Eine dünne Akte: Exhibit B-1

Frühjahr 1945. Das Dritte Reich bricht unter dem Ansturm aliierter Truppen zusammen. Doch den kämpfenden Einheiten der Siegermächte sind Spezialverbände angeschlossen, die nur eine Aufgabe haben: Beweise für die Kriegsverbrechen der Nazis zu sichern, um die Täter später vor Gericht zu stellen. Die Akte „Exhibit B-1“ belegt das Grauen, auf das die US-Armee in den Konzentrationslagern gestoßen ist. 

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Arolsen ist eine nordhessische Kleinstadt. Jenseits des Stadtrands steht in einem Gewerbegebiet eine große Halle. Wer sie betritt, findet lange Regalreihen, über viele Kubikmeter gefüllt mit zahllosen gleich großen und grauen Pappschachteln. Hier sind 80 Jahre alte Personalkarten eingeordnet. Es sind 17 Millionen. Es sind die der Häftlinge, die das nationalsozialistische Deutschland in seinen Konzentrations- und Vernichtungslagern gequält und getötet hat und die der Opfer von Schauprozessen und Erschießungskommandos. Hinzu kommen zahllose Aktenordnern mit Vorgängen aus der Zeit. Die Arolsen Archives, eingerichtet von den alliierten Siegern nach Ende des 2. Weltkriegs, sind ein wichtiger Teil des Gedächtnisses der Nation. Die Archivmanager nennen es „ein Denkmal aus Papier“.

Man könnte auch sagen: Sie sind das schlechte Gewissen.

Nicole DOMINICUS ist Referatsleiterin, zuständig für die Bestände und ihre Pflege. Sie legt uns eine  Akte hin und schlägt sie auf. Der Umfang: Eher dünn. 28 Fotos und ihre englischsprachigen Beschreibungen stellen den Inhalt dar. Alle genormt, 10 mal 13 Zentimeter im Format, und durchnummeriert. Die Überschrift des Packens: „Photographs taken at Buchenwald Konzentration Lager Weimar, Germany April 1945“. Auf jeder Rückseite ist eine Unterschrift zu lesen. Es ist die von Rymond GIVENS, Ermittler und Oberstleutnant der US-Armee.  Der Vorgang heißt „Exhibit B-1“. „Exhibit B-1“ gehörten zu den ersten solcher Dokumentationen. Die Akte wurde 1945 als Geheimsache angelegt.

Nur eine Handvoll Ausfertigungen“  habe es gegegen, sagen sie in Arolsen. Auch: „Wir wissen wenig über die genaue Entstehung der Bilder und die Fotografen, geschweige von den Gefühlen der Überlebenden im Moment der Aufnahme“. Auch sei nicht mehr der Weg rekonstruierbar, auf dem die Fotos in das Archiv gelangen konnten. Im Bad Arolsen lagert „Set Nr. 5“. 

Die Fotos

Wir blättern Set Nr. 5 durch und sehen: Einen Lager-Lageplan. Eine Pritsche mit einem Häftling, dessen Bein verletzt ist, im Hintergrund die Schlafboxen 1-4. Häftlinge an einem Kanonenofen. Häftlinge auf einer Latrine. Häftlinge am Stacheldrahtzaun. Ärzte und Krankenpfleger vor einem bis auf die Knochen heruntergemagerten Patienten. Eine Lagerküche. Soldaten mit Häftlingen vor dem Lagertor. Drei befreite Kinder. Ihre Namen sind dokumentiert. Romek WAJSMANN mit der Häftlingsnummer 117 098, Janek SCHLEIFSTEIN, Nummer 116 543, und David PERLMUTTER, die 116 730.

Dann: Leichen. Verbrennungsöfen. Ein Folterbaum und ein Prügelbock - die „Lagerstrafen“ im KZ. Eine Bürolampe aus dem Raum des Lagerkommandanten. Bild 17 zeigt tätowierte  Menschenhaut. Bild 24, aufgenommen in der Pathologischen Abteilung des Lagers, zeigt zwei Schrumpfköpfe.

Die Bilder, die unmittelbar nach dem 11.April 1945 im Lager Buchenwald nahe Weimar in Thüringen aufgenommen wurden, „zeigen detailliert alle Grausamkeiten, auf die die US-amerikanischen Alliierten bei der Befreiung des Lagers gestoßen sind“. Es sind keine zufällig entstandenen Schnappschüsse aus oder nach dem Kriegsgeschehen. Sie sollten auch nicht der historischen Erinnerung dienen. Sie wurden zur Beweisführung gemacht. Es sind neben den beklemmenden Zeugenaussagen die papiernen juristischen Belege, mit denen die alliierten Richter in den Prozessen in Dachau und später Nürnberg die Menschenrechtsverbrechen der Nationalsozialisten nachweisen wollten und konnten.

So hat auch das Foto vom Operationssaal des ehemaligen SS-Reviers seine eigene strafrechtliche Bedeutung. Es stellt eben keine Grausamkeiten dar wie in den anderen Fällen, sondern dokumentiert, wie gut gerade die Ausstattung im medizischen Bereich war. Für die Prozessführung gegen die Nazi-Verbrecher war dies wichtig. „Die SS-Ärzte sorgten sich nicht um die Gesundheit der Häftlige. Vielmehr leisteten sie ihren Beitrag zur Selektion und zum Mord und führten medizinische Experimente durch“.   

Die Befreiung

Ein Zeitsprung zurück über 77 Jahre und sieben Monate.

Anfang April des letzten Kriegsjahres sind die 3. und die 6. amerikanische Armee bei ihrem unerwartet wiederstandsarmen Vormarsch nach Osten in Ohrdruf angekommen und durch Zufall auf ein KZ-Außenlager gestoßen. Die seit ihrer Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 kampferprobten Truppen stehen vor Bergen von Toten. Ein Schock. Ihre obersten Befehlshaber, die Generäle Dwight D. EISENHOWER, der spätere US-Präsident, und George S. PATTON, haben sich angemeldet, um diesen Kriegsschauplatz zu inspizieren, der ein Tatort ist:

Da schlägt bei den US-Offizieren ein Morsespruch auf. Die Absender scheinen sich irgendwo im noch von den Deutschen gehaltenen Gebiet weiter vorn aufzuhalten, und die Dringlichkeit zeigt, es sind Menschen in höchster Not.  „SOS. Man will uns evakuieren. Die SS will uns vernichten“. Die Amerikaner besprechen sich und morsen an die unbekannten Funker zurück: „KZ Buchenwald. Aushalten. Wir eilen zur Hilfe“.

Zwischen 1943 und 1945 stieg die Zahl der dauerhaft Inhaftierten in Buchenwald von rund 11.000 auf 110.000 an. Je näher das Kriegsende rückte, desto häufiger wurden Häftlinge aus Auschwitz oder Groß-Rosen hier hin gebracht. Buchenwald war kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka. Der Tod gehörte aber hier wie dort in den Alltag. 56 000 Menschen sind in den Jahren seit 1938 in Buchenwald bei Weimar umgebracht worden:Tausende sowjetische Kriegsgefangene wurden durch Genickschuss getötet. Kranke Häftlinge erhielten tödliche Spritzen direkt ins Herz. Andere wurden im "Krematorium" verbrannt. Seuchen und Erschöpfungen forderten weitere Opfer.

Anfang April 1945 sind 40.000 in Buchenwald eingesperrt. Die Nazis ahnen, was es bedeutet, wenn mit Buchenwald eines der ersten großen Konzentrationslager an der Westfront in Hände des Feindes fällt: Die Welt wird von der Massentötung durch die Deutschen eine genauere Kenntnis erhalten. Sie wollen die letzten Überlebenden, die Zeugen dieser Verbrechen, rechtzeitig beseitigen. Es gelingt ihnen, vom 7. April an 28 000 Insassen auf einen „Todesmarsch“ zu schicken - so, wie es auch anderswo geschieht. Von den noch über 700.000 Insassen aller Konzentrations- und Vernichtungslager zu Beginn des Jahres 1945 sterben 250.000 auf diesen Märschen. Jeder dritte „Marschierer“ kommt durch die enorme körperliche Schwächung ums Leben oder wird durch SS, Volkssturm oder Hitlerjugendverbände ermordet.

Das ist es, was die unbekannten Funker unter „evakuieren“ verstehen und was sie fürchten.

Der 11. April 1945. Einheiten der 4. und 6. Panzerdivision der 3. amerikanischen Armee rücken  vor. Lagerkommandant Hermann PISTER, Mitglied der SS-Totenkopfdivision, entscheidet sich zur Flucht, der eigenen und der der deutschen Bewacher. Kurz vor 10 Uhr werden die Lagerältesten Hans EIDEN, 43 Jahre alt, und Franz EICHHORN ans Tor bestellt. PISTER kündigt den Abzug der SS an. Die Sirene gibt das Signal „Feindalarm“, aus dem Lautsprecher tönt ein Befehl: „Sämtliche SS-Angehörige sofort aus dem Lager“.

Ein kleines Untergrundkomitee vornehmlich kommunistischer Insassen, aus deren Reihen wohl auch der SOS-Hilferuf an die Amerikaner erfolgt ist, verteilt unter seinen Angehörigen über die Zeit „gesammelte“  Waffen, etwa 100 Stück. Nordwestlich der Umzäunung vernimmt die Gruppe Infanterielärm. Aus der Richtung Hottelstedt nähern sich gegen 13 Uhr zwei Tanks der 4. amerikanischen Panzerdivision. Eine Stunde später überrollen US-Panzer den SS-Bereich des Lagers, ohne zu stoppen. Um 14.45 Uhr sammeln sich Widerstandskämpfer der Untergrundgruppierung auf dem Appellplatz von Buchenwald. Der Lagerälteste Hans EIDEN lässt eine weiße Fahne hissen und  informiert die Überlebenden über das Ende ihres Martyriums. Der Widerstand übernimmt für einige Stunden die Kontrolle und macht 76 Gefangene unter den noch verbliebenen deutschen Wachmannschaften. Um 17.10 betreten Captain Frederic KEFFER, Sergeant Herbert GOTTSCHALK, Sergeant Harry WARD und Private James HOYT von der US-Armee das Lager und werden als Befreier empfangen.

Der Auftrag

72 Stunden später rückt die 166th Signal Photo Company der Amerikaner an. Es sind spezielle Soldaten, ausgebildet an der Kamera, beauftragt, die Beweissicherung zur Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse vorzunehmen. Unter ihnen sind später bekannte Namen wie Donald R. ORNITZ und Adrian J. ROBERTSON, der 1947 die Echtheit der fortografischen Beweise vor Gericht beeiden muss. Die Bilder der Akte „Set 5“ von „Exhibit B-1“, heute in Arolsen lagernd, entstehen.

Menschenrechts-Verbrechen werden nur selten fotografisch dokumentiert, erst recht nicht durch die Opfer. In den Konzentrationslagern ist es in nur wenigen Fällen vorgekommen, dass Häftlinge heimlich Bilder anfertigen konnten. Der französische Dokumentarfilmer Christophe COGNET hat solche seltenen Momente aus den Lagern Auschwitz, Buchenwald, Dora-Mittelbau, Dachau und Ravensbrück gesammelt und sie in seinem Streifen „Blinden Schritts“ erst 2023 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Den alliierten Richtern der Kriegsverbrecher-Prozessen der 1940er Jahre waren sie gar nicht erschlossen.

Der Auftrag an die Signal Photo Company unterscheidet sich auch von dem der Amerikanerin Margret BOURKE-WHITE, die auch eine der ersten an diesem Tatort ist, aber für das privatwirtchaftliche Life-Magazin arbeitet (siehe aktives Foto oben!). Sie wird später sagen: „Die Kamera zu bedienen war fast eine Erleichterung. Es entstand eine schwache Barriere zwischen mir und dem bleichen Entsetzen, das ich vor mir hatte“. Oder auch von dem an  Alexander WORONZOW der am 27. Januar 1945 mit der Roten Armee in Auschwitz einrückte. Der Filmemacher drehte für das breite Publikum zu Hause in der von der Wehrmacht zerstörten Sowjetunion. „Was ich in Auschwitz gesehen und gefilmt habe, war das Schrecklichste, was ich während des ganzen Krieges je gesehen und aufgenommen habe“, wird Woronzow feststellen.   

Als die Militär-Fotografen zum Objektiv greifen, übernehmen in diesen Apriltagen überlebende KZ-Insassen, die noch ausreichend Kraft haben, die Statistenrollen. Sie stellen den Lager-Alltag nach und in einigen Fällen sogar die Rolle ihrer Peiniger. So demonstrieren sie den Fotografen, wie am Prügelbock gefoltert wurde. Der Unterschied: Jetzt übernehmen die Darstellung der Opfer mitgebrachte Gummipuppen.

Die Fotos aus Buchenwald schockieren, wie erwartet, die Welt. Auch die Deutschen sollen mit dem Schrecken konfrontiert werden. Der Befehlshaber der 3. US-Armee, George S. PATTON, befielt Weimarer Bürger auf den Ettersberg, wo Buchenwald angelegt wurde. Eine unbefangene und laut schwatzende Gruppe Mensch zieht den Berg hoch. Sie schweigt, als sie von dort herabsteigt. Es sind die Szenen, die am 19. April um den Globus gehen.

Einige Foltergeräte, die Menschenhaut-Lampen und die Schrumpfköpfe sind nach Berichten zunächst unter Verschluss geblieben, nach anderen wurden sie bereits am 16. April auf einem Tisch mit Präparaten der Pathologie präsentiert, als Material für den Prozess. Sicher ist: Der Ankläger Thomas J. DODD zeigte die Schrumpfköpfe - wahrscheinlich Leichenteile von zwei polnischen Lagerinsassen – auf Holzsockel montiert den Nürnberger Prozessbeteiligten 1947.

Der Gegenstand von Bild Nummer 17 der Arolsen-Akte, der Lampenschirm aus tätowierter Menschenhaut, war unmittelbar nach der Befreiung im Bereich der Lagerkommandantur sichergestellt worden. Er wurde später nicht mehr aufgefunden. Ein zweites, in der DDR ausgestelltes Exemplar wurde nach der Einheit als Fälschung eingestuft. Die Menschenhaut-Lampen von Buchenwald stellen bis heute wohl ein Mysterium dar.

Genau zwei Jahre nach der Befreiung, am 11. April 1947, begann im Internierungslager Dachau der Buchenwald-Hauptprozess gegen das Lagerpersonal. 31 Tatverdächtige kamen auf die Anklagebank. Die Bilder von Buchenwald spielten eine entscheidende Rolle in den nächsten vier Monaten der Verhandlung. 22 der Angeklagten wurden am 14. August 1947 zum Tode verurteilt. In fünf Fällen wurde die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. Lagerkommandant Hermann PISTER starb am 28. September 1948, bevor das Todesurteil gegen ihn vollstreckt werden konnte.

(DS)

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