Die (vermeintliche) "Parität" im System der Gesetzlichen Unfallversicherung: eine Schimäre?

Theorie und Praxis sind immer dann zwei verschiedene Dinge, wenn beide Ebenen nicht miteinander abgeglichen werden. Wenn sich die Praxis anders darstellt als die Theorie, kann die Theorie nichts taugen. Allenfalls dazu, damit reale Probleme zu verbrämen.

Genau dies ist hier der Fall.

Die (politische) Theorie der "Parität" in der Gesetzlichen Unfallversicherung

Die sogenannte Parität, also die gleichberechtigte Stimmenverteilung in den formalen Gremien des GUV-Systems ist das, was immer wieder hervorgekramt wird, um von den realen Problemen abzulenken. Die gängige, aber absolut vordergründige Argumentation lautet: Weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Vorstand und der Mitgliederversammlung, aber auch im sog. Widerspruchs- bzw. Rentenausschuss gleichermaßen vertreten sind, herrsche dort Waffengleichheit. Bzw. würden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen ausgeglichen.

So die gängige Theorie.

Die reale Praxis sieht vollkommen anders aus. Und wer davon weiß, der versteht auch die wirklichen Probleme. Wer nur mit der formalen Paritäts-Theorie argumentiert, gibt zu erkennen, dass er nicht gut informiert ist - egal aus welchen Gründen, ob politisches Desinteresse oder einfach nur Bequemlichkeit.

Die (tägliche) Praxis der "Parität" in der Gesetzlichen Unfallversicherung

Das sind die Probleme, die sich hinter dem Schein einer "paritätischen" Besetzung der Gremien verbergen:

  • Problem der realen "Parität" Nr. 1: 

    In der Realität stoßen gedrillter Sachverstand und Know-how auf weniger Sachverstand und weniger Fachwissen aufeinander. Oft sogar auf Null-Wissen.
    Der gesamte BG- und DGUV-Apparat setzt sich aus Mitarbeitern zusammen, die letztlich ausschließlich von den Arbeitgebern der Wirtschaft bezahlt werden und die ihr berufliches Metier
    a) hauptamtlich und
    b) in der Regel schon längere Zeit betreuen und verwalten und über mehr faktisches und taktisches Wissen verfügen wie die Vertreter der Arbeitnehmerseite.
    Die Beschäftigten im System der GUV sind überdies in eigenen Ausbildungsstätten und Hochschulen ausgebildet - nicht in staatlichen und so gesehen unabhängigen Universitäten. Zum Beispiel bei der von der DGUV und letztlich den BGen finanzierten HGU: Hochschule der Deutschen Unfallversicherung in Bad Hersfeld und Hennef.
    Die Arbeitnehmervertreter in den "paritätisch" besetzten Gremien, die dann oft über Einzelfälle entscheiden müssen, haben eine solche gezielte Fachausbildung nicht.
    Dies ist das erste Problem struktureller Ungleichgewichte.
  • Problem der realen "Parität" Nr. 2:

    Als Vertreter der Arbeitnehmer fungieren oft Vertreter von Gewerkschaften oder Gewerkschaftsfunktionäre, die diesen Nebenjob eben nicht im Hauptberuf machen und in andere Tätigkeiten eingespannt sind.
    Wir haben das - im spezifischen Zusammenhang mit dem Problem der potenziell kontaminierten Kabinenluft in Flugzeugen - anhand der BG Verkehr analysiert.
    Der dortige Arbeitnehmervertreter, Wolfgang STEINBERG (SPD), der gleichzeitig Konzernbetriebsratsvorsitzender des weltweit größten Dienstleisters in Sachen Recycling und Wasserwirtschaft ist, übt weitere 14 (in Worten: vierzehn) Funktionen in anderen Aufsicht- und Verwaltungsräten und anderen Gremien aus. Mehr dazu unter Die Berufsgenossenschaft Verkehr. Oder: Wer nicht krank ist, kostet nichts.
    Wie man da inhaltlich geschulten und in der komplexen fachmedizinischen Materie versierten Fachleuten Paroli bieten kann, bleibt völlig schleierhaft.
  • Problem der realen "Parität" Nr. 3:

    Wegen der Probleme 1 und 2 sieht so die Realität in den Erledigungsausschüssen aus (oft auch als Rentenausschüsse bezeichnet) so aus:

    Reinhold KONSTANTY, ehemaliges Mitglied im Hauptvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und seinerzeit zuständig für Arbeitsschutz, berichtet uns heute dies: Eine solche Sitzung startet beispielsweise um 16 Uhr, oft erst beginnend mit Kaffee & Kuchen, Dann wird ein Rollwagen hereingeschoben, auf dem 82 Akten liegen. Der oder die BG-Vertreter kündigen an, dass man dafür wohl 2 bis 3 Stunden benötige und dann alles erledigt sei. 
    In jeder dieser Akte, die aus (sehr) viel Papier besteht, verbirgt sich ein einzelnes (in der Regel verzweifeltes) Schicksal. Denn wer nicht mehr arbeiten kann, obwohl er das möchte, sieht sich in der Regel nicht nur der finanziellen Existenz weitgehend beraubt, sondern auch seines sozialen Status und seiner Gesundheit ohnehin.
    180 Minuten dividiert durch 82 Fällle bedeutet: Für jedes Schicksal verbleibt zur Entscheidung 2 Minuten Zeit.  
    In einem TV-Beitrag des Formats "ZDFzoom" vom Januar 2019, der in Zusammenarbeit mit dem Portal buzzfeed entstand, "Krank durch Arbeit und keiner zahlt", kommt der Betriebsrat Gerhard POPP zu Wort, der bei der BG Holz und Metall in einem solchen Ausschuss sitzt. Er spricht von 50 Fällen in 3 Stunden.
    180 Minuten dividiert durch 50 macht immerhin eineinhalb Minuten mehr als im obigen Beispiel: 3 1/2 Minuten pro Schicksal.
    Auch das ein Problem struktureller Ungleichgewichte.

Anders gesagt: ungeschulten nebenberuflichen Vertretern der versicherten Arbeitnehmer stehen spezialisierte und geviewte Sachbearbeiter und/oder Abteilungsleiter gegenüber, die ihren Job im Hauptberuf machen. Und dabei die berufsgenossenschaftliche Institutionenphilosophie vertreten: möglichst wenig Ausgaben!

Mit diesen Informationen kann jeder die in der Überschrift enthaltene Frage selbst beantworten.

Hinweis:

Dieser Text lässt sich auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Paritaet.

(JL)

Der Text, den Sie hier lesen, gehört zum Themenkomplex

Krank durch Arbeit.

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Ebenso dazugehörig, aber an anderer Stelle bei uns platziert:

Alle diese Themenschwerpunkte bestehen aus mehreren (ausführlichen) Texten, die wir "Kapitel" nennen. Den gesamten Themenkomplex im Überblick können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/krankdurcharbeit.