen, elektrischen Schalterdosen und in Filtermaterial in der Pharmaindustrie eingesetzt. Asbest ist das vielseitigste Produkt.

So ist es auch kein Wunder, dass sich in den kommenden Jahren der deutsche Asbestimport und damit der Asbestverbrauch verdoppeln wird: Asbestverarbeitung und Kohlebergbau sind die beiden Rohstoffe des beginnenden "Wirtschaftswunders".

Ein neuer Name: Dr. med. Herbert OTTO

In dieser Zeit beschäftigt sich an der Medizinischen Universität in Erlangen ein Pathologe mit einem speziellen Industriestaub, den er aus den Lungen von Toten seziert und misst, die in der fränkischen Keramik- und Porzellanindustrie gearbeitet haben. Dort sitzen so bekannte Unternehmen wie Hutschenreuther, Rosenthal oder Villeroy & Boch und dieser Industriezweig erfreut sich ebenso seiner Blütejahre wie viele anderen Branchen auch.

Der Pathologe Dr. med. Herbert OTTO, der am Universitätsklinikum Erlangen 1951 im Alter von 29 Jahren begonnen hat, ist fleißig. Die Anzahl der beruflich an Silikose aufrund des Quarzstaubes Erkrankten sowie die Zahl der Toten nimmt zu, und so gibt es viel zu forschen. Und zu veröffentlichen. Denn in der Medizin bríngt man es nur weiter, wenn man erstens viel, und zweitens am laufenden Meter veröffentlicht: Beschreibung und Auswertung von Fällen, sprich Autopsien, sowie schriftliche Gedankenspiele, wie wohl der feine Quarzstaub in die Lungen der Toten geraten sein mag. Und wo er sich da niederschlägt.

Durch die Autopsien von Hunderten von toten Lungen aus der Porzellan- und Keramikindustrie kann Dr. med. Herbert OTTO eine Untersuchung nach der anderen publizieren: "Die Beziehungen der Lungenstaubmenge zum anatomischen Schweregrad der Silikose" (1958), "Die Silikose in der Porzellanindustrie" (1959), "Die Bedeutung der Lungenstaubmenge für die Silikose" (1960), "Die häufigsten tödlichen Komplikationen der schweren Porzellanstaublungenerkrankungen" (1961), "Morphologische und pathologisch.anatomoische Begutachtung der Silikose" (1963).

Die Studien werden fast allesamt fremdfinanziert: von der für die Keramik- und Porzellanindustrie zuständigen Berufsgenossenschaft mit Sitz in Würzburg. Die Ergebnisse der OTTO-Studien fallen offenbar zur Zufriedenheit der "Berufsgenossenschaft der keramischen und Glasindustrie" aus (heute wegen Fusion: "Verwaltungsberufsgenossenschaft - Verwaltungs-BG"). OTTO seziert eine Lunge und schneidet einen Kubikzentimeter Probenmaterial heraus, wiegt diese Probe, dann wird sie verbrannt und dann wird erneut gewogen: Wieviel Gramm Quarz ist jetzt zu finden? Seine Theorie: Lässt sich eine bestimmte Höchstmenge nicht finden, dann kann der Tod nicht beruflich verursacht sein.

OTTO wird jedenfalls immer häufiger mit medizinischen Gutachten beauftragt. In denen soll OTTO untersuchen, ob etwa ein Todesfall "berufsbedingt", also Folge einer "Berufskrankheit" ist. Oder eben auch nicht. Und wenn letzteres der Fall ist, dann muss sein Auftraggeber keine Entschädigung, z.B. eine Rente  zahlen.

Über die einzelnen Voten in den Gutachten, die eine Entschädigung maßgeblich beeinflussen, wissen wir nichts und können aus Datenschutzgründen auch nichts in Erfahrung bringen. Wir wissen aber, dass OTTO's Auftragslage sehr gut ist und die Anzahl seiner Gutachten kontinuierlich steigt. Ebenso scheint seine finanzielle Situation davon zu profitieren, denn er schafft es schnell - noch bevor er Professor am dortigen Institut werden wird - sich ein geräumiges Haus anzuschaffen. 

OTTO wird ebenso schnell zum Silikose-Papst aufsteigen. Die Krankheit "Silikose" ist - ähnlich wie bei Asbeststaub - eine Lungenschädigung, diesesmal durch Quarzstaub, daher auch als "Quarzstaublunge" bezeichnet. Der Staub setzt sich in den Bronchien, Bronchiolen und den Lungenbläschen ("Alveolen") fest, die für den unmittelbaren Sauerstoff- und Kohlendioxydaustausch zuständig sind. Folge: Es kommt zu einer krankhaften Vermehrung des Bindegewebes, das sich dann verhärtet ("Lungenfibrose") und das Atmen wird immer schwieriger. Im schlechtesten Fall gesellt sich dann eine Tuberkulose oder ein Lungenkrebs dazu.


Der Quarzstaub ist - mineralogisch gesehen - "biopersistent", konkret: das Mineral verändert sich chemisch im menschlichen Köper nicht, sondern bleibt unvermindert hart und beständig. Man kann es jederzeit pathologisch nachweisen. Bei Toten natürlich nur.

Offiziell ist die Silikose seit 1929 als Berufskrankheit anerkannt, die insbesondere auch die Kumpels im Bergbau betrifft. Aber ob jemand eine Entschädigung erhält, wird jedes Mal im Einzelfall geprüft: durch Gutachter, beispielsweise in Gestalt von Dr. med. Herbert OTTO.

Und andere Gründe für eine Erkrankung lassen sich immer finden: Wohnungen, die nicht ausreichend sauber gehalten werden; private Lebensgewohnheiten wie Rauchen und/oder Trinken; das zu seltene Wechseln der Kleidung. In einer Dissertation über den "Ramsbecker Bergbau" aus dem Jahr 1931 wird sogar "Inzucht" als Grund für eine rechtmäßige Versagung einer Anerkennung als Berufskrankheit genannt. Wenn das einem Gutachter nicht ausreicht und/oder wenn sich derlei Argumente nicht festmachen lassen, kann man immer noch mit "schicksalshafter Erkrankung" ankommen. Die ablehnende Begründung mit "schicksalshafter Erkrankung" wird in Erlangen demnächst zum Standard werden - dann, wenn sich zu Herbert OTTO, der in Kürze in den Professorenstand wechseln wird, ein Kollege am Institut für Arbeitsmedizin gesellen wird: Prof. Dr. med. Helmut VALENTIN, der Begründer der sog. Erlanger Schule (mehr unter Die Erlanger VALENTIN-Schule: Wie man die herrschende Meinung organisiert). Doch noch ist es nicht soweit


1961

Ganz anders als bei der Silikose ist es bei Asbest, nämlich dann, wenn es sich um Weißasbest handelt. Weißasbest, auch mit dem Begriff "Chrysotil" belegt, ist der weltweit am häufigsten vorkommende und verarbeitete Variante des Asbest. In Deutschland beträgt sein Anteil - ähnlich wie in anderen Ländern - 94%. Wenn von Asbest hier die Rede ist, dann ist dieser Weißasbest gemeint, sofern nicht anders betont. Der andere Typus von Asbest, etwa Braunasbest ("Krokydolith") oder Braunasbest ("Amosit") oder auch Tremolit, besteht aus längeren Fasern, deren Durchmesser 3 bis 10 Male größer ist als beim Weißasbest. Und die Fasern sind fest und hart.

Der weiße Asbest ("Chrysotil") besteht aus feinen und vor allem flexiblen Fasern. Und ist mineralogisch völlig anders aufgebaut und verhält sich deshalb auch ganz anders als die kleinen kristallinen und harten Quarzstaubnadeln. Diese Asbestfasern haben eine geringe "Biopersistenz". Anders gesagt: Sie lösen sich nach eine Weile auf, verschwinden sozusagen von der medizinischen Bildfläche - nachdem sie in der Lunge, den Bronchien, den kleinsten Lungenbläschen ("Alveolen"), im Rippen- und/oder Zwerchfell oder auch am Herzbeutel den Schaden angerichtet haben:

Das betonen - erneut - gerade zwei britische Wissenschaftler, Dr. J.F. KNOX und Dr. J. BEATTIE aus Rochdale, in einer neuen Untersuchung. Bereits vor 7 Jahren, 1954, hatten sie das thematisiert unter "Distribution of Mineral Particles  and Fibers in the Lung after Exposure to Asbestos Dust". Jetzt, 1961, konstatieren sie, dass es eben "no clear correlation between the average lung dust concentration and the grade of asbestosis" geben kann. Denn "the lungs with the highest grade of a had the lowest calculated dust accumulation rates.” 

Damit bestätigen sie nochmals, was bereits 1937, also vor einem Vierteljahrhundert, zwei Schweden bekannt gemacht hatten: der Geologe Dr. N. SYNDIUS und der Chemiker Dr. A. BYGDEN in ihrer Veröffentlichung "Der Staubinhalt einer Asbestosislunge und die Beschaffenheit der sogenannten Asbestkörperchen". Und im selben Jahr hatte Joachim KÜHN an der Berliner Charité in Zusammenarbeit mit dem "Laboratorium für Übermikroskopie der Siemens & Halske AG" aus seinen "Übermikroskopischen Untersuchungen an Asbeststaub und Asbestlungen" anhand der Asbestart Krokydolith bzw. Hornblendeasbest (blauer Asbest) den Schluss gezogen, dass dieser Asbest "in der Lunge abgebaut wird und die wesentliche Ursache der Fibrose darstellt."

Inzwischen weiß man um diese Eigenschaft. Sie wird zwei Jahrzehnte später, wenn Hans-Joachim WOITOWITZ die Bühne betreten wird, von ihm und seinen Kollegen als "Fahrerfluchtphänomen" bezeichnet werden, um diesem Vorgang einen griffigen und gleichermaßen erklärenden Namen zu geben


im selben Jahr

Die Bühne betritt allerdings zuerst Dr. med. Herbert OTTO. Nachdem OTTO in Sachen Quarzstaub und Silikose sozusagen alles veröffentlicht hat, was es dazu noch zu veröffentlichen gab, geht er auf die Suche nach einem neuen Betätigungsfeld. Und findet es in der Asbestproblematik. 

OTTO führt sich mit einer passenden Publikation ein: "Zur pathologisch-anatomischen Begutachtungspraxis von Asbeststaublungenerkrankungen in Verbindung mit Lungenkrebs", erschienen in der Fachzeitschrift "Der Medizinische Sachverständige". 

Titel und Medium machen deutlich, was intendiert ist. War die Berufsgenossenschaft, zuständig für Keramik und Porzellan, mit seiner Arbeit und seinen Begutachtungen zufrieden, so kann man diese Publikation als Signal an künftige andere Geschäftspartner verstehen


1964 in den USA: der erste Weltkongress

In New York City findet der allererste Weltkongress in Sachen Asbest statt: Biological Effects of Asbestos. Dr. Irving SELIKOFF vom Mount-Sinai-Hospital hat die internationale Tagung innerhalb mehrerer Jahre vorbereitet, alle angeschrieben, die sich der Asbestproblematik verschrieben haben und nun sind (fast) alle da - aus allen Herren Länder. 

Vertreter der Bundesrepublik Deutschland sind nicht in die USA gefahren. Es gibt im "Land des Wirtschaftswunders" derzeit keinerlei Forschung. 

Auch OTTO ist nicht in New York dabei. Dafür tragen zwei Wissenschaftler aus der "Zone" vor, wie die DDR in Westdeutschland von vielen verächtlich genannt wird. In der DDR, in der nicht die Wirtschaft der Politik die Themen vorgibt, sondern wo es umgekehrt ist, geht man mit der Thematik weit offener um. Das hat auch seinen Grund. Zwar haben Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz oder gar Überlegungen, ob und inwieweit Schadstoffe auch die Umwelt belasten könn(t)en, im sozialistischen "Arbeiter- und Bauernstaat" keinen sonderlichen Stellenwert, aber immerhin sind kurzfristige Maßnahmen angesagt, um die werktätige Bevölkerung zumindest am Leben zu erhalten. 

Auf der Tagung werden alle Krankheitsbilder, alle Aspekte, Überlegungen und Schlussfolgerungen und immer alle pro und contras diskutiert - so wie das auf ernstzunehmenden wissenschaftlichen Tagungen üblich ist. WAGNER aus Südafrika beispielsweise kann mit weiteren statistischen Daten über das Mesotheliom aufwarten. SELIKOFF, bei dem sich die letzten Jahre immer mehr ehemalige Asbest-Beschäftigte der oft wieder geschlossenen Werften gemeldet haben, ist mit mehreren Vorträgen dabei, schließlich ist die Forschung inzwischen zu seiner wichtigsten Arbeit geworden.

Die Zahlen aus einzelnen Untersuchungen, aber auch die von breit angelegten epidemiologischen Studien sprechen eine einheitliche Sprache: Die Wahrscheinlichkeit, an Asbest zu erkranken und zu sterben ist groß. Sie hängt ab von der Höhe der Staubbelastung und der zeitlichen Dauer dieser Belastung. Asbest ist also ein absoluter Gefahrstoff - in allen Branchen, in denen er verwendet wird. So wie beispielsweise bei Arbeitern aus der Isolierungsbranche, wie SELIKOFF demonstriert: 

Von 1.117 Untersuchten haben fast die Hälfte Asbestose - in unterschiedlichen Krankheitsgraden.

Mit dem Kongress gelingt SELIKOFF zweierlei: zum einen wird durch das internationale Meeting das vorhandene Wissen ausgetauscht und gebündelt, zum anderen werden die US-amerikanischen Medien auf dieses Ereignis und die dortigen Themen aufmerksam. Asbest wird ab jetzt - zumindet ab und an - zu einem Thema der Berichterstattung. Bisher war das so gut wie nicht der Fall. 


1964 / 1965

Jetzt wird auch in Deutschland ein großes Forschungsprogramm aufgelegt. Der neu gekürte Vorsitzende der Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie (BG BCE), Walter ARENDT (SPD), kann die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG überzeugen, die "Chronische Bronchitis und Staubbelastung am Arbeitsplatz" in Deutschland detailliert zu erforschen. Dass ARENDT sofort in den Ring steigt, kaum dass er die Möglichkeit dazu hat, lässt sich biographisch erklären. Sein Vater war selbst Bergmann, verstarb früh an seiner Staublunge (Silikose). Und auch Walter selbst hatte in der Kriegsgefangenenschaft im Bergbau arbeiten müssen. Walter ARENDT weiß, worum es geht, kennt die gesundheitlichen Qualen eines Bergarbeiter-Lebens. 

Eigene Erfahrungen in der Arbeitswelt sind für engagiertes und vorausschauendes Handeln eine wichtige Triebkraft. Gerade in der Arbeitsmedizin, wo viele Akteure die Verhältnisse am Arbeitsplatz nur aus den Akten kennen.

ARENDT, der vier Jahre später in der Sozialliberalen Koalition unter Willy BRANDT Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung werden wird, kann bei der DFG 7 Millionen DM loseisen. Damit sollen 2.000 Staubberufler, also 2.000 Beschäftigte,  flächendeckend auf die gesundheitliche Belastungen hin untersucht werden - in der Zementindustrie, dem Bergbau u.a., aber auch bei Asbest. Das Forschungsprojekt soll sich über mehrere Jahre erstrecken.

Ebenfalls ein neuer Name: Prof. Dr. med. Helmut VALENTIN

Einer der Auftragnehmer sitzt in Erlangen: Prof. Dr. Helmut VALENTIN, der als Oberarzt gerade aus Köln mit zwei seiner dortigen Mitarbeiter an die Uni Erlangen gewechselt war: Dr. med. Gerhard LEHNERT und Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ. 

VALENTIN übernimmt in Erlangen des ersten Lehrstuhl für Arbeitsmedizin nach dem zweiten Weltkrieg. Er versteht sich auf Anhieb mit einem dort bereits tätigen Kollegen, Prof. Dr. med. Herbert OTTO. Die beiden medizinischen Institute, Arbeitsmedizin und Pathologie, liegen nur 500 Meter auseinander. Beide freunden sich an. Neben den medizinischen Interessen verbindet beide auch die Nähe zu den Berufsgenossenschaften: inhaltlich und mental, aber auch in finanzieller Hinsicht. Wie Prof. VALENTIN ab sofort die Branche der Arbeitsmedizin prägen und dominieren wird, ist ausführlich dokumentiert in etwas anderem Zusammenhang unter www.ansTageslicht.de/Valentin.


1965 in Freudenstadt

Die Süddeutsche Gesellschaft für Tuberkolose und Lungenkrankheiten veranstaltet im Schwarzwald ihren 12. Kongress. Herbert OTTO hält einen Vortrag: "Zur pathologischen Anatomie der Asbestose und ihrer versicherungsrechtlichen Bedeutung".

OTTO's Zielrichtung, die berufs- bzw. unfall"versicherungsrechtliche Bedeutung" ist nicht zu überhören. OTTO betont die allbekannte Erkenntnis, dass sich der Schweregrad einer Silikose anhand der in der Lunge aufgefundenen Staubmenge messen lässt. Bei (inzwischen) Toten natürlich nur.

Und weil OTTO der Meinung ist, dass dies in gleicher Weise für die Asbestose gelten müsse, stellt er die These auf, dass eine morphologische Diagnose erst mit dem Nachweis von Asbestkörperchen (Asbestfasern) eindeutig sei. Dass er sich damit in Gegensatz zu den Erkenntissen von Mineralogen, Geologen, Biologen und anderen Asbestforschern weltweit begibt, stört ihn nicht. Wer auffallen will, muss auf die Pauke hauen. Und wer bestimmte Ansprech- oder Geschäftspartner, sprich potenzielle Auftraggeber im Visier hat, muss dafür sorgen, dass die Botschaft dort auch ankommt. 

OTTO räsonniert über den Zusammenhang zwischen Asbestose und Lungenkrebs (Bronchialkrebs), weil die Anerkennung eines Lungenkrebses als arbeitsplatzverursachte Berufskrankheit die Gleichzeitigkeit einer Asbestose voraussetzt. Wenn man aber keine Asbestkörpchern findet, kann es auch keinen asbestbedingten Lungenkrebs geben, so seine These. Und er beendet den Vortrag mit dem Satz: "Die allgemein festgestellte Zunahme des Bronchialkrebses, für die auch die Asbestarbeiter sicher keine Ausnahme bilden, geht auf jeden Fall unkontrollierbar mit zu Lasten entschädigter Berufskrankheiten."

Damit schließt OTTO einen Bogen zu seinen Zahlen gleich zu Beginn seiner Ausführungen, die belegen, dass a) die Meldezahlen zunehmen und b) die (bisherige) Anerkennungsquote sehr hoch ist. Bedeutet: Es wird absehbar immer teurer für die Berufsgenossenschaften. Bei der Asbestose sind zwar die absoluten Zahlen noch sehr gering, aber die Entschädigungsquote lag in den letzten Jahren sehr hoch. Bei Asbestose 61%, beim astbestbedingten Lungenkrebs 90%.

Zum Vergleich zu heute bzw. zu 2017: Asbestose immer noch 56%, beim Lungenkrebs 16%. 

Die betroffenen Berufsgenossenschaften wissen um die absehbaren Probleme. Da kommt die These eines Experten sehr gelegen, der darauf hinweist, dass die Entschädigungspflicht nur dann greift, wenn überhaupt (genügend) Asbestkörperchen nachweisbar sind. Und ebenso vorteilhaft ist der Umstand, dass sich beim weißen Asbest eben diese nach geraumer Zeit einfach nicht mehr nachweisen lassen. Man muss nur warten 


Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ

Prof. Dr. med. Helmut VALENTIN, der Chef des neu in Erlangen installierten Instituts für Arbeitsmedizin, der den Forschungsauftrag "Chronische Bronchitis und Staubbelastung am Arbeitsplatz" von der Gewerkschaft IG BCE übernommen hat, setzt seinen Asssistenten Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ (HJW) daran. Und WOITOWITZ steigt in die Vollen.

Im Rahmen seiner Vorarbeiten, zu denen auch das Auswerten aller Fachzeitschriften gehört, liest er in einer kleinen Notiz von einer jungen Frau, die mit 34 Jahren gestorben ist - wegen Asbestose. WOITOWITZ, der bis vor kurzem zusammen mit seinem Chef VALENTIN  in Kölner Medizinischen Universitätsklinik, Abteilung Innere Medizin, kranken Menschen versucht hatte zu helfen und sich jetzt auf das weite Feld der Arbeitsmedizin begeben hat, kennt beruflich bedingte Todesfälle bisher nur wegen Kohlegrubenstaubs (Silikose). Asbest war die letzten Jahre deutschlandweit kein Thema, weder gesellschaftlich noch medizinisch  - Asbest wird überall als perfekter Rohstoff wahrgenommen.

WOITOWITZ geht der Sache nach, erkundigt sich und stößt bei seinen Recherchen auf die Fa. "Rex Asbestwerke Graf von Rex KG" (heute "Rex Industrie-Produkte Graf von Rex GmbH") im schwäbischen VELLBERG. Dort hatte die 34jährige gearbeitet.

WOITOWITZ telefoniert und es gelingt ihm, bis zum Besitzer vorstoßen, der von seiner Firma sagt, sie würde bei ihren Produkten "einen sehr hohen technischen Standard" setzen und "seit jeher zu den weltweiten Technologieführern" gehören (heutige Eigenwerbung zu den Jahren "seit 1955"). WOITOWITZ kann den Grafen zu einem Treffen überreden. Er trifft sich daher mit "Wolff Alexander Heinrich Caspar Graf von REX", der in einem Porsche angedüst kommt - auf einer Autobahnraststätte.

WOITOWITZ berichtet ihm von seinem Forschungsprojekt, das auch die Asbeststaubbelastungen untersuchen solle, und da der Graf von dem perfekten Funktionieren seiner Asbestfabrik überzeugt ist, sagt er dem jungen Mediziner eine Betriebsbesichtigung zu 


unmittelbar danach

Besuch bei den Rex Asbestwerken

Als Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ sich den Asbestbetrieb anschaut, bietet sich ihm ein Bild des Grauens. Solche Arbeitsbedingungen hat er sich nicht vorstellen können. Sie waren "katastrophal", wie er sich im Nachhinein erinnert. Nirgendwo Absauganlagen, überall dichter Staub, keinerlei Maßnahmen erkennbar, diese "katastrophale" Situation einzudämmen. Von Beenden ganz zu schweigen.

Was WOITOWITZ zu dieser Zeit noch nicht wissen kann: Erst zwanzig Jahre später wird ein Allgemeinmediziner in einem Nachbarort eine Strafanzeige gegen die Rex Asbestwerke "wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung" stellen. Die Staatsanwaltschaft wird auch ermitteln und es gelingt ihr, zusammen mit der Polizei in Schwäbisch Gmünd, neben beschlagnahmten Unterlagen viele weitere Informationen zusammen zu tragen, woraus sich rekonstruieren lässt, wieviele Beschäftigte bei ihrer Arbeit krank geworden sind und/oder ihr Leben verloren haben. 80 Namen stehen auf der Liste:  

Was sich auch dann erst herausstellen wird: Bereits vor zehn Jahren hatte es eine Betriebsbesichtigung gegeben, und zwar von Amts wegen: unter Beteiligung des zuständigen Gewerbearztes, der Berufsgenossenschaft Textil und des Staubforschungsinstituts der Berufsgenossenschaften. Anzutreffen war eine "Staubkonzentration, die das Maß des Erträglichen erheblich überschritt", wie ein Zeuge der  Staatsanwaltschaft gegenüber erklären wird. Und:

"Die Beschäftigten seien vielfach so mit Staub überzogen gewesen, daß sie wie 'Schneemänner' aussahen. Ins Freie abgeblasene Luft habe dazu geführt, daß im Umkreis die Pflanzen und auch Tiere wie z.B. Kühe mit Asbeststaub behaftet gewesen seien. Dies alles sei hingenommen worden, weil man  über die Gefahr von Asbest nicht aufgeklärt gewesen sei."

Und es wird klar, dass weder die staatliche Gewerbeaufsicht noch die von der Industrie finanzierte Berufsgenossenschaft darauf geachtet haben, dass die Auflagen, die beide mehrfach angemahnt, aber nie kontrolliert hatten, auch befolgt würden


Gesetzliche Unfall-Versicherung

Genau dies ist das Problem der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV): Sie hat zwei Aufgaben:

  1. Die Verhütung (Prävention) "mit allen geeigneten Mitteln" und somit auch die Überwachung der Einhaltung wirksamer Arbeitsschutzmaßnahmen und
  2. wenn die nicht gefruchtet haben, zu entschädigen, wenn trotzdem etwas passiert ist.

Kommt die Gesetzliche Unfallversicherung diesen beiden Aufgaben hinreichend nach?

Zum einen entschädigt sie nur ungerne und deswegen versucht sie, dies weitgehendst zu verhindern. Nicht nur des Geldes wegen, dass sie zahlen müsste, sondern weil jeder Arbeitsunfall und jede beruflich verursachte Krankheit zugleich ein Eingeständnis darstellt, dass sie ihre Kernaufgabe Nummero 1 nicht wirklich wahrgenommen hat: gesundheitliche Schädigungen "mit allen geeigneten Mitteln" zu vermeiden


WOITOWITZ nimmt daher Kontakt mit dem Hauptgeschäftsführer der zuständigen Berufsgenossenschaft auf, macht ihm klar, dass so etwas nicht sein dürfe, diskutiert mit ihm immer wieder. Fünf Jahre später ist der BG-Mann soweit; er wird der Einrichtung einer Zentralen Erfassungsstelle zustimmen, die die in der Asbestindustrie Beschäftigten regelmäßig ärztlich untersuchen soll um ggfs. medizinisch rechtzeitig eingreifen zu können.

In den USA funktioniert das alles anders. Eine gesetzlich vorgeschriebene Unfallversicherung, die von allen Betrieben finanziert wird und die dafür von jeglicher Haftung freigestellt sind, gibt es nicht. Die Unternehmen müssen sich selbst darum kümmern, wie sie mit Schadensersatzklagen umgehen wollen.

Bei der Fa. W.R. Grace & Co., die in Libby im Bundesstaat Montana eine spezielle Asbestart, Tremolit, abbaut, wagt ein Arbeiter mit Asbestose, seinen Arbeitgeber zu verklagen. Grace & Co lenkt ein, will jegliche Öffentlichkeit und staatliche Aufmerksamkeit vermeiden, zahlt und lässt sich dafür eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben


1968

In der US-amerikanischen Zeitschrift "New Yorker", die regelmäßig investigative Reportagen veröffentlicht und auf ungelöste Missstände aufmerksam macht, veröffentlicht der Journalist Paul BRODEUR einen sehr ausführlichen Artikel in verständlicher Sprache über die Asbestgefahren und wie man derzeit in den USA damit umgeht: "The Magic Mineral". Mit weiteren Büchern, die er schreibt, gelingt es ihm, das Problem einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen zu führen - und die Forschungsergebnisse von Irving SELIKOFF zu kommunizieren. Auch BRODEUR macht sich - wie SELIKOFF - bei der Industrie keine Freunde.

Weil die Asbestindustrie inzwischen sensibilisiert ist - nicht gegenüber den gesundheitlichen Problemen - und sich Sorgen um ihr Image macht, weiter befürchten muss, dass andere dem Beispiel einer Schadensersatzklage folgen könnten, schaltet sie eine PR-Agentur ein. Und zwar eine besonders erfolgreiche: "Hill & Knowlton" - eine Agentur, die sich für nichts zu schade ist, Hauptsache die Vergütung stimmt. 


Hill & Knowlton

Auf der Referenzliste von Hill & Knowlton steht ganz oben die Tabakindustrie. Als im Dezember 1952 im "Reader's Digest", der weitverbreitesten Zeitschrift der Welt, ein zweiseitiger und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen unterlegter Bericht über Krebs durchs Rauchen zu lesen war ("Cancer by the Carton") und die Tabakkonzerne ihr letztes Stündlein hatten schlagen sehen, kamen sie auf die Idee, gegenzuhalten. Und beauftragten die PR-Agentur Hill & Knowlton. Deren erfolgreicher Rat: Die Wissenschaft mit Wissenschaft zu bekämpfen. Konkret: allseits und immerwährend zu kommunizieren, dass die Forschung längst nicht zu Ende und längst nicht alles an Erkenntnissen endgültig sei.

Anders gesagt: Zweifel an den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen säen. Wörtlich: "scientific doubts must remain".

Und das geht ganz einfach. Man bezichtigt - beispielsweise - vorhandene Studien einfach der "Unwissenschaftlichkeit". Oder man meldet Zweifel an den Ergebnissen an. Kein Medium nimmt sich die Zeit, jetzt in eine - auch nur oberflächliche - Klärung dieser Vorwürfe einzusteigen. In Fernsehnachrichten wie etwa der ARD-"Tagesschau", die weniger als 15 Minuten Nachrichten auftischt und dabei ohnehin nicht mehr als 20 Informationen unterbringen kann, schon garnicht, und auch den Tageszeitungen ist eine inhaltliche Auseinandersetzung viel zu aufwändig: Ein Journalist müsste, erstens, selber alles verstehen und sich dazu, zweitens, im Detail die Untersuchungsmethoden auf ihre Validität ansehen, und dann im dritten Schritt überlegen, wie er das alles den Lesern verständlich darstellen kann. Also funktioniert diese Strategie, Wissenschaft mit 'Wissenschaft' zu bekämpfen, ausgesprochen effektiv.

Kommt uns das heute etwa bekannt vor? 

Nebenbei, etwas mehr als zwanzig Jahre später, 1990, wird sich Hill & Knowlton im Aufrag der kuweitischen Regierung die - heute so bezeichnete - "Brutkastenlüge" einfallen lassen, um die letzten Zweifler im amerikanischen Kongress zu überzeugen, dass ein militärisches Eingreifen der USA im Irak unverzichtbar sei: für den (Ersten) Golfkrieg. Ein klassischer Fall von Fake News, wie wir das heute nennen würden.


Dieses Rezept wollen die Asbestunternehmen, allen voran der Größte, Johns-Manville in New York City, übernehmen, und so lautet auch der Rat der Agentur, nur jene Gefahren einzugestehen, die unstrittig sind, und alles weitere im Unklaren zu lassen. 

So lässt denn auch die Quebec Asbestos Mining Association (QAMA), die von Johns-Manville dominiert wird, verlauten:

"Aus schlecht informierten und übertriebenen Presseerzeugnissen geht hervor, dass Asbest eine Gefahr für die Gesundheit darstelle. Diese Annahmen scheinen zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht, da noch keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise vorliegen." 

Als Beispiel für eine durchorganisierte Gegenkampagne lässt sich hier eine Broschüre der QAMA aus dem Jahr 1993 downloaden: Safe Use of Chrysotile Asbestos


2. Weltkongress: in der DDR

Diesesmal - 1968 - findet der weltweite wissenschaftliche Austausch in Dresden statt - politisch gewollt im Plenarsaal des Rathauses. In Dresden und Umgebung gibt es mehrere asbestverarbeitende Fabriken und in der DDR, die viele noch "Zone" nennen, sind ebenfalls Wissenschaftler zu Gange, die sich ehrlichen Herzens Gedanken um das gesundheitliche Wohl der arbeitenden Bevölkerung machen. Nicht nur in Sachen Asbest, sondern auch bei Lösemitteln und anderen potenziell gefährlichen Stoffen oder miserablen Arbeitsbedingungen. Nur verändern können sie in dieser "demokratischen" Republik, in der angeblich die Arbeiter und Bauern das Sagen haben, wenig. 

Jetzt ist es die DDR, wo sich die internationale Welt trifft, und auch OTTO aus Erlangen ist angereist, ebenso wie SELIKOFF aus den USA. Nur Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ nicht. Er darf nicht, sein Chef, Prof. VALENTIN hat es ihm nicht gestattet, der Aufbau des neuen Instituts für Arbeitsmedizin sei wichtiger.

Eigentlich ist längst alles klar was die Gefährlichkeit der Asbestverarbeitung anbelangt, aber trotzdem gibt es immer Zweifler. Zweifler, die inzwischen weniger aus wissenschaftlichen Gründen zweifeln, sondern weil sie - heimlich - sozusagen auf 'im Auftrag' zweifeln. Auch der Erlanger Arbeitsmediziner Helmut VALENTIN wird in Kürze dazugehören.

SELIKOFF und seine beiden Kollegen E.C. HAMMOND und J. CHURG, stellen die Ergebnisse einer inzwischen groß angelegten und abgeschlossenen epidemiologischen Studie aus den USA vor. Von 632 Asbestisolierern sind 30 an einer Asbestose gestorben, 20 an einem Mesotheliom und 72 an asbestverursachtem Lungenkrebs. Insgesamt 20%. Im Mittelpunkt der Diskussion: das Verhältnis von Lungenkrebs (Bronchialkarzinom) und Mesotheliom. Asbestose und das Mesotheliom, also ein Krebs am Zwerch- oder Rippenfell sind immer eindeutig asbestverursacht. Bei Lungenkrebs können es - grundsätzlich - auch andere Ursachen sein wie beispielsweise Rauchen. 

Aus diesem Grund ist es hilfreich, zu erfahren, ob es weltweit so ist, dass die drei Krankheitsbilder in einem bestimmten Verhältnis zueinander auftreten. Wenn es so wäre, dann könnte man, wenn sich wegen der langen Latenzzeit keine Asbestkörperchen beim Chrysotil-Asbest mehr nachweisen lassen (weil die inzwischen 'Fahrerflucht' begangen haben) aus dem statistischen Verhältnis - zumindest nachträglich - asbestverursachten Lungenkrebs identifizieren.

SELIKOFF, HAMMAND und CHURG kommen in ihrer Auswertung zu einer Zahl: Die Anzahl der an einem Mesotheliom Erkrankten im Verhältnis zu jenen, die einen Lungenkrebs bekommen haben, beträgt durchschnittlich = 1 : 2,4. 


1969

Die große DFG-Studie

Hans-Joachim WOITOWITZ besucht im Rahmen seiner eigenen Forschung mehrere Betriebe. Er soll - im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und inittiert durch die Gewerkschaft - 499 Beschäftigte aus unterschiedlichen Branchen untersuchen, um Zusammenhänge zwischen Staubbelastung und Gesundheits- bzw. Krankheitszustand zu ermitteln. Einer der Betriebe sind die "Frankfurter Asbestwerke - FAW", Zweigwerk Bad Berneck. Was sich ihm dort an Anblick bietet, entspricht dem, was er vor kurzer Zeit bei der Fa. Rex Asbestwerke gesehen hatte: alle Arbeiter ohne jeglichen Schutz, eine Asbeststaubbelastung bis zu 200 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft - unfassbare Arbeitsbedingungen. 

Mit Einverständnis der Unternehmensleitung kann WOITOWITZ Messungen durchführen und Fotoaufnahmen machen (Copyright aller Fotos: Hans-Joachim WOITOWITZ (HJW) / IPAS - Institut und Poliklinkik für Arbeitsmedizin, Giessen): 

WOITOWITZ ist entsetzt. Nicht nur als Wissenschaftler und Forscher. Er sieht den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt als Verpflichtung. Und so wird er es später auch handhaben. Auf der einen Seite mittels objektiver Kriterien nach neuen medizinischen Erkenntnissen suchen, auf der anderen Seite aber auch deutlich sagen, was dies für die Menschen bedeutet.

Während WOITOWITZ seine Ergebnisse auswertet, wiegelt ein Mitarbeiter, der beim "Staubforschungsinstitut der Gesetzlichen Unfallversicherung" bzw. deren zentralem Dach (damals "Hauptverband der Berufsgenossenschaften - HVBG", heute "Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung - DGUV") seine Brötchen verdient, Dieter HASENCLEVER, ab. Im "Jahrbuch des Vereins Deutscher Revisionsingenieure (VDRI)" für 1969 lässt er verlauten, dass bis zu 2 Millionen Fasern pro Kubikmeter Luft ungefährlich seien, zwischen 2 und 6 Millionen bedingt gefährlich und ab 6 Millionen gesundheitsschädlich


Berufsgenossen-schaften und Grenzwerte

Wenn die MAK-Kommission im Jahr 1976 beginnen wird, die Grenzwerte kontinuierlich herabzusetzen, wird man nicht bei 6 Millionen anfangen, sondern bei 2 Millionen. Und diesen Wert bis 1995 dann nach und nach auf 15.000 herabsetzen. Das entspricht wird dann weniger als 1 Prozent dessen, was die Berufsgenossenschaften bzw. deren zentrales Dach im Jahr 1969 als ungefährlich bezeichnen.

Das ist nicht allzu verwunderlich. Das System der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht so sehr der Gesundheit der Beschäftigten verpflichtet, auch wenn sie das immer wieder kommuniziert. Die GUV ist ein gesetzlich vorgeschriebenes System, dass v.a dazu dienen soll, die Haftung der Unternehmen solidarisch auf alle Betriebe zu verteilen.

Und so funktioniert der ökonomische Zusammenhang: Je weniger für Schäden gezahlt werden muss, umso kostengünstiger. Und je weniger man als "Schaden" oder "gefährlich" überhaupt definieren kann, umso besser. 

Anders gesagt: Je höher die Grenzwerte, umso mehr Geld lässt sich sparen


immer noch 1969

Für Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ ist 1969 ein wichtiges Jahr. Er erwirbt die Anerkennung als "Facharzt für Innere Medizin" und darf künftig die Zusatzbezeichnung "Arbeitsmedizin" führen. Und ihm wird für eine seiner inzwischen veröffentlichten Arbeiten zur Blutgasanalyse bei körperlicher Belastung die in der Branche der Arbeitsmedizin höchste Anerkennung zugesprochen: der "E.W. Baader-Preis"


Mai 1970: Krisensitzung in Sachen Asbest

Der inzwischen zum offiziellen "Arbeitsmediziner" gekürte Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ ist mit der arbeitmedizinischen und epidemiologischen Auswertung der 499 untersuchten Asbestbeschäftigten fertig und legt die Ergebnisse erstmals im Rahmen seiner Habilitationsschrift vor (siehe Abbildung). Zentrale Aussage: Bei rd 25% der Untersuchten, die noch keine ausgeprägten Krankheitsbilder hätten,  seien bereits röntgenologisch bedenkliche Veränderungen erkennbar. 

WOITOWITZ fordert daher, dass der gesundheitliche Zustand aller Asbestbeschäftigten

  1. fachärztlich dokumentiert und es dazu
  2. eine lebensbegleitende Asbestose-Früherkennung geben müsse und dass man eigentlich 
  3. ein unabhängigs Asbestforschungsinstitut brauche

Denn auf der einen Seite betrachte die Öffentlichkeit Asbest als ein "Mineral der 1000 Möglichkeiten", auf der anderen könne man in der Presse inzwischen vom "tödlichen Staub" lesen.

Wenige Tage später nimmt sein Doktor- und Habilitationsvater Prof. VALENTIN die Habilitationsschrift auf eine Dienstreise mit: nach Bonn, wo am 14. Mai der Hauptverband der Berufsgenossenschaften (HVBG, heute DGUV) tagt. Thema: "Erkennung und Erfassung asbestosegefährdeter Tätigkeiten".

Man trifft sich, weil Handlungsbedarf angesagt ist. Immer häufiger berichten die Medien über Asbest. Und dessen Probleme. Deswegen befürwortet man die Vorschläge, die VALENTIN von seinem Oberassistenten WOITOWITZ mitgebracht hat. Im Prinzip.

Prof. OTTO

Prof. VALENTIN's Erlanger Kollege, Prof. OTTO, trägt als erster vor und vertritt darüberhinaus die Meinung, dass "dieses Gespräch erforderlich sei, um zu verhindern, daß dieses Thema in der breiteren Öffentlichkeit durch Publikationsmittel in nicht vertretbarer Weise hochgespielt werde." So im Protokoll auf S. 6 (siehe oben).

Andererseits könnten, um den Wirtschaftsverband Asbest dazu zu bringen, eine bessere Kennzeichnung von asbesthaltigen Produkten bei seinen Mitgliedsunternehmen durchzusetzen, "mit diesem Verband auf einer objektivierenden Basis zu Regelungen zu kommen, Presseveröffentlichungen über die Zusammenhänge könnten als Druckmittel auf diesen Verband angesehen werden" (S. 5 des Protokolls).

Und so sinnvoll und notwendig die von WOITOWITZ geforderten regelmäßigen Untersuchungen seien, so betont OTTO weiter: "Der Sinn solcher Untersuchungen sei keinesfalls darin zu sehen, den Versicherten, koste es was es wolle, zu einer möglichst hohen Rente zu verhelfen" (S. 13).

Und ganz generell "herrscht einhelliges Einverständnis darüber, daß es unzweckmäßig wäre, die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt bereits mit diesen Fragen zu beunruhigen" (S. 6)  

Der Vorschlag von Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ nach einem unabhängiges Asbestforschungsinstitit spielt bei dieser Krisensitzung keine Rolle (mehr)


1971 und 1972

Die internationale Asbestindustrie, beraten von der PR-Agentur Hill & Knowlton, hat den Unternehmen empfohlen, sich besser zu vernetzen. Daher kommt es zur Gründung der "Asbestos International Association", abgekürzt AIA, die sich in 35 Ländern aufstellt. George McCAMMON, einer der wichtigsten Repräsentanten begründet die Asbestproduktion mit den Worten: "Mit Asbest schützen wir die Armen, es wäre unmoralisch, es ihnen zu verweigern."

Dazu veranstaltet ide AIA am 24. und 25. November 1971 eine zweitägige Konferenz in London, von der nichts nach außen dringt. Niemand von den Medien weiß davon. Auf der Tagesordnung: nicht die Gefahren und wie man sie verhindern kann, sondern wie man absehbare Einschränkungen seitens der Politik bzw. mögliche Verbote zeitlich möglichst weit hinauszögern kann.

Jedes einzelne Land kann seine Probleme vortragen. Und es werden Strategien diskutiert, z.B. wie man die Aktivitäten von Irving SELIKOFF oder jene der US-amerikanischen Occupational Service Health Agency mit 'alternativen Fakten' oder 'Fake News' wie wir heute sagen würden, unterlaufen kann.

Hier lässt sich die 68seitige Zusammenfassung der Konferenz nachlesen:

Ein weiteres Ergebnis auf Ratschlag von Hill & Knowlton in Deutschland: Die beiden Wirtschaftsverbände Asbest und Asbestzement gründen einen "Unabhängigen Wissenschaftlichen Beirat".

Prof. OTTO und Prof. VALENTIN

Mit von der Partie: Prof. Herbert OTTO. Er ist inzwischen zum "Direktor des pathologischen Instituts der Städtischen Krankenanstalten" in Dortmund aufgestiegen. Den Vorsitz hat man dem Doyen der bundesdeutschen Arbeitsmedizin angetragen: Prof. Helmut VALENTIN. 

Die Asbestindustrie will u.a. die kritischen Diskussionen im Zaum halten, die diverse "Asbestose-Ärzte" immer wieder lostreten. Einige sitzen im Heidelberger Krebsforschungszentrum. Die "Asbestose-Ärzte" sind noch jung, haben ihre Karriere noch vor sich und wollen natürlich irgendwann eine Famile gründen, ein schönes Häuschen bauen undsoweiter; genau darauf hat man sie im Mai anlässlich eines Treffens dezent hingewiesen.

Nun können die beiden Wirtschaftsverbände die bekannten Namen ihres "Unabhängigen Wissenschaftlichen Beirats" strategisch ins Feld führen. So heißt es in einer vertraulichen Notiz vom 12. Juni 1972, in der sie ihre Mitgliedsunternehmen, die Berufsgenossenschaften sowie das Innenministerium beruhigen:

"Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, daß die Gruppe der Asbestose-Ärzte sich nicht in Gegensatz zu den 4, später 5 internationalen Autoritäten stellen wird, und daß von nun an aus diesem Kreis alle emotionalen, eigensüchtigen, überspitzten und wirklichkeitsfremden Aktivitäten auf dem Gebiet der Gesundheits- und Umweltgefährdung durch Asbest nicht mehr zum Zuge kommen können."

VALENTIN nutzt seine "Autorität" noch im selben Jahr auf einer Asbesttagung, die die Bayerische Akademie für Arbeit- und Sozialmedizin in Gauting abhält. VALENTIN wird ein Jahr später der Präsident dieser erlauchten Medizineinrichtung werden. Und so betont die "Autorität" der bundesdeutschen Arbeitsmedizin den Umstand, dass "wir auf die technische Zivilisation, auf den Wohlstand nicht verzichten wollen. Wir müssen lernen, mit Risiken zu leben." Asbest sei eben ein sehr großes sozialökonomisches Problem: "Volkswirtschaften hängen zu einem großen teil von Asbest ab." Aber die geistige und materielle Selbstständigkeit vor allem des ärztlichen Stands sei eine gute Voraussetzung "für eine unbeeinflusste Entscheidung".


1973 und 1974

Nachdem in den USA der Kongress den "Occupational Safety and Health Act" beschlossen hat, darf die "Occupational Safety and Health Administration" Arbeitsplatz-Standards setzen. Und in Unternehmen Inspektionen vornehmen. Beim Thema Asbest definiert sie 6 geologische Arten, die unter diese Standards fallen. Wie sich das dort auswirkt und wie die Firmen reagieren, dazu mehr unter Asbest in den USA - das Beispiel W.R. Grace & Co.

In Deutschland wurde inzwischen die ZAs gegründet, die "Zentrale Erfassungsstelle asbeststaubgefährdeter Arbeitnehmer", die später in "Gesundheitsvorsorge" umbenannt wird und bei der sich in den ersten 20 Jahren über 100.000 Asbestbeschäftigte melden werden - auf freiwilliger Basis. Die Zahl wird noch bis auf 500.000 ansteigen. 

Gleichzeitig wird die Anzahl der Asbestgeschädigten zunehmen. Und die Zahl der Asbest-Toten. Die Berufsgenossenschaften wissen um diesen Trend. Und beginnen sich Sorgen zu machen. Allein die Einrichtung der ZAs kostet Geld - alle, die mit Asbest arbeiten, dürfen sich regelmäßig kostenlos untersuchen, ggfs. medizinisch behandeln lassen. Soweit das medizinisch noch Sinn macht.

Weil inzwischen Hans-Joachim WOITOWITZ zusammen mit einem Vertreter des Staubforschungsinstituts eine weitere Untersuchung über die Auswirkungen von "Asbest-Feinstaub und asbesthaltiger Feinstaub" vorgelegt hat und den Vorsitz der "MAK-Kommission zur Festlegung von Grenzwerten am Arbeitsplatz" Prof. Dr. Dietrich HENSCHLER übernommen hat, kommt auch in dieses von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) installierten Gremium Bewegung.

Prof. Dr. Dietrich HENSCHLER, Prof. für Toxikologie in Würzburg und vorher stellvertetender Vorsitzender der MAK-Kommission, hatte u.a. auch in den USA studiert. Und um sein Studium zu finanzieren, regelmäßig gearbeitet. U.a. im Kohlebergbau. Bei der BAYER AG hatte er als Werkstudent eine Verpuffung am eigenen Leib miterlebt, wäre um ein Haar gestorben, weiß also um die Probleme am Arbeitsplatz, insbesondere an nicht besonders schönen. Wissenschaftler, egal ob Mediziner oder Toxikologen, die die Arbeitswelt aus eigener Erfahrung kennen, haben zu der Problematik eine etwas andere Einstellung als Kollegen, die diese Arbeitssphäre nur aus den Büchern kennen.

So wird zu Beginn seiner Ägide Asbest ersteinmal als erwiesenermaßen beim Menschen als "krebserregend" eingestuft. Das bedeutet, dass ab sofort, aber nach und nach die Grenzwerte am Arbeitsplatz herunter gefahren werden (müssen). 

Zeitgleich schließt Prof. OTTO eine Untersuchung ab, die er im Auftrag des Hauptverbandes aller Berufsgenossenschaften unter dem Aktenzeichen "617. 0 (638.31:376.3-31)" angefertigt hat. Eine Studie, die nie veröffentlicht werden wird. 

Ein zentrales Register für das System der Gesetzlichen Unfallversicherung

Was mit der unbekannten Studie bezweckt wird, wird wenig später in einem Rundschreiben "92/73" des Hauptgeschäftsführers des Hauptverbandes - indirekt - bekannt gegeben. Darin bittet der Hauptverband alle Berufsgenossenschaften und alle für sie tätigen gutachtenden Arbeitsmediziner, Pathologen usw. um Unterstützung des neu zu gründenden "Mesotheliomregisters". Das soll nämlich nicht nur zuständig sein für den besonders aggressiven Mesotheliomkrebs am Rippen- oder Zwerchfell, sondern auch für den Lungenkrebs. Beim Mesotheliom lässt sich die Asbestverursachung nicht bestreiten. Beim Lungenkrebs schon.

Und so heißt es in dem Rundschreiben: 

„Die BG-lichen Verwaltungen werden gebeten, den beauftragten, obduzierenden Pathologen darauf hinzuweisen, dass die Lunge des Verstorbenen nach Entnahme an das Institut von Herrn Prof. Otto zu senden ist, damit dort eine ergänzende Untersuchung zur Bestimmung der Menge und Qualität der in der Lunge eventuell abgelagerten Asbestpartikel erfolgen kann."

Die Chrysotilasbestfasern haben bekanntlich ja die Eigenschaft, dass sich deren Magnesiumbestandteile auflösen und ebenso dann die kleinen Fasern. Sie sind dann nicht mehr nachweisbar. Wenn es dann eine zentrale Stelle gibt, die die "Bestimmung der Menge und Qualität" von "eventuell abgelagerten Asbestpartikeln" durchführt, dann lässt sich darüber die Anzahl der anzuerkennenden und zu entschädigenden Lungenkrebsfälle steuern.

Das zentrale Mesotheliomregister, das all diese Beurteilungen monopolisieren wird, ist zunächst am Pathologischen Institut der Städtischen Kliniken in Dortmund untergebracht, Prof. OTTO's aktueller Wirkungsstätte. Wenn OTTO abtritt, wird das Mesotheliomregister an das Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum verlegt. Dort, wo die Berufsgenossenschaften eine enge Zusammenarbeit mit dem IPA-Institut pflegen, ebenfalls eine Einrichtung des Systems der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung bzw. dessen "Hauptverband der Berufsgenossenschaften".

Leiter des neuen Registers: Prof. OTTO (52).

Sein neuer wissenschaftlicher Gegenspieler ab sofort: Prof. WOITOWITZ (39).

Der hat inzwischen einen Ruf an die Universität Giessen und deren Poliklinik für Arbeitsmedizin angenommen. Sein Institut wird künftig unter dem Kürzel "IPAS" firmieren: "Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin"


Noch sind die Zahlen derer, die sich bei den Berufsgenossenschaften wegen Asbestschädigungen um Anerkennung bemühen, absolut gesehen gering. Aber der Trend ist absehbar - ablesbar an den Latenzzeiten zwischen 20 und 40 Jahren.

Für Großbritannien hat wird dies in einigen Jahren der britische Epidemiologe vom "Institute of Cancer Research" in Sutton, der auch an der "London School of Hygiene and Tropical Medicine" lehrt, J. PETO, so prognostizieren: 

Die Balken in der Grafik stehen für die Asbestimporte in Großbritannien. Die um die Latenzzeit versetzten Kurven geben die prognostizierten Mesotheliom-Todesfälle wieder, deren absehbarer 'Höhepunkt' für den Zeitraum um 2020 angesetzt ist (die aktuelle Entwicklung ist grafisch festgehalten in Asbest: die 4 tödlichen Schadensbilder


1975

Dort, im Vereinigten Königreich, einem der für die internationale Asbestindustrie absatzstärksten Länder, wühlt ein Film der BBC mit dem Titel "Horizon" die britischen Gemüter auf. Bilder aus der Fabrik Cape's Acre Mill Asbestos aus der Grafschaft Yorkshire machen den Behörden klar, dass Handeln angesagt ist. Erster Schritt: (mal wieder) ein (neuer) Untersuchungsbericht ("Ombudsman Report"), der sich kritisch mit den nicht eingehaltenen Vorgaben aus den Jahren 1931 auseinandersetzt. Reaktion: die Einsetzung einer (weiteren) Untersuchungskommission, dem "Simpson Committee", das 1979 seinen Bericht vorlegen wird. Unabhängig davon wird ein Grenzwert festgesetzt: wie in Deutschland 2 Millionen Fasern pro Kubikmeter Luft.  

In Deutschland ereignen sich zwei Dinge:

Zum ersten wird das Mesotheliom als neue Berufskrankheit anerkannt. Für die Betroffenen ist das eher nicht von Bedeutung, denn wenn dieser aggressive Krebs begonnen hat, verbleibt dem Geschädigten maximal ein Jahr an restlicher Lebenszeit. Eine Rente als Entschädigung nützt ihm nichts (mehr). Schon deswegen, weil ersteinmal ein Antrag gestellt, über den dann entschieden werden müsste, nachdem entsprechende Gutachten die Berufsbedingtheit begründet haben. Dies bedeutet konkret: Es muss in den Gutachten a) die "haftungsbegründende Kausalität" und b) die "haftungsausfüllende Kausalität" bewiesen worden sein.

Zum zweiten veranstalten in Berlin (West) die BGen ein "Colloquium Asbest und Asbestose". Einer der Hauptredner: Der Chef des BG-eigenen Mesotheliomregisters Prof. OTTO.

OTTO wartet mit 2 neuen Thesen auf:

  1. Da bei der pathologischen Nachuntersuchung von 66 Mesotheliomen in den Lungen nur in zwei Dritteln ein erhöhter Anteil nadelförmiger Partikel gefunden worden seien, könne das Mesotheliom in einem Drittel der Fälle "nicht berufsbedingt" entstanden sein. Sondern aus "spontaner Ursache". Es gibt also eine "spontane" Erkrankung.
    Damit greift er die These seines Kollegen Prof. VALENTIN auf, der inzwischen den Begriff "schicksalhafte Erkrankung" geprägt hat. Ähnlich kommen mehrere US-Mediziner gerne mit "genetically inferior" daher.
  2. Weitere Schlussfolgerung von OTTO: "Wir haben keinerlei objektive Gründe zu der Annahme, daß Asbestnadeln in der Lunge spurlos verschwinden würden"

Insbesondere mit der letzten These stößt OTTO auf heftigen Widerspruch, und zwar aus den Reihen der Berufsgenossenschaft selbst. So z.B. durch den Direktor des BG-eigenen Staubforschungsinstituts, Dr. Alfred SCHÜTZ. Aber auch Irving SELIKOFF, der aus den USA angereist ist, hält das für völlig absurd. 

Schließlich ist seit Jahrzehnten bekannt, was WOITOWITZ später als "Fahrerfluchtphänomen" bezeichnen wird und was mehrere Untersuchungen - zuletzt 1965 von G. NAGELSCHMIDT - immer wieder bestätigt haben: Chrysotilasbestfasern verschwinden irgendwann in der Lunge - nachdem sie den Schaden angerichtet haben. Und Chrysotil ist der am häufigsten vorkommende Asbest. Sein Anteil in Deutschland an allen Asbestarten: rund 94%. 

Alternative Fakten?

OTTO belegt seine These nicht, dass nur eine "ausreichende" Anzahl an Asbestkörperchen für eine arbeitsplatzbedingte Krankheit in Frage kommt. Auch nicht in der später erscheinenden schriftlichen Version seines Vortrages. Trotzdem sind es zwei Dinge, die OTTO kommuniziert, nämlich

  1. dass für eine beruflich bedingte Anerkennung die nachweisbare Existenz von Asbestkörperchen Voraussetzung ist und dass
  2. diese in "ausreichender" Anzahl vorhanden sein müssen.

Über die Höhe der "ausreichenden" Anzahl legt sich OTTO nicht fest. Noch nicht.

Dies stört einen der Zuhörer in keinster Weise: Dr. P.V. PELNAR, Assistent am "Institute of Occupational and Environmental Health - IOEH" in Montreal, eine Einrichtung der Canadischen Asbestindustrie. Eine seiner Aufgaben: das weltweite und regelmäßige Versenden eines Newsletters (wie wir heute sagen würden) auf gelbem Papier, in dem wissenschaftliche Aufsätze angesprochen und kurz besprochen werden. So geschieht es auch mit dem OTTO-Vortrag und dessen Thesen, die nun in aller Welt zirkulieren. Um den Thesen weiter Gewicht zu verleihen, lässt das IOEH OTTO's Vortrag ins Englische übersetzen, verteilt ihn auf die gleiche Weise und so geht das, was OTTO jetzt neuerdings in Deutschland kommunizieren und vertreten wird, unter dem Code "IOEH 4474" in die beim IOEH bibliographierte Asbestliteratur ein.

Heute würden wir in einem solchen Fall von "alternativen Fakten" sprechen. 1975 gibt es diesen Begriff noch nicht.

Ansonsten beginnt jetzt das Geschachere um die absehbare Reduktion der Grenzwerte. Der Wirtschaftsverband Asbestzement, der zu diesem Zweck einen angehenden bereits habilitierten Wissenschaftler eingestellt hat, der nichts anderen macht als Lobbyarbeit, versucht mit allen Tricks hier, da und dort um die kleinsten Formulierungen, Definitionen und Zahlen zu feilschen:

Prof. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ

Der neue Lehrstuhlinhaber an der Justus-Liebig-Universität in Giessen, der inzwischen in die MAK-Kommission berufen wurde und in der "Arbeitsgruppe Festlegung von Grenzwerten für Stäube" sitzt, lässt sich nicht so einfach überrumpeln. Jetzt, wo WOITOWITZ "Professor" und Hochschullehrer ist, kann er seine Unabhängigkeit zu 100% einsetzen. Und Einflussnahme der Industrie bzw. der Berufsgenossenschaften sehr viel besser abwehren. Schon deswegen, weil er sich als Mediziner - im Gegensatz zu seinem ehemaligen Mentor VALENTIN oder dessen Kollegen OTTO - mehr der Gesundheit der Geschädigten verpflichtet fühlt als den finanziellen Interessen des Berufsgenossenschaftssystems


1976 - 1979

Weil sich WOITOWITZ inzwischen eine ganze Mannschaft zusammengetrommelt hat, die alle wichtigen Bereiche der Arbeitsmedizin wie Chemie, Labor, Physik, Statistik und Epidemiologie, Elektronenmikroskop u.a.m. abdecken, kann er in die Vollen steigen. Unter anderem stellt er eine Dokumentation zusammen, in welchen Branchen Asbest eingesetzt wird und welche Berufsgruppen davon betroffen sind. 

Fast zwei Drittel der 164.000 importierten Rohasbesttonnen werden zu Asbestzement verarbeitet. Der Rest verteilt sich auf Fußbodenbeläge, Bremsbeläge, Asbestpappen und -dichtungen, Asbesttextilien u.a. Die Berufsgruppen, die am meisten mit asbesthaltigen Produkten in Berührung kommen, sind Dachdecker, Fassadenbauer, Lüftungsbauer und Rohrverleger, Kfz-Mechaniker, Fußbodenverleger sowie alle Hitzeberufe wie Schweißer, Isolierer, Elektriker, Werftarbeiter usw. Hier gibt es eine von Hans-Joachim WOITOWITZ erstellte Grafik zur Herstellenden Industrie und Verarbeitern/Anwendern

Folgerichtig fängt er mit seinem Team an, die Staubbelastungen in den verschiedenen Berufsgruppen, konkret an deren Arbeitsplätzen zu messen - mit speziell entwickelten Messgeräten. So entsteht beispielsweise in den nächsten Jahren eine Bremsbeläge-Untersuchung in Kfz-Werkstätten im Zusammenhang mit dem Ausblasen der Trommelbremsen. Ebenso eine Baustellenstudie, wo die Staubbelastung zum Beispiel beim Flexen von  Asbestzementplatten ermittelt wird: 

In der Kfz-Werkstatt misst WOITOWITZ 2 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft, beim Flexen in der frischen Luft zwischen 30 und 60 Millionen. Alles wichtige Informationen für seine Mitarbeit in der MAK-Kommission bzw. in der speziellen Arbeitsgruppe "Stäube".

1976 ist auch das Jahr, in dem die MAK-Kommission den Grenzwert neu definiert und ihn - ersteinmal auf 2 Millionen Fasern/m3 festlegt - mit der klaren Ansage, dass er demnächst halbiert wird. So sind der Industrie klare Signale gesetzt. Sie könnte sich - spätestens ab jetzt - nach alternativen Lösungen umsehen


immer noch 1976

"Volkswirtschaftlich förderungswürdig"

Zu dieser Zeit wird ein deutscher Milliardär seiner Aktienbeteiligung in Höhe von 2 Milliarden DM an dem deutschen Nobelunternehmen Daimler-Benz AG überdrüssig: Friedrich Karl FLICK ("FKF"). Er will lieber in den USA investieren, verkauft seinen Anteil an die Deutsche Bank und hat nun 2 Milliarden DM auf seinem Konto liegen. Darauf müsste er eigentlich Steuern zahlen, doch FLICK hat schon seit längerem vorgesorgt. Seit Jahrzehnten betreibt er das, was sein Bevöllmächtigter später als "politische Landschaftspflege" bezeichnen wird. Gemeint: FLICK verteilt seit Jahrzehnten regelmäßig Parteispenden an die Parteien CDU, SPD und FDP. Seine Lieblingsparteien CDU und FDP profitieren davon etwas mehr als die Sozis. Damit er das auch von der Steuer abziehen kann, ohne dass das Finanzamt misstrauisch wird, hat er sich mehrere Modelle konstruieren lassen: eine Briefkastenfirma im Fürstentum Liechtenstein und ein unverdächtiges Kloster in St. Augustin. Das alles wird in Kürze in den größten Parteispendenskandal münden, auch unter dem Kürzel "Flick-Affäre" bekannt (mehr unter www.ansTageslicht.de/Flick).

Jetzt hat FLICK alle in der Hand. Und so sieht sich der Bundeswirtschaftsminister Otto Graf von LAMBSDORFF (FDP) bemüßigt, im Bonner Kabinett durchzusetzen, dass FKF seine beiden Milliarden steuerfrei in den USA investieren darf. Er kann sich sogar auf ein Gesetz berufen, dass solche Ausnahmen dann zulässt, wenn eine "volkswirtschaftliche Förderwürdigkeit" vorliegt.

Diese "volkswirtschaftliche Förderwürdigkeit" sieht das Bundeskabinett unter Helmut SCHMIDT (SPD) mit seinem SPD-Finanz- und seinem FDP-Wirtschaftsminister als eindeutig gegeben an, und so fließen die beiden Milliarden in die USA: in ein 30prozentiges Aktienpaket an W.R. Grace & Co. 

Grace ist eine Art 'Gemischtwarenladen', aber ziemlich groß, und zu seiner Produktpalette gehört eben auch die Asbestmine in Libby/Montana.

W.R. Grace & Co. befindet sich gerade im Clinch mit der zuständigen Behörde, der Occupational Service and Health Administration (OSHA). Und versucht sie mittels einer neuen Studie über ihren speziellen Asbest, den Tremolit aus Libby im Bundesstaat Montana, die sie selbst bezahlen will, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Als das Ergebnis klar ist, dass Tremolit bei Hamstern nicht nur Asbestose, sondern auch Krebs erzeugt, weigert sich Grace, die Studie zu veröffentlichen (mehr unter USA - das Beispiel W.R. Grace & Co -NOCH NICHT ONLINE). Und es gelingt Grace, die Behörde zu täuschen: Indem Grace & Co im Zusammenhang mit dem Schriftverkehr immer wieder hervorhebt, dass es "keine veröffentlichte Studie" gäbe, die einen Zusammenhang zu Krebs ergeben hätte. 

Auch das gehört zum strategischen Instrumentenbündel, das Hill & Knowlton seinen Kunden weitergegeben hat: Auch auf das 'Wording' kommt es an. Egal ob bei Korrespondenzen mit Staatsbeamten oder im Umgang mit der Presse


danach

Inzwischen berichten Journalisten und Medien häufiger über Umwelt- und Gesundheitsprobleme. Nicht nur in Sachen Asbest.

Im Juli 1976 hatte es in einer Fabrik namens ICMESA nahe dem italienischen Städtchen Seveso eine Explosion gegeben: ein Kessel mit Trichlorphenol (TCP) hatte seinen Geist aufgegeben, als ein Überdruckventil geplatzt war. Folge: eine unsichtbare Wolke trat aus und verteilte sich über die Region. darunter ein Stoff, der bald einen weltbekannten Namen bekommen wird: Dioxin.

Darüber berichtet ersteinmal niemand, weil man eine dioxinhaltige Wolke weder sehen, fotografieren oder filmen kann. In Deutschland nahm man dieses Ereignis erst im Dezember zur Kenntnis, als die Illustrierte "stern" mit diesem Titelbild und einer ausführlichen Geschichte darüber erschienen war (mehr unter www.ansTageslicht.de/Holzschutzmittel). Auch dass der "Club of Rome" Asbest inzwischen auf die Liste der giftigsten Stoffe neben Blei und Quecksilber gesetzt hatte, ist nicht allen bekannt. Und viele, die ihren Arbeitsplatz für wichtiger halten als Fragen der Gesundheit, nehmen Probleme einfach nicht wahr.

So meint beispielsweise der Leitende Werksarzt Dr. Hans LOSKANT vom Chemiegiganten Hoechst auf einer Tagung der staatlichen BAuA, der "Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin" in Dortmund im Jahr 1977, spezielle Arbeitsplätze "bevorzugt mit älteren Arbeitnehmern zu besetzen", weil die ja wegen der Latenzzeit das klinische Erscheinen einer Krebserkrankung nicht mehr erleben. 

Das Thema Arbeitsplatz versus Gesundheitsgefährdung spielt auch bei den Gewerkschaften immer mehr eine Rolle, die sich - eigentlich - ja beides auf ihre Fahnen geschrieben haben. Aber offizielle Verlautbarungen und praktisches Handeln sind oft zwei verschiedene Dinge. Und nur wenige sehen in diesem Zielkonflikt eine Herausforderung oder eine Chance, Probleme mit neuen Lösungen anzugehen.

Bei der Gewerkschaft "IG Chemie, Papier, Keramik" ist es Gerd ALBRACHT, der die nächsten Jahre im Vorstand die Position eines Asbestverbots thematisiert. Und diese Forderung - nach vielen Diskussionen und Querelen in den nächsten drei Jahren - mühsam durchsetzen kann. Immerhin sind ca. 25.000 Arbeitnehmer männlich und weiblich direkt in asbestverarbeitenden Branchen beschäftigt und etwa 1 Million seien vorübergehend und/oder beruflich exponiert. ALBRACHT wird von seinem Chef gedeckelt: Hermann RAPPE (SPD), erst Stellvertreter, später Vorsitzender der IG-Chemie, Abgeordneter im Bundestag, dort Vorsitzender des Arbeitsausschusses, Aufsichtsratsmitglied beim Chemieriesen BAYER und viele andere Funktionen mehr.

Ganz anders ist Reinold KONSTANTY im Hauptvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zugange.

Während ALBRACHT von oben Veränderungen zu initiieren versucht, macht es KONSTANTY umgekehrt. Er sucht sich Asbestunternehmen aus, um die Betriebsräte von den Gesundheitsgefahren zu überzeugen. Und veranstaltet mit diesen unterschiedliche Aktionen wie z. B. Pressekonferenzen mit Betriebsräten in jenen Städten, wo es Asbestunternehmen gibt. Das greifen dann die lokalen Zeitungen auf, aber auch die überregionale Presse. Das Asbestproblem gerät langsam in die öffentliche Wahrnehmung. Zusätzlich schreiben die Betriebsräte eines Mühlheimer Spritzasbestunternehmens an den SPD-Arbeitsminister Herbert EHRENBERG, er solle wenigstens diese Form von Asbestverarbeitung verbieten, bei der bis zu 300 Millionen Blauasbestfasern pro Kubikmeter eingeatmeter Luft durch die Gegend schwirren. 


1979

Erfolgreiche Einflussnahme auf die SPD-FDP-Regierung

Ein erster Schritt in Richtung Asbestverbot tritt mit Beginn des Jahres 1979 in Kraft: Der Einsatz von Spritzasbest wird verboten. Reinhold KONSTANTY's Aktionen zeigen erste Früchte. In der DDR, die nach den außenpolitischen Erfolgen der Ostpolitik von Willy BRANDT, nun nicht mehr "Zone" genannt wird, hatte man das Spritzasbestverfahren bereits zehn Jahre früher verboten.

1979 ist aber auch das Jahr, in dem der zulässige MAK-Grenzwert am Arbeitsplatz halbiert wird: Statt 2 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft sind nunmehr nur noch 1 Million zulässig. Mit absehbar weiter sinkender Tendenz.

Die versuchen die Unternehmen über ihre Verbände zu torpedieren, wo immer es nur geht. So informiert beispielsweise der "Wirtschaftsverband Asbest" seine Mitglieder in seinem Geschäftsbericht, dass "die Anti-Asbestkampagne, die in zahlreichen Presseveröffentlichungen und Fernsehfilmen ihren Niederschlag gefunden hat, und die Auseinandersetzungen mit den vorstehend beschriebenen Gesetzentwürfen" zu einer engeren Zusammenarbeit der Unternehmen geführt hat. Und alle "konnten sich dabei auf den fachwissenschaftlichen Rat des 'Asbest-Instituts für Arbeits- und Umweltschutz' in Neuss und die unter der Leitung von Prof. Dr. med. Helmut VALENTIN in Erlangen tätige Berater- und Meßgruppe stützen."

Ergebnis:

"In harten Auseinandersetzungen um tragfähige Kompromisse ist es gelungen, im Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz), Verpackungs- und Kennzeichnungsregeln auf den Rohstoff Asbest zu begrenzen und Gefahrensymbole zu vermeiden."

Und weiter:

"Ganz besonders schwierige Verhandlungen sind durch den Entwurf einer neuen Arbeitsstoffverordnung ausgelöst worden. Denn das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hatte unter dem Eindruck angeblich hoher Dunkelziffern von Asbestfolgekrankheiten in einem Anhang 2 mit besonderen Vorschriften für den Umgang mit krebserzeugenden Arbeitsstoffen Asbest ursprünglich in die Risikogruppe I (sehr stark gefährdend) aufgenommen. Das konnte ebenso verhindert werden ... wie die Kennzeichnung asbesthaltiger Produkte mit dem negativen Hinweis 'krebsgefährdend'."

Der zuständige Arbeitsminister, gleichzeitig ein überzeugter Gewerkschafter, heißt Herbert EHRENBERG (SPD), der Bundeskanzler Helmut SCHMIDT.

Prof. Otto und Prof. VALENTIN

Derweil bleiben auch diese beiden Herren nicht untätig:

Prof. OTTO lässt sich auf der Jahrestagung der "Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin" (DGAUM), dem Branchenverband aller Arbeitsmediziner, über "Versicherungsmedizinische Probleme bei der Beurteilung berufsbedingter Krebskrankheiten am Beispiel des Mesothelioms" aus: Bei 108 solcher Fälle habe er nur bei dreien eine vorangegangene Asbestose feststellen können. Und bei 37 hätten sich weder eine Asbestose noch histologisch Asbestkörperchen ausmachen lassen. Ergo: So schlimm kann es mit den arbeitsplatzbedingten Gefährdungen nicht sein, Erkrankungen seien ja doch wohl eher aus "spontaner" Ursache zu sehen.

Sein Erlanger Kollege, Prof. VALENTIN, jetzt bereits im fünften Jahr heimlich Vorsitzender des "Unabhängigen Wissenschaftlichen Beirats" der deutschen Asbestindustrie, sekundiert ganz generell zusammen mit seinem neuen wissenschaftlichen Assistenten Gerhard TRIEBIG in einer Publikation über "Bösartige Erkrankungen verursacht durch Arbeit und Beruf", dass es wohl weniger als 1% seien, die wirklich berufsbedingt entstehen.

Die parallelen Aktivitäten des VALENTIN-Schülers Dr. med. Gerhard TRIEBIG, der später ebenfalls zum Professor aufsteigen wird, sind dokumentiert unter www.ansTageslicht.de/Triebig 


1979 / 1980

Untersuchung des Umweltbundesamtes - UBA

Reinhold KONSTANTY, zuständig beim DGB für Arbeitsschutz, plant derweil die nächste Aktion. Er weiß: Um ein Thema flächendeckend zu kommunizieren, bedarf es eines 'Vehikels'. Und KONSTANTY weiß, dass es eine gigantisch große Dunkelziffer bei den Toten gibt. Nur wenig Hausärzte und noch weniger Asbestarbeiter kommen auf die Idee, beispielsweise einen Krebstumor auf Asbesteinwirkung zurückzuführen. Reinhold KONSTANTY will jetzt wissen, wieviele Menschen jährlich daran sterben.

Zahlen von den Berufsgenossenschaften erhält er nicht. Aber er kann mit Hilfe einiger Betriebsräte von Asbestunternehmen Zahlen zu den dort vorzeitig Gestorbenen rekonstruieren. Diese Erfahrungswerte überträgt er auf andere vergleichbare Unternehmen. Und rechnet zum Schluss alles hoch. Eine mühsame Sisyphosarbeit, auf diese Weise ein ganzes Land mit unendlich vielen Firmen und ihren Asbestprodukten zu erfassen. Aber KONSTANTY kommt auf eine Schätzzahl: 10.000 Asbesttote jedes Jahr.

Und so lautet dann auch die Überschrift eines großen SPIEGEL-Artikels am 1. Dezember 1980: Jedes Jahr 10.000 Tote durch Asbest? 

Die Reaktionen sind deutlich. Von "Panikmache" spricht die Gewerkschaft IG Chemie. Die IG Metall bestärkt KONSTANTY. Bundeskanzler Helmut SCHMIDT ist aufgebracht. Er greift zum Telefon, fordert höchstpersönlich beim Bundesvorstand des DGB, den Arbeitsschutzmann an die Kette zu legen. 

Derweil ist Prof. WOITOWITZ mehr als beschäftigt. Er sitzt an einer großen Ausarbeitung über die "Tumorepidemiologie" im Auftrag des Umweltbundesamts, kurz UBA. Die jetzt kursierende Zahl von "10.000" Asbesttoten hat nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft aufgeschreckt. Zum Beispiel auch das UBA.

Das UBA darf keine Untersuchungen an Arbeitsplätzen durchführen, weil dies die Domäne des Arbeitsministeriums darstellt. Aber wenn Asbeststaub in die Umwelt  gelangt, wie dies beispielsweise auf Baustellen vorkommt, oder wenn Asbestzementplatten geflext werden oder die ersten Asbestdächer verwittern und sich allmählich im wahrsten Sinne des Wortes in (der) Luft auflösen, oder wenn Kinder beim Spielen mit durch Schornsteine abgesaugten Asbestfasern in der Umgebungsluft in Berührung kommen, wie das bei den Rex-Asbestwerken im schwäbischen Vellberg der Fall ist, dann betrifft dies die Umwelt und nicht (nur) den Arbeitsplatz. Dann darf auch das UBA tätig werden.

Das UBA ist eine Bundesoberbehörde, die zu dieser Zeit zum Einflussbereich des Bundesinnenministeriums in Bonn gehört. Die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP unter Helmut SCHMIDT (SPD) vermochte  bisher nicht, die Sinnhaftigkeit eines Umweltministeriums zu erkennen. Das wird es erst 1986 und dann unter einer CDU/FDP-Regierung geben.

Jedenfalls arbeiten zu dieser Zeit in diesem Amt viele engagierte Beamte, die - im Gegensatz zu vielen anderen Behörden - ihren Job mit großer Empathie ausüben. Sie initiieren und machen, was geht. Auch wenn es manchmal - ein klein wenig - außerhalb der formalen Regeln geschieht. Und so entsteht letztlich auch eine groß angelegte Untersuchung über die "Umweltbelastung durch Asbest und andere faserige Feinstäube".

Einer der wichtigsten Forscher, Wissenschaftler und Zuarbeiter: Prof. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ. Das Amt UBA kann bereits auf die ersten Ergebnisse der seiner "Baustellenstudie" zurückgreifen. Er und sein Team haben auf 88 Baustellen sowie an 5 Schneideanlagen bei Baustoffhändlern den Staub gemessen (man achte auf dem Foto auf das auf dem Rücken angebrachte und jenes hinter den Wellplatten stehende Messgerät):  

30 Millionen Asbestfasern pro 1 Kubikmeter Atemluft messen WOITOWITZ und sein Team. Und bundesweit entstehen so 23 Tonnen Asbeststaub nur auf den Baustellen. Andere Quellen nicht mit eingerechnet.

Weil es inzwischen die Spatzen von den Dächern pfeifen, dass das UBA demnächst mit einer Veröffentlichung aufwarten wird, ist bei der Eternit AG, deren Zentrale in Berlin am Ernst-Reuter-Platz über alle deutschlandweiten Eternit-Filialen thront und deren Geschäftsmodell auf Asbest basiert, Handeln angesagt. Die Unternehmensleitung lässt am 10. November 1980 den Gesamtbetriebsrat aller Eternit-Niederlassungen einen Brief aufsetzen: an den Bundesarbeitsminister EHRENBERG (SPD), der ebenfalls Mitglied in einer Gewerkschaft ist:

"Sehr geehrter Herr Bundesminister,

vor etwa einem Jahr, am 23.10.1979, haben wir uns im Zusammenhang mit der Novellierung der Arbeitsstoffverordnung mit der Bitte an Sie gewandt, die Einstufung von Asbest in die Gruppe I der gefährlichen Arbeitsstoffe zu verhindern."

Und das hat geklappt.

"Heute müssen wir erneut an Sie herantreten, weil vom Umweltbundesamt eine Existenzbedrohung auf uns zukommt. In einem in Druck befindlichen Bericht über die 'Umweltbelastungen durch Asbest' kommt das UBA zu dem Schluß, eine gesetzliche Regelung vorzuschlagen, welche die Herstellung und Verwendung von Asbestzement-Produkten untersagt." Und das würde ihre Arbeitsplätze gefährden, wird dem Arbeitsminister unmissverständlich signalisiert


1981

Reaktionen auf die UBA-Studie

Die "Existenzbedrohung" kommt am 19. Januar auf einer Pressekonferenz des Bundesinnenministers Gerhard BAUM (FDP) einher. Sein Ministerium steht dem UBA vor, das nun den 411seitigen Endbericht (UBA-Berichte 7/80) vorlegt: "Luftqulitätskriterien. Umweltbelastung durch Asbest und andere faserige Feinstäube."

Innenminister BAUM kündigt ein vollständiges Asbestverbot an: "Die Superfaser soll, wo immer es geht, verschwinden!"

In der Branche bricht das blanke Entsetzen aus. Der Eternit-Chef spricht von einem "Erdbeben".

Als dann auch noch einer der Initiatoren der Studie, Sigbort DOBBERTIN vom UBA, in der Fernsehsendung "Kennzeichen D" am 15. Februar die Prognose von jährlich bis zu 4.000 asbestbedingten Lungenkrebstoten aufstellt, ist für die Branche jegliches Maß übergelaufen.

  • Als erstes verklagt der Verband das Umweltbundesamt wegen Rufschädigung und will mit einer Einstweiligen Verfügung die Aussage von demnächst 4.000 Asbesttoten jedes Jahr untersagen lassen. Die zuständigen Gerichte, Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht, lehnen das ab.
  • Als nächstes versucht der Verband, dessen "Unabhängigen Wissenschaftlichen Beirat" der Doyen der bundesdeutschen Arbeitsmedizin, Helmut VALENTIN präsidiert, der Fa. Garlock GmbH aus Düsseldorf eine Anzeige zu untersagen, auf der zu lesen ist "Das asbestfreie Dichtungsprogramm ist da". Garlock ist einer der größten Dichtungshersteller der Welt und hat bereits zu dieser Zeit als einziges Unternehmen eine komplett asbestfreie Produktpalette im Angebot. Und sich rechtzeitig umgestellt. Garlock gibt es noch heute und wirbt mit dem Slogan "Stillstand kostet mehr als Zeit".
    Diese Klage hat vor dem Hamburger Landgericht Erfolg.
  • Als ein Bauingenieur aus Bad Oldesloe, der bei der Stadt angestellt ist und durch die Medienberichterstattung völlig verunsichert Anfragen an diverse Unternehmen stellt, etwa jene, ob "Tiefbauarbeiter beim Bearbeiten von Asbestzementplatten oder Asbestzementrohren besondere Vorsichtsmaßnahmen zu beachten" haben, erhält er ein Schreiben des Eternit-Anwalts, der auch für den Asbestverband tätig ist. Inhalt: Er solle künftig "keine Anfragen mehr an Dritte richten, in denen zur Gesundheitsgefährdung von Asbestzementprodukten Fragen gestellt werden, die zu einer Verunsicherung der weiterverarbeitenden Industrie führen können." Ansonsten müsse man gerichtliche Schritte einleiten, "wobei wir Sie schon jetzt auf sämtliche Kostenfolgen (höherer Streitwert!) aufmerksam machen.
    Die Einschüchterung wirkt.

Anders allerdings bei den Gewerkschaften. Denn dort tragen die Bemühungen zweier Männer Früchte, die schon länger auf ein Asbestverbot hinarbeiten, weil sie die Gesundheit der Arbeitnehmer im Auge haben: Gerd ALBRACHT bei der IG Chemie, Papier, Keramik und Reinold KONSTANTY beim DGB. Ihre obersten  Gewerkschaftsbosse haben inzwischen kapiert, dass "Asbestarbeitsplätze nicht mehr verteidigungswürdig" sind.  Vor allem dann nicht, wenn - wie eigene Schätzungen ergeben - etwa eine ganze Million Arbeitnehmer deutschlandweit mit Asbest in Kontakt gekommen sind. Aber auch deswegen, weil es längst Ersatzstoffe gibt.

Mit dieser Kehrtwendung haben die Asbestbetriebe einen großen Verbündeten verloren.

Das ist auch Stephan SCHMIDTHEINY klar, einem Spößling der schweizerischen SCHMIDTHEINY-Gruppe und Boß der deutschen und schweizerischen Eternit-Gruppe. Er hatte sich bereits mit seinem Amtsantritt 1976 auf die Suche nach Alternativen begeben, konnte sich aber im internationalen Eternit-Verbund nicht durchsetzen. Aber zumindest die eigenen Eternit-Unternehmen werden sich die nächsten Jahre flexibel zeigen - im Gegensatz zum Unternehmen Fulgurit, dass jetzt eine Gegenkampagne lostritt (siehe Bild).

Weil mit diesem Jahr der sogenannte Trennschleifer beim Einsatz mit Asbest verboten wird und das Thema Asbest jetzt in aller Munde ist, muss Eternit ersteinmal 1000 Beschäftigte entlassen - der Umsatzeinbruch bedingt durch die Kunden ist gewaltig.

Und das, obwohl Bundesarbeitsminister Herbert EHRENBERG dem Eternit Gesamtbetriebsrat noch geantwortet hatte: „Ich halte ein generelles Verbot von Asbest wegen der damit verbundenen Gefährdung von ArbPlätzen nicht für vertretbar. Ich werde mich in diesem Sinne für Ihr Anliegen einsetzen."

Das geschieht auch. Im Bundeskabinett unter Helmut SCHMIDT (SPD) wird abgestimmt. Die Referenten aller Ministerien sind gegen ein schnelles Verbot. Nur der UBA-Chef hält dagegen. Erfolglos.

Helmut SCHMIDT und seine Mannen können sich nur auf step-by-step-Verfahren einigen: Jedes Jahr ein bißchen weniger Asbest


1982 und danach

Ein etwas anderes Geschäftsmodell praktiziert das Automobilunternehmen "VW". Dort hat man schon lange asbestfreie Bremsbeläge im Einsatz. Allerdings werden die nur in die Exportautos eingebaut, die nach Schweden oder in die USA gegen, wie DER SPIEGEL zu berichten weiß. Die deutschen VW's werden nach wie vor mit asbesthaltigen Belägen ausgestattet. Das kommuniziert VW aber nicht. Nur die Bundespost bekommt ihre Autos asbestfrei - sie hat genügend Nachfragemacht.

Dass Unternehmen regelmäßig nur auf Druck reagieren, ist allgemein bekannt: nur was weh tut, funktioniert. Oder wenn die Politik konkrete Vorgaben macht. Das Bonner SPD-FDP-Kabinett schafft letzteres nicht.

Und so ist es die ganzen Jahre schon: Es ist die 'Öffentlichkeitsarbeit' der Journalisten und der Medien, die Klarheit schaffen und die Menschen allmählich zum Umdenken bringen.

In den USA

Hier geht der erste Asbestriese pleite: Johns-Manville. Der Firma geht aufgrund der vielen Schadensersatzklagen finanziell die Luft aus. Aber auch, weil immer mehr Amerikaner keinen Asbest mehr mögen. Ebenso sieht sich das vom Kabinett Helmut SCHMIDT als "volkswirtschaftlich förderungswürdige" eingestufte Unternehmen W.R. Grace & Co. ersten Klagen ausgesetzt. Weil Grace ein 'Gemischtwarenladen' ist und unerwartete Kosten über andere Geschäftsfelder ausgleicht, kann dieses Unternehmen bis zum Jahr 2001 durchhalten. Dann geht es ebenfalls in die Knie, wenn rund 270.000 (in Worten: zweihundertundsiebzigtausend) Klagen anhängig sein werden.

Eine Fernsehdokumentation in Großbritannien

Dass auf der Insel der politische Handlungsdruck zunimmt, hängt mit einem Fernsehfilm zusammen, der erneut die Gemüter aufwühlt: "Alice, a Fight for Life". 

Alice JEFFERSON, bei der man gerade ein Mesotheliomkrebs festgestellt hat und die die Öffentlichkeit alarmieren will, stirbt unmittelbar nach den Dreharbeiten. Sie hatte vor 35 Jahren gerade mal neun Monate in der Asbestfabrik Cape Asbestos in Hebden Bridge gearbeitet. Jetzt ist sie tot und hinterlässt zwei Kinder, 15 und 5 Jahre alt. 

Die britische Regierung, die vor kurzem den sog. Simpson-Bericht in Empfang genommen hat, der klare Maßnahmen vorschlägt, sieht sich zum Handeln gezwungen, handelt aber ebenfalls nur halbherzig. So wird der Import und die Verarbeitung der Asbestsorten wie Blauasbest und Braunasbest, die keine wesentliche Rolle spielen.

In Deutschland

kommt es auf der Bremer Vulkan-Werft zum Streit. Das Management will den Auftrag annehmen, das asbestversuchte Schiff "United States" zu sanieren. Der Betriebsratsvorsitzende, der um die Gefahren weiß, ruft zum Boykott auf und wird gekündigt. Das Arbeitsgericht hebt die Kündigung wieder auf, die IG Metall ist gespalten. Als der genervte Reeder den Auftrag nach Hamburg vergibt, kommt es dort ebenfalls zu Protesten, aber der Auftrag scheitert wegen des Preises. Das Schiff wird später in der Ukraine saniert. Im sowjetischen Bruderstaat kennt man weder Asbestprobleme noch eine freie Presse.  

1983 wird Hans-Joachim WOITOWITZ zum Vorsitzenden der Arbeitsgruppe "Staub" bei der MAK-Kommission ernannt. WOITOWITZ ist zum Asbestexperten aufgestiegen, hat gerade seine 89. Veröffentlichung publik gemacht. Und stellt gerade die "Allgemein anerkannten arbeitsmedizinisch-toxikologischen Erkenntnisse bezüglich Asbest" zusammen. WOITOWITZ hat dazu die gesamte weltweite Literatur ausgewertet.

Prof. WOITOWITZ vs. Prof. OTTO & Prof. VALENTIN

Hans-Joachim WOITOWITZ muss gerade (mal wieder) als Gutachter in einem berufsgenossenschaftlichen Asbest-Anerkennungsverfahren fungieren:

1978 war er mit der "Hessischen Dachdecker"-Studie zugange. Und hatte unter den 409 Dachdeckern auch den 38jährigen Philipp GREB untersucht, alle gesundheitlichen Daten des Vorgeschehens aufgenommen und eine Arbeitsplatzanamnese durchgeführt. Vier Jahre später, 1982 war Philipp GREB erneut in der Giessener Poliklinik aufgetaucht - wegen eines inzwischen weit fortgeschrittenen Lungenkrebses. WOITOWITZ, der sogleich eine Anzeige auf Verdacht einer Berufskrankheit bei der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) gestellt hatte, wozu Ärzte verpflichtet sind, sollte ihn nun im Auftrag der BG begutachten. Doch Philipp GREB stirbt.

Jetzt schickt die BG eine Probe aus dem toten Lungengewebe an Prof. OTTO. Der kann mit seinem Lichtmikroskop in einem 1 Kubizentimeter großen Lungenwürfel nur ganze 7 Asbestkörperchen finden. Ergo kann es keine Berufskrankheit, sondern nur eine "schicksalshafte Erkrankung" gewesen sein. Denn noch meint OTTO mindestens 100 bis 300 solcher Restkörperchen finden zu müssen, bevor er über eine berufsbedingte Kausalität entscheidet. So hat er das zuletzt veröffentlicht. 

Doch inzwischen beginnt sich auch in Deutschland die 20- bis 40jährige Latenzzeit des Wirtschaftswunders auszuwirken. Die Anzeigen steigen. Und die BGen wissen, das dies erst der Anfang ist. Mediziner, die eine "haftungsbegründende" und "haftungsausfüllende" Kausalität verneinen, sind gefragte Leute. So auch Pathologe OTTO, der inzwischen seit knapp zehn Jahren Chef des BG-eigenen Messotheliomregisters ist. Und nicht nur in Sachen Mesotheliom begutachten soll, sondern auch beim Lungenkrebs (Bronchialkarzinom). Denn diese Zahlen steigen schneller als die beiden anderen (Asbestose, Mesotheliom).

Weil WOITOWITZ nach OTTO's Gutachten ein sogenanntes Zusammenhangsgutachten machen soll, das eine Anerkennung als Berufskrankheit als "hinreichend wahrscheinlich" empfiehlt, übergibt die BG Bau das Zusammenhangsgutachten an den hessischen Landesgewerbearzt. Der reicht den Auftrag an einen anderen Gutachter weiter: Prof. VALENTIN in Erlangen

Damit beginnt ein offizielles Verfahren auf Anerkennung einer Berufskrankheit, dass sich 36 Jahre hinziehen wird. 11 Gutachter werden 30 Gutachten stellen. Prof. WOITOWITZ davon allein 10. Das Sozialgericht in Fulda wird im Dezember 2018 alles beenden, was die Tochter des längst toten Dachdeckers und seiner inzwischen ebenfalls gestorbenen Ehefrau aus Gerechtigkeitsgründen weiterführt: Auch das Sozialgericht wird eine Anerkennung verweigern. Diese Geschichte ist dokumentiert unter 36 Jahre: 11 Asbest-Gutachter, 30 Gutachten und kein Ende


immer noch 1983

Gesetzliche Unfallversicherung vs. unabhängige Medizinwissenschaft

In Bochum findet die 6. Internationale Pneumokoniose-Konferenz (Lungenstaub-Konferenz) in Bochum statt, veranstaltet von der Bergbau-BG und dem International Labour Office der UNO, ILO. Es geht um Lungenstaub generell, aber natürlich auch um Asbest. Und darum, dass die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung bzw. deren Berufsgenossenschaften und ganz konkret das Mesotheliom-Register in Sachen Asbestkörperchenzählung einen für viele Teilnehmer nicht nachvollziehbaren Weg beschreiteten. Nämlich

  • Asbest-Chrysotilreste im menschlichen Körper nur mit dem Lichtmikroskop finden zu wollen, das bei weitem keine so hohe Auflösung wie das Elektronenrastermikroskop leisten kann
  • den kausalen Zusammenhang zwischen Chrysotilasbest und Asbesterkrankung von der Menge der auffindbaren Asbestkörperchen abhängig zu machen,

die sich bekanntlich aufgrund ihrer mineralogischen Eigenschaften nach einer Weile der Länge nach aufspalten und durch das Auslaugen der Magnesiumanteile auflösen und dann kaum mehr nachweisbar sind - nachdem sie in den Zellen den Schaden angerichtet haben. Folge also von chemischen und physikalischen Veränderungen.

Dass dies so ist, bringen drei renommierte Wissenschaftler zum Ausdruck, darunter Prof. Dr. Karl MORGENROTH, Pathologe an der Ruhruniversität Bochum: "Fibrogenität ultramikroskopischer Asbest-Fasern". Er und seine Kollegen haben versucht, den Weg und die 'Verwandlung' der Fasern zu beobachten. Und konnten feststellen, dass man sie erstens nur noch elektronenmikroskopisch nachweisen kann und dass sie sich "in feinste Fibrillen aufgesplittert" hatten. Resüme: "Die Fibrogenität 'verschwundener' ultramikroskopischer Chrysotil-Asbestfasern konnte nachgewiesen werden." 

Prof. MORGENROTH, Pathologe an der Bochumer Ruhruniversität hat in Dortmund einen Kollegen. Nämlich am dort installierten Mesotheliomregister: Pathologe Prof. Dr. OTTO. OTTO ist für die Gesetzliche Unfallversicherung tätig. Und wird von ihr bezahlt. MORGENROTH forscht und lehrt (nur) an der Uni. Er erhält sein Gehalt vom Staat


1984

Noch gestalten sich die Problemfälle für die Berufsgenossenschaften überschaubar. Asbestosefälle als beruflich verursachte Krankheit sind bisher nur 951 anerkannt worden in den letzten Jahren. Beim Mesotheliom waren es 98. Absolut gesehen nicht übermäßig beunruhigend.

Aber die Zuwachsraten erschrecken: Ein Mesotheliom musste aufgrund der bisherigen Anerkennungspraxis  in 98 Fällen entschädigt werden. Jetzt sind im letzten Jahr 118 neue Fälle hinzugekommen. Beim Lungenkrebs (Bronchialkarzinom) fanden sich bisher 64 Vorgänge im Bestand. Neu letztes Jahr: 38 Anerkennungen, die nicht zu umgehen waren - eine Steigerung um runde 60 Prozent.

Immerhin konnte man den größten Teil der Verdachtsanzeigen abwehren. Mit Gutachtern, die bestätigt hatten, dass es keinerlei kausale Zusammenhänge geben würde. Aber wie sollte das weitergehen - ohne den Unternehmen immer höhere Umlagen für die gestiegenen Ausgaben in Rechnung zu stellen? 

Beim Mesotheliom lässt sich nicht viel machen bzw. verweigern, die Zusammenhänge sind zu offensichtlich. Dieses Krankheitsbild ist noch in keinem anderen Zusammenhang aufgetaucht. Aber Lungenkrebs bekommt man auch durchs Rauchen.

Zwar behauptet die Tabakindustrie seit Jahren glatt das Gegenteil, aber was spräche dagegen, die eigentlich doch bekannte Tatsache für eigene Zwecke zu nutzen? Und Prof. VALENTIN hat schon einmal wissenschaftliche Vorarbeit geleistet. In der gerade eben erschienenen dritten Auflage seines Standardwerks "Arbeitsunfall und Berufskrankheit: rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung und Gerichte", das er zusammen mit zwei Juristen der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) herausgibt, liest sich auf den Seiten 807/808 der Satz:

„Unter den heutigen Lebensbedingungen muß angenommen werden, daß in dieser Zeit eine Vielzahl von karzinogener Faktoren auf den Menschen einwirken. Das Risiko, an einem Spontankrebs bzw. Krebs aus nicht beruflicher Ursache zu erkranken, nimmt zu."

Krisensitzung des 'Systems' der Gesetzlichen Unfallversicherung

So veranstaltet denn auch der Hauptverband der Berufsgenossenschaften (heute: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V.) am 20. November in Bochum ein "Kolloquium zur Frage des asbestbedingten Bronchialkrebses ohne gleichzeitiges Vorliegen einer Asbestose". Denn neuerdings melden sich Kranke, die zwar keine Asbestose haben, aber Lungenkrebs, den sie auf Asbest zurückführen. Frage also: Kann es einen asbestverursachten Lungenkrebs geben ohne dass man (vorher) eine Asbestose hat?

Zwar müssen alle, die Asbestose plus Lungen- oder auch Kehlkopfkrebs haben, das Anerkennungsverfahren mit allen Gutachten überstehen, aber die Anerkennung von ausschließlich asbestverursachtem Lungenkrebs ohne Asbestose würde die unumgänglichen Anerkennungszahlen zwangsläufig erhöhen.

Die GUV weiß, dass vor den Gerichten, wenn ein Kranker gegen die Verweigerung einer Anerkennung klagt, keine abweichenden Meinungen von Gutachtern gelten. Es reicht auch nicht aus, "daß eine Einzelmeinung oder Mindermeinung als 'neue Lehrmeinung' neben die herrschende tritt. Vielmehr müßten sich die neuen Erkenntnisse zu einer herrschenden Lehrmeinung verdichten", wie es im Protokoll auf S. 2 heißt. Also kommt es darauf an, die "herrschende Meinung" zu prägen, und dies rechtzeitig, und alles andere dann als "Mindermeinung" oder "neue Lehrmeinung" abzuqualifizieren.

Und wie es oft im Leben ist: Wer als erster Tatsachen und/oder den Trend setzt, ist im Vorteil. 

Deshalb sind dies die wichtigsten Fragen, über die man sich verständigen will: 

Prof. OTTO ist der wichtigste Mann in der Runde. Denn er hat die meisten Informationen, die nicht (mehr) jeder überprüfen kann. Die meisten pathologischen Untersuchungsergebnisse befinden sich a) zentral gebündelt und b) monopolisiert beim Deutschen Mesotheliomregister. 

Fake Science?

Und so interpretiert und kommuniziert OTTO seine Fakten:

Wenn man bei einem Asbestose-Toten die Lunge sezieren kann, so finden sich über 10.000 Asbestkörperchen in einem Kubikzentimeter Lungengewebe. Kann man bei einem lebenden Kranken nur mit Röntgenstrahlen beikommen, so seien bei der "klinisch-röntgenologisch nicht erkennbaren Minimalasbestose mehr als 1.000 Asbestkörperchen in 1 cm3 Lungengewebe enthalten", hält das Protokoll auf S. 4 für die Nachwelt fest. 

Damit hat OTTO den neuen Meßmaßstab gesetzt: Eine Minimalasbestose setzt - nach seiner neuen Meinung - (mindestens) 1.000 auffindbare Asbestkörperchen in 1 Kubikzentimeter Lungengewebe im Röntgenbild voraus.

Und als er gefragt wird, "ob mit Veränderungen der Asbestfasern im Lungengewebe zu rechnen sei", bejaht OTTO diese Frage. Und bestätigt damit - in dieser kleinen Runde - was man schon lange weiß. Aber, so meint OTTO, "Bei Verlust von Eisen und Magnesium bleibe aber die Faserstruktur prinzipiell erhalten."

Wissenschaftliche Belege für die OTTO'sche "Minimalasbestosegrenze 1000" oder für die These, dass die Faserstruktur "pinzipiell" erhalten bleibt, wie OTTO einschränkend sagt, hat er nicht. Und legt die auch nicht vor. Er kann es auch nicht. Es gibt keine.

WOITOWITZ hat andere Erkenntnisse. Aber WOITOWITZ ist zu diesem Gespräch nicht eingeladen. Dafür Prof. VALENTIN.

So nimmt es nicht Wunder, dass das System der GUV die OTTO'schen Thesen dankend aufgreift. Und ab sofort praktiziert


1985 und danach

Die 'wissenschaftliche' Auseinandersetzung beginnt

Prof. Hans-Joachim WOITOWITZ und sein Team halten mit weiteren Veröffentlichungen dagegen. Z.B. mit der Frage: "Asbestkörperchen als Beweismittel einer beruflichen Gefährdung durch Weißasbest (Chrysotil)?" im "Zentralblatt für Arbeitsmedizin". Oder, um die Diskussion der neuen Praxis durch das System der GUV auch unter den Pathologen in Gang zu bringen, mit der Veröffentlichung "Asbest und sonstige Mineralfasern in der menschlichen Lunge" in deren Fachzeitschrift "Der Pathologe".

OTTO kommuniziert derweil seine Sicht (und Praxis im Deutschen Mesotheliomregiser) ganz anders in seiner "Morphologie und Röntgenologie der Asbestose". Es herrscht jetzt Streit. Wissenschaftlicher Streit. 

Und wissenschaftlicher Streit heißt für Nichtwissenschaftler Unsicherheit. Beziehungsweise Zweifel. "Doubts must remain", hatte Hill & Knowlton bereits vor über 30 Jahren empfohlen  


Wissenschaft und Unabhängigkeit

Nun gibt es auch in der Wissenschaft öfters mal unterschiedliche Sichtweisen oder ganze "Schulen" und natürlich wissenschaftliche Diskussionen, die so lange anhalten, wie man über bestimmte Sachverhalte oder Zusammenhänge weder alles noch alles genau weiß. Und daher basieren Unterschiede denn auch eher auf unterschiedlichen Bewertungen oder Interpretationen oder Prognosen von noch nicht ganz eindeutig geklärten Fakten. Selten auf der unmittelbaren Basis von Fakten. Es sei denn, es wird getrickst und/oder manipuliert, egal aus welchen Motiven.

So gesehen ließe sich der aktuelle Streit als völlig überflüssig deklarieren. Denn unbestritten, und dies international, verhalten sich die in die menschliche Lunge gelangten Stäube bei Quarz (kristallin und felsenhart), Blau- oder Braunasbest (harte geschlossene Fasern) völlig anders als die feinen, leichten, flexiblen und hohlen Fasern des Weißasbest. Unter anderem wegen der unterschiedlichen chemischen Zusammensetzung.

Quarz und alles, was fest und beständig ist, kann man in der Lunge immer nachweisen, veraschen und hinterher dann wiegen. Bei den weißen Chrysotilasbestfasern geht das nach einer kurzen 'Halbwertzeit' einfach nicht mehr. So weit eigentlich alles Fakt.

Aber das, was wir heute als "alternative Fakten" bezeichnen, gibt es bereits zu dieser Zeit. Und was sich flächendeckend durchsetzen kann, hängt davon ab, wer am längeren Hebel sitzt, wer den größeren Einfluss hat. Beziehungsweise die Macht, seine Positionen zu praktizieren. 

Darüber verfügt das System der Gesetzlichen Unfallversicherung bereits zu dieser Zeit. So, wie die Verhältnisse 2018 liegen werden, so schon in den 80er Jahren: Das System der GUV hat seine Einflusslinien in alle entscheidenden wissenschaftlichen und politisch relevanten Gremien hinein ausgebaut, wie das für das Jahr 2018 rekonstruiert und dokumentiert ist unter www.ansTageslicht.de/DGUV

Dieses System, das heute unter dem Label "Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V.", kurz DGUV, firmiert, dominiert bereits 1986, als es noch "Hauptverband der Berufsgenossenschaften (HVBG)" heißt, praktisch alles. Und macht sich nach und nach auch die Branche der Arbeitsmedizin gefügig: durch Forschungsaufträge und die Vergabe von gut bezahlten Gutachten. Über ihre einzelnen Berufsgenossenschaften steuert sie, ob im Einzelfall eine - an sich gesetzlich anerkannte - Berufskrankheit auch wirklich vorliegt. Zum Beispiel mit Hilfe ihres eigenen Deutschen Mesotheliomregisters. Eine monopolartige Situation. 

Allerdings in der zweiten Hälfte der 80er Jahre noch nicht ganz so stringent wie heutzutage. Und noch nicht so aus dem politischen Fokus entrückt. Denn die ersten Politiker sparen nicht mit Kritik. Im Gegensatz zur heutigen Situation, bei der dieses System der politischen Kontrolle längst entglitten ist.

So kommt der gerade in Hessen amtierende Sozialminister Armin CLAUSS (SPD) auf einem Symposium über Asbestschäden zu dem Schluss, dass "der Arbeitsschutz in der Bundesrepublik in diesem Bereich bis weit in die 60er Jahre nahezu völlig versagt hat. Diese Kritik richtet sich an die Betriebe, Berufsgenossenschaften und die staatliche Gewerbeaufsicht gleichermaßen."


zweite Hälfte der 80er Jahre

"Totengräber der Arbeitsmedizin"

Das sieht das System der GUV, deren Vertreter sowie die diesem System nahestehenden Arbeitsmediziner natürlich anders. Im "Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten", einem entscheidungsvorbereitenden Gremium beim Bundesarbeitsminister, der inzwischen Norbert BLÜM (CDU) heißt, und dessen Vorsitzender seit 1973 Prof. VALENTIN ist, geraten er und Prof. WOITOWITZ, der inzwischen in dieses Gremium gerufen wurde, aneinander.

VALENTIN, der nach und nach mit mehreren Orden und Auszeichnungen übersät wird (Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, Bayerischer Verdienstorden, Bayerische Staatsmedaille für soziale Verdienste, Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, Ernst-von-Bergmann-Plakette der deutschen Bundesärztekammer) ist immer noch - unbekannt in der Öffentlichkeit und Politik - Vorsitzender des "Unabhängigen Wissenschaftlichen Beirats" der Asbestindustrie.

Weil WOITOWITZ mehr die Interessen der arbeitenden Menschen und insbesondere jener der Berufskranken vertritt, was den Interessen des herrschenden Mainstream zuwiderläuft, bezeichnet VALENTIN seinen ehemaligen Schüler, der aus seiner Sicht völlig außer Kontrolle geraten ist, auf einer Sitzung des "Ärztlichen Sachverständigenbeirats 'Berufskrankheiten'" am 16. Oktober 1986 als "Totengräber der Arbeitsmedizin" - vor allen anderen Mitgliedern dieses Gremiums.

So sind die Fronten aktuell geklärt.

Dass zwei Jahre später OTTO das Mesotheliomregister an seinen Nachfolger Prof. MÜLLER übergibt, ändert nichts, und auch die vierte Auflage von Helmut VALENTIN's Standardwerk der Arbeitsmedizin, "Arbeitsunfall und Berufskrankheit", das im Untertitel den Zweck verdeutlicht, nämlich "Rechtliche und Medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung und Gerichte", stützt die nach wie vor "herrschende Meinung" des arbeitsmedizinischen Mainstream. 

Das Bundesgesundheitsamt - von der Industrie gekauft?

Da ist es nicht allzu überraschend, dass 1988 bekannt wird, dass das "Bundesgesundheitsamt, BGA", eine Vorläufereinrichtung des heutigen "Bundesinstituts für Risikoforschung, BfR", sich teilweise von der Asbestindustrie über einen Förderverein finanzieren lässt.

Das BGA versucht beispielsweise den Menschen schon länger einzureden, dass etwa Holzschutzmittel, die auf der Basis von PCP (Pentachlorphenol) entstehen, völlig unbedenklich seien. Und dass damit in Zusammenhang gebrachte Gesundheitsprobleme einen ganz anderen Grund haben müssten: Folgen einer "Midlife Chrisis" (mehr dazu unter www.ansTageslicht.de/Holzschutzmittel-Chronologie , Eintrag vor "1986"). Und dass Asbest so (un)gefährlich sei wie Passivrauchen von Zigaretten.

Die Vorwürfe, die das TV-Format "Kontraste" (Sender Freies Berlin, heute: Radio Berlin Brandenburg) gegen das BGA am 7. Juni und 19. Juli 1988 erhebt, wiegen so schwer, dass sich der Deutsche Bundestag zu einer Reaktion entschließen muss. Er bittet den Rechnungshof, das zu untersuchen. Und der kommt zum Schluss, dass er alles garnicht überprüfen kann: Die Verwendung der Spendeneinnahmen des mit dem Amt unmittelbar verbundenen "Vereins für Wasser-, Boden- und Lufthygiene e.V." kann "mangels Prüfungsbericht beim Verein nicht nachvollzogen werden." Mit anderen Worten: Die Vorwürfe treffen zu. Und weiter bemängeln die staatlichen Prüfer, dass die Angaben, die seitens der Kritisierten dem Ministerium gegenüber gemacht wurden, "in einzelnen wesentlichen Punkten nicht zutreffen oder unvollständig und damit irreführend waren." Mit anderen Worten: Es wurde gelogen, und zwar volle Kanne.  


90er Jahre

Im Jahr 1990 wird der MAK-Grenzwert, der 1976 zum ersten Male auf 2 Millionen Asbestfasern pro Kubikmeter Atemluft festgelegt wurde, jetzt auf 250.000 abgesenkt. In fünf Jahren, wenn Asbest in Deutschland ganz verboten wird, dürfen das nur noch 15.000 Fasern sein. Etwa dann, wenn Häuser oder anderes von Asbest 'befreit', sprich saniert werden sollen. Doch noch ist es nicht soweit. Die Asbestindustrie, der die Gesundheit ihrer Arbeitnehmer ziemlich gleichgültig ist, hat sich bisher, egal wer in Bonn die Regierungsmehrheit stellte, also egal, ob es die "Christen" waren oder jene, die sich das "Soziale" auf die Fahnen schreiben, immer gut behaupten können. Nur dass sie sich seit 1982 auf die Suche nach Ersatzstoffen machen musste.

In anderen Ländern war man entschlossener. In den USA wurde Spritzasbest bereits 1973 verboten, in Deutschland erst sechs Jahre später und zeitgleich in Schweden erste Asbestprodukte (wie beispielsweise in Autobremsen). Island, Norwegen, Dänemark und El Salvador haben bereits über Asbest den vollständigen Bann verhängt.

Das Jahr 1991 markiert einen weiteren Einschnitt. Im Vorsitz des "Ärztlichen Sachverständigenbeirats 'Berufskrankheiten'", also jenem Gremium, dass für die Anerkennung neuer Berufskrankheiten und deren Regelungen zuständig ist, konkret die wissenschaftlichen Vorlagen macht und Empfehlungen für den Bundesarbeitsminister ausspricht, kommt es zu einem Wechsel. Statt VALENTIN jetzt WOITOWITZ. 

Natürlich war der Widerstand seitens des "Systems" dagegen groß und das Missfallen noch größer. Doch diesesmal kann sich der Sachverstand durchsetzen.

WOITOWITZ fackelt nicht lange. 

Das Modell "25 Faserjahre"

SELIKOFF in New York und E. Cuyler HAMMOND, ein weltbekannter Statistiker und Epidemiologe in den USA hatten schon länger und mehrfach festgestellt, dass sich das Lungenkrebsrisiko bei Rauchern, wenn sie in der Asbestbranche arbeiten, signifikant erhöht. Aber auch, dass das Risiko eines Lungenkrebses bei nichtrauchenden Asbestbeschäftigten um ein Mehrfaches höher liegt als in der Gesamtbevölkerung, egal ob rauchend oder nicht. Ergo kann Lungenkrebs (Bronchialkarzinom) auch durch Asbeststaub entstehen, ohne dass - wie es bisher OTTO und VALENTIN als "herrschende Meinung" pedigten - gleichzeitig eine Asbestose vorliegen muss. 

Um das alles im Detail zu ergründen, waren WOITOWITZ und einer seiner engsten Mitarbeiter zu SELIKOFF auf eigene Kosten in die USA geflogen. Auch wissenschaftlich arbeitende Mediziner veröffentlichen nicht alles, schon deswegen, weil nicht immer alles von Fachzeitschriften akzeptiert wird, und so erweisen sich kritische Diskussionen mit kooperationsbereiten und ergebnisoffenen Kollegen in der Regel als hilfreich. In New York treffen sie auch noch einen zufällig anwesenden Pathologen-Kollegen aus Japan an und so ist der Meinungsaustausch ausgeprochen fruchtbar. 

Zurück in Deutschland gelingt es WOITOWITZ, auch die sich vornehm zurückhaltenden Kollegen im "Ärztlichen Sachverständigenbeirat 'Berufskrankheiten'" von einem Modell zu überzeugen, das sich "25 Faserjahre" nennt. Wer diesen Wert erreicht und ein Bronchialkarzinom bekommt, soll auch ohne Asbestose den Lungenkrebs als berufsbedingt anerkannt bekommen.

1 Faserjahr berechnet sich aus Asbestfaserstaub-Dosis multipliziert mit der Dauer der Belastung. Dabei wird eine Einheit Dosis mit einer Staubkonzentration von 1 Million Fasern pro Kubikmeter Atemluft gleichgesetzt (10 hoch 6) und ein "Faserjahr" mit 240 Arbeitstagen à 8 Stunden Arbeitszeit angesetzt. 

Was sich innerhalb eines solchen "Faserjahres" an Fasermenge in der Lunge, ins Rippen- oder Zwerchfell oder in den Kehlkopf dringt, und welche Menge sich in 25 Jahren anhäuft, auch wenn es nach der kurzen Halbwertzeit bei Chrysotil nicht mehr in dieser Form auffindbar ist, zeigt die Abbildung von Prof. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ, aufgenommen am IPAS der Justus-Liebig Universität Giessen: 

Die genaue Begründung und die exakte Formelberechnung der "25-Faserjahre" lässt sich dem Merkblatt zu dieser Berufskrankheit mit der Nr. BK 4104 entnehmen.

Was sich für die nächsten Jahre und Jahrzehnte abzeichnen wird, erahnen die Berufsgenossenschaften: Jetzt beginnen die Zahlen zu steigen. Gemeint: die Anzahl der Menschen, die ihre Gesundheit für ihren Arbeitgeber am Asbest-Arbeitsplatz geopfert haben, nehmen zu. Der Trend für den Asbestkrebs (BK 4104) und das Mesotheliom (BK 4105) sieht so aus, wie das Jahre später Dr. Martin BUTZ von der DGUV e.V. in der DGUV-Dokumentation "Beruflich verursachte Krebserkrankungen" für die Jahre 1978 bis 2010 zusammenstellen wird:  

Die Veröffentlichung dieser Dokumentation in der 10. Auflage aus dem Jahr 2012, in der die Zahlen von 1978 bis 2010 dargestellt sind, wird von der DGUV 2019 nicht mehr online angeboten. Dafür die 8. Auflage aus dem Jahr 2005 für Zahlen zwischen 1978 und 2003 - warum auch immer.

Dr. Martin BUTZ, Mitarbeiter bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV e.V.), macht auf Seite 14 jedenfalls deutlich, dass der krasse Anstieg der Zahlen im Wesentlichen "durch die Einführung des Fasermodells" geprägt ist. Mit anderen Worten: Hätte es das nicht gegeben, wären die Zahlen niedriger.

Was man dabei beachten muss: Die hier als Grafik der DGUV wiedergegebenen Zahlen beziehen sich ausschließlich auf jene Fälle, in denen die gesundheitlichen Asbestschäden von den Berufsgenossenschaften auch anerkannt wurden. Jene, denen diese Anerkennung versagt wurde, werden nicht in dieser Grafik erfasst. Und das ist die Mehrheit aller Fälle. 

Zwischen 1978 und 2010 werden nach dieser neueren Statistik der DGUV insgesamt 30.271 vornehmlich männliche Arbeitnehmer an Asbest-Krebs erkranken - 75% aller beruflich verursachten (und als solche anerkannten) Krebsfälle. Als besonders gefährdet werden die Berufszweige Schlosser und Mechaniker, Bauberufe sowie Metallerzeuger und -bearbeiter genannt


Familie Janssen

Was sich hinter solchen statistischen Zahlen verbirgt, macht das Schicksal einer vierköpfigen Familie aus Mülheim an der Ruhr deutlich, die heute nur noch aus der Tochter Margit besteht. Vater Heinrich hatte 10 Jahre lang in einem in einem Isolierbetrieb für Rohrleitungen und Turbinen gearbeitet, der u.a. auf Spritzasbestdämmungen spezialisiert war, aber auch eine "Matrazenabteilung" hatte: Isolationsprodukte für Rohrsysteme. Solche Isolationsmatrazen wurden z.B. in Schiffen verbaut. Vater Heinrich in der "Isoliermatrazen"-Abteilung als Zuschneider gewirkt. Und war an einer schweren Asbestose erkrankt.

1973 war er tot - mit 50 Jahren. Da hatte er schon seit ebenfalls 10 Jahren die Firma gewechselt. Seine Frau Gretel erlag 1986 im Alter von 63 Jahren einem Brustfelltumor (Mesotheliom). Sie hatte ihm, als er noch lebte, jeden Tag nach der Arbeit zuhause den Asbeststaub aus seiner Arbeitskleidung ausgebürstet. Weil der Sohn Hans-Jürgen seinem Vater regelmäßig das Mittagessen im 'Henkelmann' in den Betrieb gebracht hatte, stirbt er im Jahr 1992 als Dritter: ebenfalls an einem Mesotheliom im Alter von 46 Jahren. Bisher überlebt hat nur die Tochter.

Hans-Joachim WOITOWITZ, der auch diesen "Fall" medizinisch betreute, hat diese Tragödie, die kein Einzelfall ist, grafisch dargestellt:

Als die Mutter im Sterben lag, beantragten die beiden Kinder eine Witwenrente und ein Pflegegeld bei der Berufsgenossenschaft. Die lehnte ab. Das könnte schon mal runde 350.000 Euro kosten können, wie die Kanzlei BATTENSTEIN & BATTENSTEIN aus Düsseldorf vorrechnet, eine Kanzlei, die auf Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten spezialisiert ist und Betroffene vor allen Sozialgerichten Deutschlands vertritt.

Die Klage vor dem zuständigen Sozialgericht geht verloren. Bevor die nächste Instanz entscheidet, stirbt der Sohn bzw. der Bruder von Margit. Aber das Landessozialgericht NRW erkennt den Zusammenhang 1992 an und spricht der Mutter nachträglich Witwenrente und Pflegegeld zu. 

Damit ist die "Berufsgenossenschaft Maschinenbau und Metall" nicht einverstanden und zieht vors Bundessozialgericht.

Die höchsten Richter werden der Berufsgenossenschaft Recht geben (Az: 2 RU 53/92): Die Mutter habe die Arbeitskleidung ihres Mannes "als Ehefrau" gereinigt. Und habe "nicht im Auftrag des Unternehmens" gehandelt, sondern das Reinigen sei "allein auf den Haushalt gerichtet": ein "objektiver Nutzen" für den Betrieb sei nicht nachzuweisen 


Asbestverbot 1993

Nachdem nun wirklich jeder weiß, welche Gefahren mit Asbest verbunden sind, konnte sich die Politik ja doch noch dazu durchringen, ein Asbestverbot auf den Weg zu bringen.

Dies tritt 1993 allerdings in Raten in Kraft, aufgrund mehrerer Ausnahmeregelungen. Die deutsche Wirtschaft und insbesondere die deutsche Ingenieurskunst sehen sich noch nicht im Stande, für alle Produktionsprozesse Alternativen ausfindig zu machen. Ähnlich wie das beispielsweise zehn Jahre später bei VW der Fall sein wird, wenn die diplomierten und hochbezahlten Techniker bei der Entwicklung einer sauberen Dieseltechnik versagen und ihre Kreativität aufs Schummeln konzentrieren werden.

Andere Länder wie z.B. Island, Dänemark, Schweiz, Österreich oder Finnland sind dem deutschen Bann voraus.

Das generelle Asbestverbot wird für Deutschland ab 1993 ausgesprochen.

Andere Länder werden folgen: Japan 1995, Polen 1997, Belgien und Saudi-Arabien 1998, Großbritannien 1999, Brasilien 2000, Chile und Argentinien 2001.

EU-weit wird ein Verbot erst ab 2005 wirken; die Asbestindustrie leistet aus ihrer Sicht eine effektive Lobbyarbeit in Brüssel.   

Mit dem Asbestverbot sind die Folgeprobleme nicht beseitigt. Die Latenzzeit lauert.

Und so werden noch Tausende von Menschen mit den Problemen konfrontiert, gesundheitlich, finanziell und sozial, die man viel früher hätte verhindern können, wenn dies der politische Wille gewesen wäre. Aber daran hatten mehrere kein Interesse. Den Gewerkschaften waren auf kurze Sicht gesehen die Arbeitsplätze wichtiger als das damit verbundene gesundheitliche Elend einer Minderheit. Die Unternehmen, denen Verantwortung weitgehend abging und die nicht gezwungen wurden, rechtzeitig über Alternativen nachzudenken, sind auf Umsatz und Gewinn fixiert. Das System der (Deutschen) Gesetzlichen Unfallversicherung ist auf Kostenminimierung für ihre Mitgliedsfirmen aus - die arbeitenden Menschen spielen eine untergeordnete Rolle. Und die Politik, soweit sie von den sogenannten staatstragenden Parteien gemanagt wurde, ließ sich lieber von der Wirtschaft vorgeben, was zu tun und was zu lassen sei.  

Wie die Auseinandersetzung über Asbest innerhalb der medizinischen Wissenschaft, aber auch vor Gericht weitergeht, ist hier dokumentiert: Warum um Asbest immer noch geschachert wird: der Showdown bis heute - Asbestchronologie letzter Teil


(JL)