Die potenziell kontaminierte Kabinenluft ist wohl die Achillesverse der Luftfahrt. Noch heute. Obwohl die Probleme seit rund 70 Jahren bekannt sind. So haben wir es in anderem Zusammenhang ausführlich rekonstruiert unter Kontaminierte Kabinenluft: Ein Gesundheitsproblem wird zu Gewissheit. Chronologie des aerotoxischen Syndroms. Das Problem der Wahrnehmung beginnt mit der Meldekette solcher Vorfälle.
1) Die lückenhafte Meldekette in der Luftfahrt
Mit „Fume“ muss nicht unbedingt Rauch gemeint sein. Man kann auch nicht immer etwas riechen. Es gibt Fume Events, bei denen Rauch und Nebel auftreten, und solche, bei denen es nur stinkt. Und es gibt wohl den häufigsten Fall einer permanenten Grundbelastung, die man erst nach langer Zeit bemerkt. Passagiere, z.B. Vielflieger, würden am wenigsten auf die Idee kommen, ein gesundheitliches Problem Monate oder Jahre später mit einem bestimmten Flug oder ständigem Fliegen in Verbindung zu bringen. Auch aus diesem Grund werden solche Vorfälle nirgendwo vollständig erfasst.
Andererseits ist dafür ein Meldeweg vorgesehen. Aber eine Absicht hilft nur, wenn sie wirklich erwünscht ist und umgesetzt wird.
Der offizielle Meldeweg beginnt bei dem, der für das Flugzeug und seine Insassen verantwortlich ist, beim Captain. Aber nicht jeder meldet einen solchen Vorfall – die Airlines sind „not amused“, wenn sie sich mit solchen Vorgängen konfrontiert sehen, die sie – eigentlich - weitermelden müssen. Und viele Piloten wissen auch wenig bis nichts darüber, haben manchmal das Glück, selten oder nie in eine solche Situation geraten zu sein. Oder haben es nicht bemerkt. Die Erfahrungsziffer 1:2.000 ist ein Durchschnittswert. Und hängt ab vom Flugzeugtyp, den Triebwerken und wie oft diese gewartet werden. Das ist von Airline zu Airline unterschiedlich. EasyJet beispielsweise tauscht und wartet seine Triebwerke häufiger als die Lufthansa. So hört man es aus der Branche. Und innerhalb des Lufthansa-Konzerns fliegen die ältesten und damit potenziell anfälligsten Maschinen unter dem Billiglabel Germanwings. Letzteres weiß man aus internen statistischen Daten der BFU, der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung in Braunschweig.
Das Kabinenpersonal, also die Flugbegleiter sind offiziell nicht befugt, derlei Meldungen an die Airline zu machen. Das wird in der Regel nur akzeptiert, wenn es sich um Vorfälle handelt, die nicht wegzuleugnen sind.
Was man wissen muss: Für das Flugpersonal, egal ob Piloten oder Cabin-Crew, ist Fliegen mehr als ein Beruf. Für sie bedeutet Fliegen ihr Leben, mit dem sie sich identifizieren. Die Menschen hängen an ihrem Job, sind totunglücklich, wenn sie nicht mehr in die Luft gehen können. Deswegen sind jene, die nicht mehr dürfen, weil sie nicht mehr können, also flugunfähig geworden sind, auch keine „Rentenjäger“, wie das sonst die Berufsgenossenschaften und die mit ihnen mehr oder weniger eng liierten Arbeitsmediziner regelmäßig jenen unterstellen, die eine Berufskrankheit anmelden.
Weil die Arbeitsverträge für das Flugpersonal meist so gefasst sind, dass mit der Flugunfähigkeit – etwa aufgrund eines heftigen Fume Events - automatisch die Kündigung verbunden ist, zögern fast alle, Meldung zu erstatten. Und wenn der Captain ein solches Fume Event (nur) ins Technische Logbuch einträgt, ist diese Information nur für die Wartungsmechaniker bestimmt. Der Arbeitgeber erfährt davon nichts. So ist bereits das erste Glied in der Meldekette mehr als brüchig.
Geht die Meldung doch an die BFU in Braunschweig, dann wird dort abgewogen, ob es sich um eine leichte oder „schwere Störung“ bzw. einen Unfall handelt. Fume Events gelten als „leichte Störung“, sind weder einer Veröffentlichung noch einer nennenswerten Ermittlung wert.
Selbst der Vorgang der Germanwings-Maschine vom 19. Dezember 2010, den wir oben skizziert haben und bei dem die beiden Piloten 20 Km vor dem touch-down auf dem Flughafen Köln/Bonn im Cockpit von einem heftigen Fume Event übermannt werden, das sie beide fast handlungsunfähig gemacht hatte, wurde von der BFU erst ein Jahr später untersucht. Als nicht mehr viel zu untersuchen war. Und auch nur, weil der Vorfall in einem Ausschuss des Deutschen Bundestags zur Sprache kam.
Die BFU jedenfalls gibt – gegebenenfalls – Informationen an das Luftfahrtbundesamt (LBA) weiter, das dem Verkehrsministerium untersteht. Das LBA gibt dann - gegebenenfalls - Informationen an die EASA, die europäische Luftaufsichtsbehörde, weiter.
Wie stark die Zahlen über Fume-Event-Vorkommnisse auseinanderfallen, findet sich bei uns unter „Incidents“ – Vorfälle, die meist nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen: Redakteure des WDR hatten für das Jahre 2008 insgesamt 121 Fume Events rekonstruieren können. Bei der internen BFU-Statistik waren nur 56 gelistet. Und beim Luftfahrtbundesamt waren davon nur 10 angekommen. Die EASA hatte den Wert 0 statistisch erfasst. Diese offiziellen Zahlen für BFU, LBA und EASA hatte die Bundesregierung im Bundestag selbst genannt . Wer sich einen Eindruck von der Häufigkeit kritischer Vorfälle verschaffen möchte, der kann dies auf der Website des Aviation Herald tun: http://www.avherald.com/.
Mit den amtlichen Zahlen werden nicht nur die Öffentlichkeit getäuscht, es werden auch die Mitglieder des Parlaments regelmäßig mit geschönten Zahlen befriedet.
So weiß denn niemand genau, welches Ausmaß dieses Problem tatsächlich hat.