Harnblasenkrebs vor Gericht: Gutachter Prof. Dr. med. Hans DREXLER & Co

"Ethik in der Arbeitsmedizin"

Fragen der Ethik liegen seit längerer Zeit im Trend, egal ob sie sich in Begriffen wie "Unternehmensphilosophie", "Compliance", "Unternehmensverantwortung" oder "Corporate Social Responsibility" kleiden, und so sah sich auch die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin, kurz DGAUM, bemüßigt, eine "Orientierungshilfe in ethischen Spannungsfeldern" zu vermitteln: auf ihrer Jahrestagung 2008 mit Ethik als "Schwerpunktthema". Der dazugehörige Sammelband erschien ein Jahr später: "Ethik in der Arbeitsmedizin."

Arbeitsmedizin versus Humanmedizin

"Arbeitsmedizin", das muss man wissen, ist etwas völlig anderes als das, was man üblicherweise unter "Medizin" versteht. Wenn jemand gesundheitliche Probleme hat oder krank wird, hilft die "Medizin", konkret: Ärzte, Notärzte oder Krankenhäuser, und zwar sofort. Und ohne große Fragen zu stellen, wieso man krank geworden ist. So ist es im "Eid des Hippokrates" kodizifiert, und jeder normale Mediziner hält sich daran, denn es ist die ureigenste Mission eines (normalen) Mediziners. Man spricht deshalb auch von "Humanmedizin": Der Mensch steht im Mittelpunkt, dem geholfen werden muss.

Ganz anders die Arbeitsmedizin. Was im WIKIPEDIA dazu steht, dass es da vor allem um "Prävention und Diagnostik arbeits- oder umweltbedingter Gesundheitsschäden und Berufskrankheiten" geht, sollte man ganz schnell vergessen. Der Arbeitsalltag von Arbeitsmedizinern an Hochschulen und Universitätskliniken beispielsweise sieht anders aus: Arbeitsmediziner geben Menschen, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit oder an ihrem Arbeitsplatz krank geworden sind, auf, a) ob und b) wie sie es nachweisen können, dass sie wegen ihres Berufs "krank" geworden sind und deswegen möglicherweise nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten können. Denn für einen eventuellen Schadensersatz sind die Berufsgenossenschaften zuständig, in der die kollektiven Haftpflichtversicherungen aller Unternehmen bzw. Arbeitgeber gebündelt sind.

Konkret: Für diesen Zweck sind die Arbeitsmediziner gehalten,

  1. die "haftungsbegründende" und
  2. zusätzlich die "haftungsausfüllende Kausalität"

zwischen dem auslösenden Schadensereignis, z.B. einer Asbest-oder Benzol-Exposition, und den gesundheitlichen Schädigungen haargenau zu begründen.

Umgekehrt muss jemand, der berufskrank und/oder arbeitsunfähig geworden ist, für den Arbeitsmediziner genau diese Nachweise liefern. Und das ist in der Regel sehr, sehr schwierig, denn oft liegt die Zeit, in der man einer gefährlichen Belastung ausgesetzt war, die sog. Expositionszeit, länger zurück. Und oft machen sich die gesundheitlichen Schädigungen erst später bemerkbar: nach einer sogenenannten Latenzzeit. Die kann 10, 20, 30 oder 40 Jahre betragen und manchmal auch länger.

Der Arbeitsmediziner wird dann nicht auf Verlangen eines Erkrankten tätig, sondern entweder im Auftrag einer Berufsgenossenschaft, sprich des Arbeitsgebers, oder eines Gerichts, wenn der Berufskranke mit der ablehnenden Entscheidung einer Berusfgenossenschaft nicht einverstanden ist.

Die Chance, einen beruflich verursachten Gesundheits- und damit auch den damit zusammenhängenden finanziellen Schaden als Ausgleich für eine Arbeitsunfähigkeit von einer Berufsgenossenschaft (BG) anerkannt zu bekommen, ist in Deutschland gering. Im Jahr 2019 lag diese Quote -  über alle derlei "Berufskrankheiten" (BK) gerechnet - bei 24%. Das ist weniger als ein Viertel aller Anträge. In der Schweiz etwa ist es umgekehrt: Dort werden 75% aller "Verdachtsanzeigen" auf eine BK bestätigt und nur ein Viertel wird als nicht begründbar entschieden. Aber die Schweiz hat hinsichtlich Arbeitsleben, Arbeitsqualität und der Verantwortung der Arbeitgeber für ihre Arbeitnehmer andere ethische Standards.

Und vor allem: In der Schweiz liegt diese Gesetzliche Versicherungspflicht nicht in den Händen der Industrie. Im Gegensatz zu Deutschland.

Wer übrigens in Deutschland vor Gericht zieht, um einen ablehnenden BG-Bescheid anzufechten, hat dort eine Erfolgschance von 10%. In 90 Prozent aller Fälle entscheiden die Sozialrichter zugunsten der BGen bzw. der Arbeitgeber. Die Zahl "90%" hat die Bundesregierung im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage genannt.

Die Richter in den Sozialgerichten stützen sich dabei auf die Expertise von Gutachtern. Konkret: auf die medizinischen Untersuchungsergebnisse von Arbeitsmedizinern. Denn ein Arbeitsmediziner bzw. Gutachter vor einem Sozialgericht fungiert als "Gehilfe des Richters", wie es in einem der klassischen Lehrbücher "Arbeitsmedizin", 4. Auflage aus dem Jahr 2014 und dort auf S. 445, unmissverständlich heißt.

Soweit zur "Ethik in der [deutschen] Arbeitsmedizin".

In dem Text Humanmedizin versus Arbeitsmedizin sind die Unterschiede detaillierter dargestellt.

"... erhalte ich nur noch selten ein Harnblasen-Carcinom zur Begutachtung."

Diese Information (siehe Überschrift) teilte - vom fachlichen Ranking her gesehen - einer der wichtigsten Arbeitsmediziner Deutschlands, Prof. Dr. med. Hans DREXLER, Chef der Arbeitsmedizin an der Universitätsklinik Erlangen, den Herausgebern des Buches "Ethik in der Arbeitsmedizin" mit, dort im Kapitelabschnitt "Ethische Aspekte bei der Auswahl des medizinischen Sachverständigen" auf Seite 110 zu lesen. Der genaue Wortlaut aus dem Jahr 2008:

"Ich war früher regelmäßig für die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie im Rahmen der Begutachtung von Versicherten mit Verdacht auf Vorliegen einer Berufskrankheit 1301 (Harnwegserkrankungen durch aromatische Amine) tätig. Nachdem ich mich kritisch mit dem Arylamin-Richtwert von Herrn Kollegen Brüning auseinandergesetzt habe, erhalte ich nur noch selten ein Harnblasen-Ca zur Begutachtung."

  • Prof. DREXLER ist seit 2000 Direktor des "Instituts und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin", kurz IPASUM in Erlangen. Die Uni dort gilt als die Geburtsstätte der bundesdeutschen Arbeitsmedizin (Mitte der 60er Jahre) und jener, der dieser Branche ihr Gesicht gab und ihr seine eigene Philosophie aufdrückte, war der Begründer Prof. VALENTIN. Erlangen und alle Arbeitsmediziner, die von dort stammen, gelten als originäre Vertreter der VALENTIN-Schule. Er stand von Anfang an "auf der Seite der Arbeitgeber, und er arbeitete im Interesse der Industrie", wie die inzwischen emeritierte Arbeitsmedizinerin Prof. Dr. med. Gesine ELSNER aus Frankfurt in ihrem 'Portrait' über Prof. VALENTIN schreibt: "Konstitution und Krankheit. Der Arbeitsmediziner Helmut Valentin und die Erlanger Schule."
    Wir haben die Erlanger Schule ausführlich beschrieben unter: Wie man die herrschende Meinung organisiert.

  • Prof. Dr med. Thomas BRÜNING verkörpert den anderen Nukleus der deutschen Arbeitsmedizin. Er leitet seit 2001 das "IPA - Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung", kurz DGUV, in Bochum. Er ist als 'Chef' Angestellter der Dachorganisation aller Berufsgenossenschaften. Gleichzeitig hat er eine Professur für Arbeitsmedizin an der Ruhr-Universität Bochum inne. In dieser Funktion sollte er - eigentlich - als unabhängiger Wissenschaftler und Arbeitsmediziner agieren. Aber wie man mit einem solchen Interessenskonflikt umgeht, das bleibt wohl sein Geheimnis.
    Wenn es dem Chef des IPA-Instituts zu gelingen scheint, dafür zu sorgen, dass eine Art von Konkurrent "nur noch selten" einen (lukrativen) Gutachtenauftrag erhält, und zwar nicht vom DGUV-eigenen Forschungsinstitut, sondern von einer der 9 Berufsgenossenschaften, dann zeigt es die Möglichkeiten auf, über die eine straffe Interessensorganisation wie die Gesetzliche Unfallversicherung (GUV), bestehend aus den einzelnen BGen und ihrem zentralen Dach (DGUV) verfügt. Und es signalisiert gleichzeitig, was jemand tun muss, um (wieder) mehr Gutachtenaufträge zu bekommen.

Den Hintergrund zu dieser fachlichen Auseinandersetzung erklären wir hinter diesem Link: DREXLER versus BRÜNING.

Prof. DREXLER und Prof. BRÜNING sind eigentlich nur indirekt Konkurrenten, denn die bundesdeutsche Arbeitsmedizin zieht an einem Strang. Denn hier kennt jeder jeden, jeder ist mit einem anderen in einem oder mehreren Gremien, Ausschüssen, Arbeitskreisen und sonstigen Institutionen vertreten, im selben Berufsverband der DGAUM ohnehin, und um bei den vielen - potenziell strittigen Fragen - eine einheitliche Meinung zu garantieren, die man dann vor Gericht auch durchsetzen kann, hat es sich eingebürgert, dass jeder mit jedem möglichst viele arbeitsmedizinische Publikationen veröffentlicht. Das ist eines der Prinzipien, eine (einheitliche) "herrschende Meinung" zu organisieren.

Die "herrschende Meinung" in der bundesdeutschen Arbeitsmedizin funktioniert. Und so finden sich in den einschlägigen (arbeits)medizinischen Datenbanken Veröffentlichungen, deren Titel beide Namen, DREXLER und BRÜNING, zieren. Wie eng verflochten die deutsche Arbeitsmedizin ist, haben wir in anderem Zusammenhang u.a. auch grafisch rekonstruiert. Die schwarzen Pfeile zeigen die Funktionen der hier genannten Arbeitsmediziner in diversen Gremien an, die roten repräsentieren die Vertretungsfunktionen der Gesetzlichen Unfallversicherung dort:

Im Schaubild bzw. den anderen verlinkten Grafiken lässt sich schnell rekonstruieren, in welchen Ausschüssen sich beide arbeitsmedizinischen Potentaten, Prof. DREXLER als zweiter Nachfolger von VALENTIN [†2008] sowie Chef des Erlanger IPASUM, und Prof. BRÜNING als Chef des DGUV-eigenen IPA-Instituts und gleichzeitigem Hochschullehrer, regelmäßig über den Weg laufen. 

Zur Klarstellung:
Mit grün ist der Bereich der Arbeitsmedizin markiert, grau die Institution der MAK-Kommission, die über Grenzwerte entscheidet, ganz oben in ocker die diversen Gremien des Bundesministeriums für Arbeits und Soziales (BMAS).
Links in gelb, organge und rot das System der Gesetzlichen Unfallversicherung, bestehend aus einigen Firmennamen (hier beispielhaft Luftfahrt), den einzelnen Berufsgenossenschaften (BGen) und deren zentrales Dach, die DGUV mit ihren angeschlossenen Institutionen wie z.B. das IPA (in rot).

Asbest, Blei, Quecksilber, Benzol

Die Jahrtausendwende ist nicht nur die Zeit, als beide arbeitsmedizinischen Protagonisten in der Blüte ihrer Jahre (Mitte Vierzig) ihren jeweiligen Thron besteigen. 2000 ist auch das Jahr, in dem der Grenzwert für Benzol bzw. der Anteil von Benzol z.B. in Benzin zum fünften Male in Folge abgesenkt wird. Bis in die 60er Jahre durfte das krebsfördernde ("kanzerogene") Benzol im Ottokraftstoff mit 10% enthalten sein, ab jetzt sind nur noch 0,7 % erlaubt - ein Bruchteil der früheren Menge. Die Europäische Kommission drängt seit längerer Zeit darauf, nicht nur an Arbeitsplätzen, sondern auch für die Menschen allgemein (z.B. Verbraucher) eine menschenwürdigere Welt zu organisieren, in der Gefahrstoffe nach und nach verboten werden, und da, wo man (noch) nicht auf sie verzichten kann, die gefährdende Menge zumindest zu reduzieren (siehe dazu auch das Kapitel Arbeitsschutz in Deutschland: zwischen Schein und Sein.

Bei Asbest ist dies bereits geschehen - Asbest ist inzwischen verboten (in Deutschland seit 1993). Ebenso sind Blei (z.B. im Benzin) oder Quecksilber am Arbeitsplatz 'out'.  

"Gefahrstoffe" heißen deswegen so, weil sie potenziell gefährlich sind. Wer einmal die Woche oder im Monat mit seinem Auto tankt, kommt mit Benzol oder Benzolgasen kaum in Berührung. Schon deswegen nicht, weil die Zapfschläuche am Einfüllstutzen ein Ventil - gekoppelt mit einer Gasrückführungspumpe - enthalten: Benzin- oder Benzoldämpfe sind tabu. Die Mineralölindustrie hat sich seit 2003 auf die neue EU-weite Vorschrift eingestellt.

In KFZ-Werkstätten, von denen es hierzulande rund 37.000 mit annähernd 300.000 Beschäftigten gibt, sieht es anders aus. Jeder, der sein vierrädriges Gefährt schon einmal in eine Werkstatthalle gefahren hat, wird sich an den für Reperaturwerkstätten typischen Geruch erinnern. Anders gesagt: die ständige "Exposition", d.h. die Belastung durch derlei Dämpfe und Ausdünstungen ist für KFZ-Mechaniker erheblich. Entsprechend sind es auch die gesundheitlichen Gefährdungen.

Die Verringerung von Grenzwerten bei Gefahrstoffen - bzw. umgekehrt: der zunehmende Schutz von Arbeitnehmern - geht immer (nur sehr) langsam voran. Den Entscheidungsträgern der Politik liegt regelmäßig mehr am Schutz der Interessen der Industrie als an der Gesundheit der Arbeitnehmer an solchen Arbeitsplätzen. Und dabei spielt es keine Rolle, ob die jeweils federführenden Parteien das Wörtchen "sozial" oder "christlich" in ihrem Parteilogo führen.

Für Asbest beispielsweise, von dem heute jeder weiß, dass es ein gefährlicher Stoff ist, hat es Jahrzehnte gedauert, bis der Gefahrstoff letztlich verboten wurde. Obwohl man um die Gefährlichkeit schon sehr lange wusste. Bezahlt, mit ihrem Leben bzw. einem qualvollen Tod, haben das Zehntausende von Menschen - Asbeststaub ist tödlich. Wir haben diesen mühsamen Weg detailliert rekonstruiert in einem eigenen Schwerpunktthema, aufrufbar unter www.ansTageslicht.de/Asbestkrimi.

"Risikoverdoppelung", Benzol und aromatische Amine in der deutschen Arbeitsmedizin

Zur Jahrtausendwende ist ebenfalls eine wissenschaftliche Veröffentlichung erschienen, die der herrschenden Meinung der Gesetzlichen Unfallversicherung nicht gefällt. Prof. Dr. med. Alfred MANZ, der 40 Jahre als Betriebsarzt bei den Hamburger Gaswerken gearbeitet hatte und nun als Professor das Institut für Arbeitsmedizin, gleichzeitig "Beratungsstelle für Chemiearbeiter" in Hamburg, leitet, hat sich mit der von den "herrschenden Meinung" geforderten "Risikoverdoppelung" auseinandergesetzt. MANZ ist einer der (sehr) wenigen, die sich nicht dem lukrativen Mainstream (Gutachten!) der bundesdeutschen Arbeitsmedizin verschrieben haben.

Prof. MANZ hatte zuvor bei den Beschäftigten der Hamburger Gaswerke das auffällige Entstehen verschiedener Krebsarten konstatiert und den Zusammenhang zwischen Benzol und beruflich bedingtem Krebs in einer großen epidemiologischen Studie nachgewiesen. Bei der Produktion von Gas, das künstlich in einer Kokerei produziert wird ("Kokereigas"), entstehen eine Menge von Nebenprodukten: Teer, Ammoniak; Schwefelwasserstoff und Benzol. Heutzutage benutzt man Erdgas; Kokereigas ist out.

Benzol jedenfalls ist "kanzerogen". Krebserzeugend. Und ebenso die daraus ableitbaren Stoffe wie Nitrobenzol bzw. Anilin, aus denen beispielsweise sogenannte Azo-Farbstoffe gewonnen werden können. Anilin gehört zur Substanzgruppe der "Aromatische Amine". Sie sind gefährlich sind. Die Produkt- und Verwertungspalette von Benzol als Ausgangsstoff lässt sich mit diesem Link aufrufen: Stammbaum von Benzol (siehe Grafik).

Prof MANZ macht dabei in der Fachzeitschrift "Gesundheitswesen" (1999, S. 331-336) auf ein typisches Phänomen aus der Statistik aufmerksam, das von der Mainstream-Arbeitsmedizin gerne immer wieder umgedeutet bzw. einseitig interpretiert wird. Im Kern geht es darum, dass ein statistisch messbarer Zusammenhang nicht unbedingt ein kausaler Zusammenhang bedeuten muss - z.B. dann, wenn sich die Werte zufällig ergeben oder andere Größen ursächlich sind, die man statistisch überhaupt nicht erfasst hat. Umgekehrt stellt sich ein kausaler Zusammenhang naturgemäß bzw. logischerweise immer auch als statistischer Zusammenhang dar.

Der Mainstream der Arbeitsmediziner fordert und praktiziert in seinen Gutachten, die über eine Anerkennung als Berufskrankheit entscheiden, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Exposition eines Gefahrstoffs und einem Gesundheitsschaden nur dann als "berufsbedingt" anerkannt werden kann (bzw. soll), wenn das Risiko für jene, die damit in ihrem Beruf zu tun haben, doppelt so hoch ist, daran zu erkranken wie der Rest der Welt - Stichwort "Risikoverdoppelung".

MANZ hält argumentativ dagegen: "Risikoverdoppelung" hat weder etwas mit den anderen üblichen Beurteilungsmaßstäben für einen kausalen Zusammenhang zu tun, also etwa mit der statistischen Signifikanz einer sog. Überhäufigkeit oder der Dosis-Wirkungsbeziehung von Gefahrstoffen. Ein doppeltes so hohes Risiko kann im konkreten Fall völlig unabhängig davon auftreten. Oder eben auch nicht.

Und in seinem Resümmee kommt MANZ zu dem Ergebnis. dass der ausschließliche Fokus auf diesen Bewertungsmaßstab "eine willkürliche Verschärfung der aus der epidemiologischen Statistik ableitbaren Bewertungsmaßstäben darstellt." Die könne in Gutachten und vor Gericht zu "Fehlbeurteilungen" führen.

Egal, ob es dabei um Benzol pur geht oder den daraus abgewandelten Stoffe wie z.B. Aromatische Amine. Eine der möglichen Folgen dieser Stoffe für den menschlichen Organismus: Harnblasenkrebs.

Der wissenschaftliche Aufsatz verpufft. So gut wie niemand nimmt die Argumente im System der Gesetzlichen Unfallversicherung zur Kenntnis. Im Standardwerk der Mainstream-Arbeitsmedizin, dem Lehrbuch des Großmeisters Prof. Helmut VALENTIN, das er seit Jahren zusammen mit zwei Vertretern der Berufsgenossenschaften herausgibt ("Arbeitsunfall und Berufskrankheit"), wird nach wie vor in solchen Fällen eine "Risikoverdoppelung" gefordert. An diesem Standardwerk orientieren sich viele, wie der Untertitel zu erkennen gibt: "Rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung, Berater und Gerichte". Das Buch mit seinen rd. 1.300 Seiten gibt es inzwischen in der 9. Auflage (2017).

Die VALENTIN-Schule ist der stille Katalysator der "herrschenden Meinung".

Erstdiagnose Harnblasenkrebs

Zu dieser Zeit, als MANZ die arbeitsmedizinische Welt wachzurütteln versucht, geht es Kai WACKER immer schlechter. Er ist jetzt Ende 30, hat als KFZ-Mechaniker seinen klassischen Weg gemacht, erst Lehrling, dann Meister, zuletzt Kundendienstmitarbeiter und -berater und dies bei mehreren bekannten Autohäusern. Darunter die Marken Audi und VW.

Der Name ist anonymisiert, seine Geschichte real. 1999 äußert sein Hausarzt Verdacht auf einen Harnblasentumor, der sich nach weiteren Untersuchungen bestätigt. Die Behandlung ist schmerzhaft, Kai WACKER kann nicht mehr arbeiten nach 22 Berufsjahren.

Üblicherweise bekommen Männer Harnblasenkrebs, wenn sie daran erkranken, durchschnittlich in einem Alter von über 70 Jahren. Aber ein statistischer Durchschnitt ist eben nur das arithemtische Mittel aus mehreren Werten, die in der Regel sehr unterschiedlich sind. Da gibt es sogenannte Ausreißer nach unten und oben. Und weil auch die genetische Disposition der Menschen sehr unterschiedlich ist, erkranken einige früher, andere später und wieder andere gar nicht.

Kai WACKER jedenfalls hat Ende 30 eine 'bunte' Expositions-Karriere mit unterschiedlichen Stoffen hinter sich: Bremsflüssigkeiten, die ab und an ausgetauscht werden müssen; Bremsenreiniger und diese dann gleich in ganzen Druckluftflaschen, weil damit auch die Werkstatthallen gesäubert werden; Schmieröle für das Getriebe und die Achsen; Motoröle und Altöle, die eine ganze Palette von toxischen, hier kanzerogenen Substanzen enthalten wie z.B. auch Dioxinrückstände. Und natürlich Kraftstoffe, wie Normalbenzin und Super. Alles Stoffe, die in den rund 37.000 KFZ-Werkstätten in Deutschland zum Alltag gehören und bis heute nur teilweise verboten bzw. durch andere Stoffe substitutiert worden sind.

Die Ottokraftstoffe "Normal" und "Super" waren lange Zeit bis in die Mitte der 90er Jahre mit Azo-Farbstoffen versehen, die t.w. 4-Amino-Azobenzol, 2-Naphtylamin und anderes enthalten - Substanzen, die chemisch gesehen, zur Gruppe der Aromatischen Amine gehören und vielfach krebserzeugend (K2 ) sind.

Was die Dieselmotor-Emissionen betrifft, die ebenfalls toxisch sind, darüber spricht zu dieser Zeit (noch) niemand.

Die medizinische Behandlung jedenfalls ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch schwierig und langwierig. Nachdem die ersten Tumoren chemotherapeutisch besiegt sind, tauchen sie erneut auf (sog. Rezidive). Und es kommt ein neuer Tumor hinzu: im Nierenbecken (Nierenbecken-Urothelcarcinom). Letztlich muss alles herausoperiert und künstlich ersetzt werden: Nierenharnleiter, Harnröhre, Blase.

Wie eine beruflich verursachte Krankheit zu einer "Berufskrankheit" wird

Was als beruflich ausgelöste Krankheit grundsätzlich in Frage kommen kann, entscheiden hierzulande nicht die Parlamentarier, also etwa die Bundestagsabgeordneten. Die interessieren sich in der Mehrzahl nicht für Menschen, die am bzw. durch ihren Arbeitsplatz erkranken. Zumindest haben sie noch nie moniert, dass solche Entscheidungen der Legislative entzogen sind und statt dessen in der Behörde, konkret im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) fallen.

Das BMAS lässt sich in solchen Fällen beraten: durch den "Ärztlichen Sachverständigenbeirat 'Berufskrankheiten'" (ÄSVRB BK), in dem Vertreter der Arbeitsmedizin und der Gesetzlichen Unfallversicherung sitzen. Dieses Gremium ist in der obigen Grafik eingetragen: ganz oben rechts - als eines von insgesamt 7 Ausschüssen, die Empfehlungen abgeben, die in der Regel dann auch 1:1 umgesetzt werden: im Rahmen der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), dort in der Anlage 1.

Die "BK 1301" regelt "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine". Sie stammt aus dem Jahr 1963 und soll Hausärzten Hinweise für die Diagnose geben. Dort findet sich der Passus, dass "eine eingehende Arbeitsanamnese von besonderer Wichtigkeit" ist. Konkret: Bei der Einschätzung beispielsweise eines Harnkrebses als beruflich verursacht muss detailliert rekonstruiert werden, unter welchen Bedingungen ein am Arbeitsplatz Erkrankter

  1. welchen Schadstoffen
  2. in welchem Umfang ("Dosis") und
  3. in welchen zeitlichen Perioden ausgesetzt war.

So gesehen eine klare Ansage.

Wie die "herrschende Meinung" zu Benzol & Co praktiziert wird

Doch Gesetze und Verordnungen sind das eine. Auslegung und Interpretation ist etwas anderes. Und wer groß, einflussreich und mächtig ist, wer sich auf einen großen Apparat stützen und deshalb schnell sein kann, setzt die Maßstäbe. Bzw. das, was aus Gesetzen und Verordnungen letztlich wird: wie sie konkret in der Praxis angewandt werden.

Im Jahr 2003 - also nur wenig später nach den Neubesetzungen in Erlangen (Prof. DREXLER) und in Bochum (Prof. BRÜNING) - veranstaltet die Berufsgenossenschaft, die für die Chemie zuständig ist (heute: BG RCI), ein Fachgespräch: Krebs, ausgelöst durch Aromatische Amine, ist die dritthäufigste Krebsart nach Asbestverursachtem Krebs (Lungenkrebs, Mesotheliom). Man will gegensteuern. Weil es immer teurer wird. Die angedachte Lösung: Die "Anerkennungshürden sollen erheblich heraufgesetzt" werden, wie es später vier andere renommierte Arbeitsmediziner formulieren werden, die sich nicht dem Mainstream verschrieben haben.

Weil sich nachträglich, also oft nach mehreren Jahrzehnten Latenzzeit, in den allerseltensten Fällen die schädlichen Expositionen hinreichend genau quantifizieren lassen, haben sich die Vertreter der Gesetzlichen Unfallversicherung, also die BGen und deren zentrales Dach, die DGUV, aber auch das DGUV-eigene IPA-Institut etwas einfallen lassen: Jetzt will man die Einwirkung aromatischer Amine auf Blasenkrebs anhand der Wirkungsbedingungen von Zigarettenrauchern ableiten. Begründung: Weil die Menge der aromatischen Amine im Tabakrauch bekannt sei, die zu einer statistischen Risikoverdoppelung führe, könne man ja diesen Wert benutzen. Vereinfacht formuliert: Die kumulierten inhalierten Schadstoffe eines Vielrauchers oder besser: Kettenrauchers sollen künftig die Mindestmenge darstellen, anhand derer in Zukunft über die Anerkennung eines beruflich verursachten Harnblasenkrebses von den Berufsgenossenschaften entschieden werden soll.

Um dieser Strategie ein wissenschaftliches Gewand zu geben, entscheidet sich die GUV, ein "Exemplarisches Sachverständigengutachten" in Auftrag zu geben. Ein solches wird nun nicht an einen unabhängigen Arbeitsmediziner vergeben oder etwa der "Ärztliche Sachverständigenbeirat BK" beim BMAS damit beauftragt. Die Expertise wird beim GUV-eigenen IPA-Institut und dessen Chef, Prof. Thomas BRÜNING, bestellt. Das Ganze geht schnell, man hat sich ja gut vorbereitet und so liegt das Eregbnis auch bereits ein Jahr später, 2004, auf dem Tisch.

Allerdings nur auf den Tischen der Berufsgenossenschaften, die dies nun nutzen, um damit nicht nur entsprechende Anträge von Erkrankten abschmettern zu können, "sondern darüberhinaus in entsprechenden Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren bis zur Ebene der Landessozialgerichtsbarkeit dies als Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zu vertreten", wie die vier nicht dem arbeitsmedizinischen Mainstream ergebenen Professoren konstatieren, auf die wir gleich ausführlicher zu sprechen kommen.

... "kardinaler Mangel des Denkansatzes", ... "wissenschaftlich nicht haltbar", ...

Das, was das IPA-Institut 2004 unter der Leitung und Mitwirkung seines Chefs, dem Arbeitsmediziner Prof. Dr. med. Thomas BRÜNING, in seinem "Exemplarischen Sachverständigengutachten" zusammengestellt hat, wird erst sechs Jahre später im Rahmen eines wissenschaftlichen Fachaufsatzes veröffentlicht: Die Wissenschaftler des DGUV-eigenen Forschungsinstituts Tobias WEISS, Jana HENRY und Thomas BRÜNING publizieren 2010: "Berufskrankheit 1301. Bewertung der beruflichen (Mit-)Verursachung von Harnblasenkrebserkrankungen unter Berücksichtigung der quantitativen Abschätzung der Einwirkung der aromatischen Amine 2-Naphthylamin, 4-Aminobiphenyl und o-Toluidin."

Die (letztlich industriefinanzierten) Wissenschaftler der Gesetzlichen Unfallversicherung stützten ihre Thesen und ihre daraus abgeleitete Wirkungs-Modellrechnung auf 3 Tierversuche mit Hunden. Dabei übersahen sie - bewusst oder unbewusst - dass man derlei Experimente (Verabreichung der oben genannten chemischen Substanzen in unterschiedlichen Dosismengen) nur dann sinnvoll interpretieren kann, wenn wenn man jeweils dieselbe Tierart bzw. Tierrasse benutzt, auf die Gleichheit von Geschlecht und Stamm, Haltung und Nahrung sowie auf die identischen Umgebungsbedingungen achtet.

"Keine der vorgenannten Grundvoraussetzungen einer Vergleichbarkeit ist bei den drei zum Vergleich herangezogenen Versuchen an Hunden eingehalten", kritisieren zwei Jahre später vier andere Professoren, die sich nicht zum Mainstream der Arbeitsmedizin bzw. der industriefinanzierten Forschung zählen: ein Toxikologe (D. HENSCHLER), ein Chemiker (H.W. THIELMANN) und zwei Arbeitsmediziner (K. NORPOTH und H.-J. WOITOWITZ). Diese vier Wissenschaftler wollen sich nicht mit dieser interessensgeleiteten "herrschenden Meinung" zufrieden geben und veröffentlichen ihrerseits 2012 die Publikation: "Blasenkrebs durch aromatische Amine als Berufskrankheit."

Die Veröffentlichung der vier unabhängigen Professoren (3 Universitäten, Deutsches Krebsforschungszentrum) ist durchgehend ein wissenschaftlicher Veriss dessen, was die industriefinanzierten IPA-Wissenschaftler zum Besten gegeben haben. Ohne hier auf die inhaltliche Auseinandersetzung fachlich einzugehen, zeigt bereits eine einfache Analyse der kritischen Äußerungen, welche Bedeutung die vier Experten dem "Exemplarischen Sachverständigengutachten" und der dort abgeleiteten Modellrechnung zumessen:

"besonders fragwürdig", "toxikologisch nicht gerechtfertigt", "Ansatz wissenschaftlich nicht haltbar", "wissenschaftlich nicht begründbar", "weist erhebliche Mängel auf", "Fehler besonders eklatant", "wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen", "wissenschaftlich keinesfalls akzeptabel", "nicht tragfähig" u.a.

In dieser Reihenfolge lesen sich die kritischen Anmerkungen. Sie bleiben ohne Wirkung. Die arbeitsmedizinische Fachwelt greift die wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht auf. Das Monopol der Gesetzlichen Unfallversicherung hält den Deckel drauf.

Die vier Kritiker können ihre Argumente auch nicht in der gleichen Fachzeitschrift unterbringen, in denen das IPA-Institut seine Empfehlungen veröffentlicht hat: Das wichtigste Fachblatt der Branche "ASU - Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Umweltmedizin" ist in der Hand des Mainstream. Und der IPA-Chef, Prof. BRÜNING, Mitglied der Redaktion.

Stattdessen kommuniziert die DGUV die IPA-Version in allen ihren Faltblättern, Broschüren, Reports: für den Rest der medizinischen Welt (z.B. Haus- und urologische Fachärzte), Krankenhäuser, Krankenkassen bis hin in den politischen Bereich

Um sich den Schein der grundsätzlich generösen Anerkennung von Harnblasenkrebs zu verleihen, druckt die Gesetzliche Unfallversicherung in ihrem IPA-Journal 01/2013 drei Fallbeispiele unter der Überschrift Harnblasenkrebs als Berufskrankheit: alle drei Erkrankte sind Raucher. Und alle drei bekommen ihren Harnblasenkrebs als beruflich verursacht anerkannt. Anerkennungsquote also 100%.

Anerkennungsquote 8 Prozent und die politischen Entscheidungsträger

1.792 Anträge auf Anerkennung einer Berufskrankheit 1301 verzeichnet die offizielle Statistik des BMAS für das Jahr 2019 wegen Harnblasenkrebs. 139 dieser Anträge wurden positiv beschieden. Dies entspricht einer Anerkennungsquote von 8 Prozent (7,8% um genau zu sein).

Diese Zahl steht in Kontrast, was die Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) über ihre Berufsgenossenschaften, deren zentrales Dach (DGUV), dem IPA-Institut und allen anderen wissenschaftlichen Instituten der GUV regelmäßig kommuniziert.

Doch die Kommunikation der GUV ist erfolgreich. Seit Jahrzehnten.

So hat der frühere Bundesverfassungsrichter und spätere Bundespräsident Roman HERZOG [† 2017] die Gesetzliche Unfallversicherung einst als "Juwel" bezeichnet. Alle Bundesminister für Arbeit und Soziales haben sich ebenfalls nie für diese Widersprüche oder gar die Folgen für die Betroffenen interessiert. Egal aus welcher Partei sie kamen:

  • SPD: Walter RIESTER, Ulla SCHMIDT, Wolfgang CLEMENT, Franz MÜNTEFERING, Olaf SCHOLZ, Andrea NAHLES, Hubertus HEIL
  • CDU/CSU: Norbert BLÜM, Franz Josef JUNG, Ursula von der LEYEN.

Aber auch die Mitglieder des Deutschen Bundestags, soweit sie in den ständigen Ausschüssen für Gesundheit oder Arbeit & Soziales sitzen, zeigen in ihrer Mehrheit keinerlei Interesse, auf die Probleme und Nöte von Menschen einzugehen, die im Rahmen ihrer Arbeit krank geworden sind. Nur die Parteien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE haben dafür ein offenes Ohr.

Gesetzliche Krankenkasse und Gesetzliche Unfallversicherung

Zehn Jahre nach der Erstdiagnose "Harnblasenkrebs" und der kompletten Entfernung des Harntrakts bei Kai WACKER - es betrifft das Jahr 2009 - kommt seine Krankenkasse auf die Idee, die bisherigen und künftigen finanziellen Folgen seiner Krankheit nicht mehr übernehmen zu wollen. Der Krankenkasse wird es langsam zu teuer. Und auch für die Rentenkasse ist es eine Belastung, einem 48jährigen eine monatliche Rente auszuzahlen, wenn - eigentlich - die "Gesetzliche" Unfallversicherung dafür zuständig ist. So zumindest war bzw. ist es ja die Idee, dass die für den Arbeitsplatz und den Arbeitsschutz zuständigen Arbeitgeber dann in die Pflicht genommen werden, wenn die Arbeitsschutzmaßnahmen (z.B. Präventionsmaßnahmen) für die Arbeitnehmer nicht ausreichend waren. 

Das Thema (unzureichender) Arbeitsschutz: zwischen Schein und Sein stellen wir in einem gesonderten Kapitel dar. Wie es zur Einrichtung der "Gesetzlichen Unfallversicherung kam und was daraus bis heute wurde, haben wir in anderem Zusammenhang dokumentiert: www.ansTageslicht.de/GUV.

Mit einem Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit ("Verdachtsanzeige") beginnt ein langwieriges Verwaltungsverfahren. Konkret: eine zähe und mehrjährige Auseinandersetzung mit der zuständigen Berufsgenossenschaft. In diesem Fall betrifft es die BG Holz und Metall, kurz BGHM.

Die Gesetzliche Unfallversicherung, konkret die Berufsgenossenschaften sitzen automatisch am längeren Hebel. Schon deswegen, weil, wenn jemand krank wird, oft ersteinmal die regulären Krankenkassen einspringen (müssen), egal ob dies die Gesetzliche oder eine Private Krankenversicherung ist. Denn wie bei der Humanmedizin: Den Betroffenen soll ja geholfen werden.

Weil die Ablehnungsquote der GUV im Mittel 75% beträgt, eine nachträgliche Änderung der finanziellen Lastenverteilung zwischen "Gesetzlicher" Krankenkasse und Unfallversicherung verwaltungsmäßig umständlich und eben auch nur mit einer 75%igen Wahrscheinlichkeit versehen ist, verzichten viel reguläre Krankenversicherungen darauf, die finanziellen Folgen so zu klären, wie dies - eigentlich - vom Gesetzgeber vorgesehen ist.

Diese stille Überwälzung von Kosten auf die regulären Krankenversicherungen ist zum Vorteil für die Arbeitgeber. Die Beiträge an die Berufsgenossenschaften zahlen die Unternehmen allein. An der Finanzierung der regulären (gesetzlich vorgeschriebenen) Krankenversicherungen beteiligen sich beide: Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Wenn die Anerkennungsquote der BGen so niedrig ist, sind auch die Kosten bzw. die dazu notwendigen Beiträge der Arbeitgeber gering: im Durchschnitt rund 25 € pro Arbeitnehmer im Monat. Die anteiligen Arbeitgeberbeiträge zur regulären Krankenversicherung liegen beim Zehnfachen.

Deswegen haben die Unternehmen kein Interesse an einer Änderung. Und deswegen ein hohes Interesse daran, was 'ihre' von ihnen - direkt oder indirekt - finanzierten Wissenschaftler und Arbeitsmediziner in ihrer Funktion als Gutachter zum Besten geben.

Die BGHM und ihr erster Gutachter: Prof. Dr. med. Hans DREXLER

Der Antrag der Krankenkasse von Kai WACKER Ende November 2009 löst die üblichen Abwehrmaßnahmen aus. Denn die Statistik wird für dieses Jahr insgesamt 1.133 Anträge auf Anerkennung einer BK 1301 ausweisen. 117 werden davon anerkannt werden (müssen). Also 10,3 %. Die BGHM möchte diese Quote auf unter 10 Prozent drücken.

Die BGHM schickt also Leute vor Ort, schaut sich die Arbeitsplätze an, befragt diesen und jenen, stellt Informationen zusammen. Und kommt zu dem Ergebnis,

  1. dass aromatische Amine nach Befragungen der Mineralölhersteller in Form von Farbzusätzen in Ottokraftstoffen (Normal- und Super-Benzin) "nur in geringem Umfang" enthalten gewesen seien. Und das auch nur bis in die Mitte der 90er Jahr, Kai WACKER also höchstens 17 Jahre lang davon betroffen gewesen sein könnte.
    Da die Farbintensität der Azo-Farbstoffe sehr hoch gewesen sei, habe der Anteil im Benzin für seine Zwecke aber nur "äußerst gering" sein müssen. Alles in allem habe er "bei lediglich maximal 1 ppm" gelegen.
    1 ppm" meint: 1 Anteil auf 1 Million. Oder anders: 1 Promille von 1 Promille.

  2. In allen anderen Stoffen wie Schmiermittel oder Ölen seien zwar Farbstoffe enthalten, die aber alle keine aromatischen Amine enthielten.

  3. Ob in "Autoabgasen" aromatische Amine enthalten seien, wisse man nicht. Ebenfalls wisse man nicht, ob dies auch bei Autolacken der Fall wäre.

Mit diesen - durch eigene Leute gewonnenen - Erkenntnissen lehnt die BGHM den Antrag ab, Kai WACKER's Harnblasenkrebs als beruflich verursacht anzuerkennen. Man habe sich im übrigen auch bei der DGUV (dem zentralen Dach aller Berufsgenossenschaften) erkundigt und die Auskunft erhalten, dass es zudem "keine neuen medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse" gäbe, die auf einen ursächlichen Zusammenhang z.B. zwischen Benzol und einem Tumor ("Karzinom") im Harnblasenbereich schließen ließen ("Urothelkarzinom").

Um die eigene Argumentation gleich im Vorfeld abzusichern, beauftragt die BGHM einen Gutachter. Der soll ein arbeitsmedizinisches Gutachten dazu erstellen. Beauftragt dazu wird Prof. Dr. med. Hans DREXLER in Erlangen, ein Schüler aus der VALENTIN-Schule,  und dort inzwischen der (zweite) Nachfolger des arbeitsmedizinischen Doyen's VALENTIN.

Prof. DREXLER's Harnblasenkarzinom vor dem Sozialgericht Frankfurt

Üblicherweise läuft ein Anerkennungsverfahren so ab, dass eine BG selbst ermittelt und dann (in der übergroßen Mehrheit aller Fälle), einen solchen Antrag ablehnt. Dann kann der betroffene Antragsteller Widerspruch einlegen und die Argumente der BG zu widerlegen versuchen. Die BG schaut sich das an und lehnt dann in praktisch allen Fällen den Widerspruch ab.

Daraufhin kann der/die Betroffene dann Weg zu einem Sozialgericht beschreiten (wohl wissend, dass er nur eine Erfolgschance von 10% hat). Das Gericht, das sich mit gegensätzlichen Meinungen konfrontiert sieht, beauftragt dann selbst einen Gutachter. Bevorzugt solche, die die "herrschende Meinung" wieder geben, also im Zweifel das, was ein Richter gene hören, sprich lesen möchte. Das macht ihm am wenigsten Arbeit.

Eigentlich - aber nur 'eigentlich' - haben Richter an einem Sozialgericht eine "amtliche Ermittlungspflicht" (§ 103 SGG - Sozialgerichtsgesetz): Sozialrichter müssen den "Sachverhalt von Amts wegen erforschen". Aber eben nur 'eigentlich'. Die (aller)wenigsten machen das: zu checken, ob das, was z.B. ein Gutachter schreibt, auch den Tatsachen bzw. dem wissenschaftlichen Stand der Diskussion" entspricht.

Und so läuft es auch am Sozialgericht Frankfurt/Main. Beziehungsweise: läuft es nicht.

Konkret: Richterin Dr. SAILER am Sozialgericht Frankfurt/M. macht es sich einfach. Richterin Dr. SAILER meint, "dass relevant lediglich die Exposition ... gegenüber aromatischen Aminen" ist. Und die "nur in sehr geringer Konzentration," wie die Berufsgenossenschaft festgestellt habe. "Die Belastung des Klägers durch Abgase, Öle etc. ist danach für die BK 1301 unerheblich."

Was Richterin Dr. SAILER da offiziell schreibt, hat Auswirkungen. Zum Beispiel für die beiden Beisitzer ihrer Kammer. In einem Sozialgerichtsverfahren gibt es immer zwei "ehrenamtliche Richter": einen, der die Arbeitgeberseite vertritt, ein anderer, der für die Arbeitnehmer dabei sitzt. Akteneinsicht haben beide nicht. Sie werden vom Richter vor Beginn einer Verhandlung in den jeweiligen Fall eingeführt. Wie so etwas aussieht, kann sich jeder vorstellen. Ebenso, was die Folgen sind, denn sie sind bei der Entscheidung gleichberechtigt mit einem hauptamtlichen Richter.

Im konkreten Fall von Kai WACKER, der den Weg vor Gericht im Jahr 2011 wagt, übernimmt das Sozialgericht in Frankfurt/Main das von der BGHM auf den Tisch gelegte Gutachten von Prof. Dr. med. Hans DREXLER inhaltlich praktisch 1:1.

Trotzdem benötigt die Kammer zwei volle Jahre, um den Text des DREXLER-Gutachtens in ihr Urteil zu übertragen. Und so fällt sie erst am 20. Februar anno 2013 ihr Urteil (Az: S 23 U 34/11): "Die Klage wird abgewiesen."

In der Begründung führt das Frankfurter Sozialgericht all jene Gründe auf, die von der BGHM zusammengestellt wurden sowie die Argumentation des von der BGHM beauftragten Gutachters:

  1. Der Anteil der Azo-Farbstoffen im Benzin sei wegen der hohen Farbintensität äußerst gering gewesen, habe nur 1 ppm betragen,
  2. alle anderen Stoffe wie Kühl- oder Motoröl und Schmieröl hätten keine aromatischen Amine enthalten,
  3. und vor allem, was auch der Gutachter besonders betont habe: Für die Anerkennung einer BK fordere der Gesetzgeber, dass "die betroffene Berufsgruppe gegenüber der übrigen Bevölkerung eine Gefährdung in erheblich höherem Grade,was einer Verdoppelung des Risikos entspreche. Eine solche Risikoverdoppelung sei in den ausgewerteten Studien hinsichtlich Blasenkarzinoms bei Kfz-Mechanikern nicht gesehen worden."

Eine "Kausalitätsprüfung" ... "setzt grundsätzlich den epidemiologischen Nachweis einer sog. Risikoverdoppelung ... in Bezug auf die fragliche Erkrankung bei einer nach Art, Intensität und Dauer definierten Exposition voraus", heißt es in dem Standardwerk des arbeitsmedizinischen Doyen, Prof. VALENTIN, das er zusammen mit zwei Geschäftsführern zweier Berufsgenossenschaften herausgibt: "Arbeitsunfall und Berufskrankheit", bzw. der damals aktuellen 8. Auflage aus dem Jahr 2009, dort auf S. 68.

"Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer vollumfänglich an", heißt es weiter in dem Urteil der 23. Kammer des Frankfurter Sozialgerichts.

Recherchen

Kai WACKER, der sich bereits seit mehreren Jahren mit der Situation abfinden muss, dass man ihm den gesamten Harntrakt herausoperiert hat, braucht lange, um damit körperlich, aber auch mental zurecht zu kommen. Es geht ihm immer wieder durch den Kopf: redliche Arbeit auf der einen Seite, unzureichende Warnhinweise und Präventionsmaßnahmen auf der anderen, und im Ernstfall keine Entschädigung? Normalfall im Wirtschaftsland Bundesrepublik Deutschland?

Er begibt sich in psychologische Behandlung, um dieses Bild aus seinem Kopf zu verbannen, was sich da in den letzten 14 Jahren (seit 1999) eingebrannt hat. Hilfreich ist sein Vorhaben, sich nicht mit dem Urteil des Sozialgerichts Frankfurt zufrieden geben zu wollen. Kai WACKER macht sich ans Recherchieren.

Wie ist das mit der Risikoverdoppelung? Sind 1 ppm nur "äußerst gering"? Kommt es auf diese "äußerst geringe" Dosis überhaupt an? Was passiert mit den aufgenommenen Giftstoffen, den aromatischen Aminen, selbst wenn sie nur in "äußerst geringer" Menge aufgenommen wurden, aber karzinogen sind, im menschlichen Organismus?

Kai WACKER wühlt sich durchs Internet, durch unzählige Seiten und Hinweise auf dieses & jenes zum Thema Benzol, aromatische Amine, Risikoverdoppelung.

Und kommt zu der Erekenntnis, dass das Sozialgericht Frankfurt/M. seiner "amtlichen Ermittlungspflicht" nicht nachgekommen ist.

Kai WACKER stellt fest, dass es sehr wohl seit längerer Zeit Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Benzol, aber auch aromatischen Aminen und Harnblasenkrebs gibt: seit 2004. Und dass auch schon zeitlich vor dem Urteil des Frankfurter Sozialgerichts 2013 andere Landessozialgerichte das Argument einer notwendigen Risikoverdoppelung verneint haben: Weder sei das in der BK-Verordnung vorgeschrieben noch sei dies wissenschaftlich begründet. So z.B. das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg im September 2010 (Az L 1 U 2869/09) oder das  LSG Brandenburg im Jahr 2011 (Az: L 31 U 339/08).

Kai WACKER's Richterin sowie die beiden Beisitzer, die vermutlich keine blasse Ahnung haben, aber nach deutschem Sozialrecht mitbestimmen dürfen, haben all das nicht zur Kenntnis genommen.

Kai WACKER fühlt sich in seinem Willen bestärkt. Er hat einen Toxikologen gefunden, der ihm nicht nur erklärt, dass die Argumentation des Gutachters, den sich die BGHM ausgesucht hat, wissenschaftlich nicht zu halten ist, sondern der sich auch bereit erklärt, selbst als Gutachter zur Verfügung zu stehen.

So einfach ist das allerdings nicht. Das Hessische Landessozialgericht will einen Toxikologen, selbst wenn der ein (inzwischen emeritierter) Professor an einer deutschen Universität ist, nicht als Gutachter akzeptieren, wenn er nicht auch als "Mediziner" promoviert ist. Man nutzt eine Hilfskonstruktion, die ein Gericht anwenden kann, aber nicht muss: Das eigentliche Gegengutachten, dessen Verfasser sich der betroffene Kläger aussuchen darf, wird von einem "Dr. med.", in diesem Fall von einem Urologen, verfasst, der wiederum den promovierten Toxikologen ("Dr. rer. nat.") mit einem toxikologischen Zusatzgutachten beauftragt.

Wie man einen eigenen (Gegen)Gutachter in einem Sozialgerichtsverfahren einführen kann, und wann man das sinnvollerweise am besten macht, erklären wir in anderem Zusammenhang www.ansTageslicht.de/WKMT. "WKMT" steht für "Was kann man tun".

Showdown: Prof. DREXLER's Harnblasenkarzinom vorm Hessischen Landessozialgericht

Worauf es wirklich ankommt: Know-how

Arbeitsmediziner sind keine Toxikologen. Und Toxikologen in der Regel keine Arbeitsmediziner. Was im Prinzip kein Problem ist, solange jeder "Schuster bei seinen Leisten bleibt". Konkret: Solange sich jeder nur zu dem äußert, worüber er auch wirklich gut Bescheid weiß.

In einer Welt, die immer mehr von zunehmender Komplexität geprägt ist bzw. deren Funktionieren man immer mehr nur im Zusammenhang begreifen kann, ist das schon lange nicht mehr zeitgemäß. Bedeutet: Entweder bindet man Fachleute mit unterschiedlicher Expertise von vorneherein zusammen oder einzelne Experten machen sich auch in anderen Fachgebieten schlau, unabhängig davon, ob sie "Dr. med" und/oder "Dr. rer. nat." sind. Es kommt weniger auf äußere Form und Titelei an, sondern um das reale Know-how.

Prof. DREXLER's Literaturliste

Der erst jetzt ins Spiel gebrachte Toxikologe, Prof. Dr. rer. nat. Hans Uwe WOLF, vormals Professor für Toxikologie an der Universität Ulm, Abteilung Pharmakologie und Toxikologie der Medizinischen Fakultät, und auch nach Beendigung seiner universitären Tätigkeit immer noch als Gutachter unterwegs, nimmt sich in seinem "toxikologischen Zusatzgutachten" als erstes die ausgewerteten Quellen und die daraus abgeleiteten Bewertungen von Prof. Dr. med. Hans DREXLER vor. Prof. WOLF liest genau. Er überlässt diesen Job nicht einer seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen.

Die Analyse von 11 herangezogenen Literaturen bzw. Studien bewertet Prof. WOLF zusammenfassend so:

"Der weitaus größte Teil  der vom Vorgutachter [gemeint: Prof. DREXLER] zur Feststellung des Erkrankungsrisikos des Klägers herangezogenen Studien ist für eine derartige Beurteilung ungeeignet." Grund: "Die Vergleichbarkeit der in den Studien zu Grunde liegenden Expositionsbedingungen" ist mit denen von Kai WACKER "nicht oder nicht ausreichend gegeben."

In einem Fall, so hält es Prof. WOLF fest, konnten die von Prof. DREXLER genannten Ergebnisse "in dieser Form der genannten Publikation nicht entnommen werden." Soll wohl bedeuten: Da hat jemand ein wenig 'gedichtet'.

Die realen Belastungen von "äußerst gering"

Prof. Dr. rer. nat. Hans Uwe WOLF geht präzise vor. Er listet detailliert auf, welchen Stoffen Kai WACKER während seiner beruflichen Arbeit ausgesetzt war und wie die realen Arbeitsbedingungen ausgesehen haben. Nicht, wie solche Arbeitsbedingungen in den Publikationen der Berufsgenossenschaften und/oder der DGUV üblicherweise (schön)geschrieben sind.

Auf zwei Probleme konzentriert sich der Toxikologe: Dieselmotor-Emissionen und Aromatische Amine. Für letztere gibt es die "BK 1301". Für eine beruflich bedingte Exposition gegenüber Dieselmotor-Emissionen gibt es noch keine "BK". Bis das Bundesministerium für "Arbeit und Soziales" auf gesundheitliche bzw. soziale Probleme von Arbeitenden eingeht, dauert es Jahre, in der Regel mindestens ein Jahrzehnt, eher länger.

Prof. WOLF's Resümee:

  • Die Ottokraftstoffe (Normal und Super) enthielten lange Jahre Azo-Farbstoffe, darunter z.B. das "Sudan Rot 7B", Kraftstoffe von ARAL "Solvent Blue 35", das wiederum Toluol enthielt. Bestimmte Azo-Farbstoffe aus der Gruppe der Aromatischen Amine können o-Toluidin abspalten. Und das ist kanzerogen, sprich krebserzeugend.
  • Diesemmotor-Emissionen stellen ein "komplexes Gemisch von Verbrennungsprodukten" dar, darunter Rußpartikel und "Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe", kurz PAK's. Beides ist kanzerogen, sprich krebserzeugend.

Um zu ermitteln, welcher Belastung Kai WACKER z.B. Aromatischen Aminen ausgesetzt war, macht Prof. WOLF eine Risikorechnung auf: Wenn ein Auto zwischen zwei Ölwechseln 30.000 Kilometer fährt und dabei 8 Liter/100 Km verbraucht, sind dabei 2.400 mg Sudan Rot verbraucht. Wenn dann nur 1% davon unverbrannt bleibt und ins Motoröl übergeht, befinden sich in 6 Liter auszutauschendem Öl etwa 24 mg Sudan Rot. Wenn man das auf die Anzahl von Ölwechseln in einer Kfz-Werkstatt an 200 Arbeitstagen im Jahr umrechnet, ergibt dies eine kumulative Dosis von ca 6 mg pro Jahr, denen ein Kfz-Mechaniker ausgesetzt ist. Multipliziert zum Schluss mit der Anzahl der Berufsjahre.

Soweit zur Prof. DREXLER's Begutachtung, dass die Menge der Azo-Farbstoffe nur "äußerst gering" gewesen sind. Rein mengenmäßig gesehen ist das zutreffend. Aber nicht, was die Folgen im menschlichen Organismus anbelangt. Und auf die kommt es an.

Der BGHM-Mann: Dr. Hans-Martin PRAGER

Weil die Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) ihre Felle davonschwimmen sieht, schaltet sie ihren Mann 'fürs Grobe' ein, konkret: fürs grobe Argumentieren: Dr. PRAGER.

Dr. med. Hans-Martin PRAGER ist vielen Berufskranken kein Unbekannter. Der Grund: Dr. PRAGER verdient seinen Lebensunterhalt ausschließlich mit Gutachtenschreiben und einer der (aller)wichtigsten Auftraggeber sind die Berufsgenossenschaften. Insbesondere die BGHM. Mit ihr hat Dr. PRAGER sogar einen "fachärztlichen Beratervertrag". Und trotzdem taucht Dr. PRAGER regelmäßig auch vor deutschen Sozialgerichten als 'unabhängiger Sachverständiger' auf. Eigentlich geht das nicht. Aber in deutschen Sozialgerichten ist viel möglich, was nicht Sinn und Zweck der gesetzlichen Vorschriften entspricht.

Auf die Auswahl des Counterparts bei der BGHM gegenüber Prof. Dr. WOLF haben die Richter des Hessischen Landessozialgerichts keinen Einfluss. So scheint die Aufgabe von Dr. PRAGER klar zu sein: Alles abzustreiten, was der Toxikologe an Fakten ins Feld führt, und das zu bestärken, was Prof. DREXLER in seinem Gutachten behauptet hat.

Dr. PRAGER setzt eine wissenschaftliche Stellungnahme auf, seine erste, zitiert eine Quelle, die sich in keiner medizinischen Datenbank finden lässt, stellt Behauptungen auf, für die er keinen Beleg angibt. Prof. WOLF muss auf all das schriftlich reagieren, was er auch dezidiert macht.

Dr. PRAGER schreibt erneut, seine Stellungnahme Nr. 2, denn auf dezidierte Argumente kann er - offenbar mangels Know-how - nicht reagieren, und so versucht Dr. PRAGER abzulenken, indem die Risikoabschätzung des Toxikologen anzweifelt, aber nicht merkt, dass er die Expositionssituation von Kai WACKER "nicht korrekt bzw. gravierend unvollständig" erfasst, wie Prof. WOLF in seiner erneuten Gegen-Stellungnahme konstatiert.

Dr. PRAGER holt erneut aus, Stellungnahme Nr. 3, und Sinn und Zweck scheint weniger zu sein, die fachlichen Argumente des Toxikologen auszuhebeln, als diesen vielmehr zum Aufgeben zu veranlassen und bei den Richtern Zweifel an dem Zusatzgutachten von Prof. WOLF auszulösen. Denn die müssen alles lesen und für eine andere Entscheidung als das vorangegangene Sozialgericht auf all diese Punkte eingehen. Das macht Arbeit, ist mühevoll und nimmt Zeit in Anspruch.
Prof. WOLF kontert erneut, macht höflich auf eine Verwechslung von Benzol mit Aromatischen Aminen aufmerksam.

Dr. PRAGER, der für jeden Schrieb bezahlt wird, gibt nicht auf, setzt eine vierte Stellungnahme auf, in der er erneut mit dem Hinweis ablenkt, dass die fragliche Konzentration nur gering gewesen und im übrigen die geforderte Risikoverdoppelung nicht gegeben sei. Prof. Hans-Uwe WOLF stellt klar, dass die "Risikoverdoppelung" gar nicht Voraussetzung für einen Kausalitätsbeweis sei, in der Wissenschaft seit langem überwiegend abgelehnt und deswegen von ersten Landessozialgerichten nicht mehr gefordert werde.

Dr. PRAGER gibt auf. Er ist mit seinem Latein am Ende, merkt wohl, dass ständiges Wiederholen von untauglichen Argumenten weder den Toxikologen aus der Fassung bringt noch das Gutachten des Arbeitsmediziners Prof. DREXLER stabilisieren kann.

Das Urteil: über den Harnblasenkrebs, Prof. DREXLER und Dr. PRAGER

Nach 6 Jahren seit Einlegung der Berufung beim Hessischen Landessozialgericht Darmstadt im Jahr 2013 bzw. 20 Jahre nach der Erstdiagnose eines Harnblasenkrebses fällen die Richter am 2. April 2019 ihr Urteil: Sie verwerfen die Argumente und Einschätzungen von Prof. DREXLER und Dr. PRAGER mehr oder weniger vollständig. Und sie betonen in ihrer Urteilsbegründung,

dass eine "Risikoverdoppelung nicht dem allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisstand" entspricht, "unabhängig davon, dass das Gesetz ... das Kriterium einer Risikoverdoppelung als Voraussetzung einer BK-Anerkennung nicht erwähnt."

Prof. DREXLER's und Dr. PRAGER's "Risikoverdoppelungen" sind also reine Fiktion.

Stattdessen stützen sich die Landessozialrichter, die sich deutlich mehr Mühe machen als die meisten Richter an den Sozialgerichten der ersten Instanz,

  • auf die präzisen Fakten,
  • die toxikologischen Erklärungen
  • und die Risikoberechnung

des Toxikologen Prof. Dr. Hans Uwe WOLF.

Die BGHM muss Kai WACKER ab sofort und nachträglich eine Rente zahlen.

Zum Ausgang des Verfahrens hat uns Prof. DREXLER eine Erklärung gegeben, die hinter diesem Link liegt: Risikoverdoppelung. Dort finden Sie auch, wie er mit diesem Thema in seinen Gutachten umgeht.

Der Fall macht mehreres deutlich:

  • die Strategie(n) einer Berufsgenossenschaft, in diesem Fall die der BGHM,
  • wie renommierte und oft beauftragte Arbeitsmediziner des Mainstream arbeiten
  • und dass es wichtig ist, dass man für ein 'Dagegenhalten' gegen a) den arbeitsmedizinischen Mainstream und b) ignorante Sozialrichter, die sich keine Mühe geben, sehr gute Experten braucht. Ohne die hat man im bundesdeutschen System der Gesetzlichen Unfallversicherung so gut wie keine Chance.

Da aus dem Urteil viele Argumentationsstränge im Detail hervorgehen, nennen wir hier den Link zu dieser Entscheidung: Hessisches LSG v. 2.4.2019, Az L 3 U 48/13. Da die deutsche Justiz - anders als etwa in den USA - wenig transparent ist und im Urteil die Namen der betroffenen Gutachter anonymisiert sind, lösen wir hier zum besseren Verständnis die Geheimnistuerei auf: "Prof. Dr. J" = Prof. Dr. Hans DREXLER; "Prof. Dr. L" = Prof. Dr. Hans Uwe WOLF; "Dr. M" = Dr. PRAGER. Mit "Dr. K" ist der Urologe gemeint, über den das "toxikologische Zusatzgutachten" von Prof. WOLF laufen musste - auf Anforderung des Gerichts.

Weil die "hohe Politik", im konkreten Fall das im Jahr 2021 SPD-geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales, der Meinung ist, dass die hohe Ablehnungsquote von 90% vor den deutschen Sozialgerichten in Verfahren um die Anerkennung von Berufskrankheiten mit der "Qualität der Gutachter" (siehe S. 6) zu tun hat, stellen wir kontinuierlich zusammen, auf was man achten muss, wenn man den Hauch einer Chance im übermächtigen System der Berufsgenossenschaften haben möchte: www.ansTageslicht.de/WKMT. "WKMT" steht für "Was kann man tun". Dieses Kapitel wird Anfang September erneut ergänzt werden.

Hinweis

Diese Geschichte lässt sich direkt aufrufen und verlinken unter dem Kurzlink www.ansTageslicht.de/Harnblasenkrebs. Eine komprimierte Version auf 1 DIN A 4-Seite gibt es unter www.ansTageslicht.de/ProfessorDrexler

(JL)

Der Text, den Sie hier lesen, gehört zum Themenkomplex

Krank durch Arbeit.

Weitere Bestandteile sind diese Themenschwerpunkte:

Ebenso dazugehörig, aber an anderer Stelle bei uns platziert:

Alle diese Themenschwerpunkte bestehen aus mehreren (ausführlichen) Texten, die wir "Kapitel" nennen. Den gesamten Themenkomplex im Überblick können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/krankdurcharbeit.