Der Fall Ph.G.: 11 Gutachter und 30 Gutachten in 36 Jahren. Negativ ausgegangen im Dezember 2018, 1. Instanz

Unter den 409 hessischen Dachdeckern, die Ende der 70er Jahre auf 88 Baustellen arbeiten und dabei gewellte Asbestzementplatten flexen, misst der Arbeitsmediziner Prof. Dr. med. Hans-Joachim WOITOWITZ, Uni Gießen, eine extrem hohe Asbeststaubbelastung: zwischen 30 und 60 Millionen Asbestfasern pro  Kubikmeter eingeatmeter Luft. Die MAK-Kommission, in die WOITOWITZ gerade berufen wurde, hat auf seine Anregung hin den Grenzwert auf 2 Millionen Fasern/m3 festgesetzt – mit dem Ziel, diesen nach und nach herunter zu setzen – stufenweise mit Rücksicht auf die boomende und die sich dagegen wehrende Asbestindustrie.

In dem Untersuchungssample befindet sich auch Ph.G., 48 Jahre alt.

Vier Jahre später muss sich der nunmehr 52jährige Dachdecker ins Krankenhaus begeben; es geht im sehr schlecht: ein Bronchialkarzinom. Ph. G. stirbt, noch bevor ihn WOITOWITZ nochmals untersuchen kann.

Die BG Bau beauftragt einen ihrer bewährten Gutachter, Gutachter Nr. 1. Dessen Einschätzung: eine „schicksalshafte Erkrankung“.

Auch ihr Gutachter Nr.2 bestätigt das.

WOITOWITZ als Nr. 3 kommt zu einem anderen Ergebnis und spricht von einem Zusammenhang mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“ – er hat mit seinem Team ja selbst die extreme Exposition gemessen. Weil diese Einschätzung der BG nicht gefällt, beauftragt sie mit Nr. 4 einen, der bekanntermaßen mit den BGen eng zusammenarbeitet: kein Zusammenhang zwischen Asbeststaubbelastung und Lungenkrebs.

Die BG lehnt ab; weil „nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, daß der während der versicherten Tätigkeit entstandene Asbeststaub auf die Lunge eingewirkt habe.“ Zu diesem Zeitpunkt sind bereits 2 Jahre ins Land gegangen – die BG spielt auf Zeit; Motto: Irgendwann wird auch die Witwe das Zeitliche segnen.

Die Witwe klagt, die BG fährt erneut einen ihr genehmen Gutachter Nummero 5 auf, der schon im sog. Holzschutzmittelprozess im Interesse der Industrie ausgesagt hatte. Hinweis: der Grundstoff „PCP“ wurde kurz darauf, 1989,  verboten.

Egal wie: Sicherheitshalber beauftragt die BG auch gleich Nr. 6, der ebenfalls abschlägig bescheidet. Erst mit Nr. 7, der im Jahr 11 tätig wird, spielt die Asbeststaubbelastung wieder eine Rolle. Die offene Frage: in welcher Höhe bzw. Dosis.

So geht es hin und her und her und hin. Erwartungsgemäß stirbt die Witwe – im 16. Jahr nach Antragstellung einer Witwenrente. Die Tochter will das alles nicht akzeptieren, denn sie musste ihre Mutter, die von ganzen 250 Euro und ihren 4 Kühen leben musste, finanziell unterstützen – der Dachdecker hatte ja nichteinmal das Rentenalter erreicht.

Nach Nr. 7 folgt bekanntlich Nr. 8, undsoweiter und so fort. Die BG tut alles, um eine nachträgliche Zahlung zu vermeiden, denn jetzt geht es um die Höhe der Asbeststaub-Belastung.

Gutachter Nr. 6 spricht von „14“ sogenannten „Faserjahren“, „21“ hat der BG-eigene Technische Außendienst ermittelt, Gutachter Nr. 3 errechnet  „40“, Nr. 9 kommt auf „31,6“ Faserjahre. Nur bei Erreichen der „25“ ist die BG zur Zahlung verpflichtet.

Weil nach soundsoviel Jahren en Detail nicht mehr hundertprozentig geklärt werden kann, wieviele Stunden der Dachdecker geflext und wieviele auf dem Dach verbracht hat, gereicht dies zum Vorteil für die BG. Sie hat seit Jahren in aller Stille Tabellen zusammengestellt.

Die Richter an den Sozialgerichten folgen diesen Werten gerne – es ist auf diese Weise sehr viel einfacher, ein eindeutiges Urteil aufgrund (angeblich) unzureichender Beweislage zu fällen. Und so geschieht es auch am 3. Dezember 2018 beim Sozialgericht Fulda in der ersten Instanz (Az: S 8 U 120/05) – nach 36 Jahren und 30 Gutachten.  

Ausführlich dargestellt unter www.ansTageslicht.de/36Jahre

(JL)