Wer bei der Arbeit, beispielsweise als Maler, von der Leiter gefallen ist und sich dabei den Arm gebrochen hat, wird kaum Schwierigkeiten haben, den Zusammenhang zwischen Sturz bei der Arbeit und seinem gesundheitlichen Schaden zu beweisen. Wer aber durch eine Belastung mit Asbeststaub nach mehreren Jahren eine Asbestose, einen Mesotheliomkrebs oder einen Lungenkrebs bekommt, der hat genau diese Probleme: den ursächlichen Zusammenhang zu nachzuweisen. Und zwar im sogenannten Vollbeweis. Das ist oft einfach nicht mehr möglich. Aber trotzdem ist der Schaden da.
Nachweis-Problem Nr. 1:
Bei vielen beruflich verursachten Gesundheitsschäden, gerade bei Asbest, sind die Zeiträume zwischen der Belastung mit Asbeststaub und dem Ausbrechen der Krankheit sehr groß. Diese "Latenzzeit" kann 10, 20, 30 oder bis zu 40 Jahren betragen. Wer hat da noch detaillierte und beweiskräftige Unterlagen,
- bei welchem Arbeitgeber
- man bei welcher Tätigkeiten über den ganzen Tag
- wie oft in der Woche
- und wie lange in Stunden gerechnet
- und dabei in welcher "Dosis" bzw. Konzentration
man beispielsweise einer Asbeststaubbelastung ausgesetzt war?
Genau hier fangen die Probleme beim Nachweis der "Einwirkungskausalität" an.
Nachweis-Problem Nr. 2:
Wer in diesen vielen Jahren oder Jahrzehnten glaubwürdig nachweisen kann, dass er
- so gut wie nie Alkohol getrunken
- und eigentlich auch niemals geraucht hat,
- und ansonsten keinen weiteren Lastern gefrönt hat
hat schon einmal grundsätzlich bessere Karten. Denn dann ist bei der ersten Bewertung durch eine Berufsgenossenschaft und/oder einer späterern Begutachtung durch einen Mainstream-Arbeitsmediziner zumindest ein Gegenargument ausgeschlossen, dass die fragliche Krankheit auf andere Ursachen zurückgeführt werden kann. Dann muss man allerdings immer noch damit rechnen, dass Begründungen kommen wie jene, dass es sich um "eine schicksalshafte Erkrankung" handele, wenn der Gutachter keine oder keine ausreichende Einwirkungskausalität feststellt.
Nachweis-Problem Nr. 3:
In den meisten Fällen muss dieser Nachweis im "Vollbeweis" geführt werden. Konkret muss 1) die "haftungsbegründende" und danach dann 2) die "haftungsausfüllende" Kausalität nachgewiesen werden.
Was das bedeutet, erklären wir anhand einer Erläuterung durch das Sozialgericht Mannheim in einem Urteil aus dem Jahr 2006 (Az: S 11 U 489/00):
„Für die Anerkennung einer BK (Berufskrankheit) ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und einer schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsauslösende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Für die Beurteilung des Zusammenhangs zwischen versicherter Einwirkung und Erkrankung gilt bei einer Berufskrankheit ebenso wie beim Arbeitsunfall die Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach genügt abweichend von einer naturwissenschaftlich-philosophischen Kausalitätsbetrachtung nach der Bedingungs- und Äquivalenztheorie nicht jedes Glied in einer Ursachenkette, um die Verursachung zu bejahen, weil dies zu einem unendlichen Ursachenzusammenhang führt.
Als kausal und im Sozialrecht erheblich werden vielmehr nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Gesundheitsschaden und dessen Eintritt ‚wesentlich‘ beigetragen haben. Das heißt, dass nicht jeder Gesundheitsschaden, der durch ein Ereignis naturwissenschaftlich verursacht wird, im Sozialrecht als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit anerkannt wird, sondern nur derjenige, der ‚wesentlich‘ durch das Ereignis verursacht wurde. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76; 1, 150; 13,175).“
Dieses Urteil bzw. diese darin enthaltenden Erklärungen haben wir deshalb ausgewählt, weil wir anhand dieses Falles zeigen können, welch große Spielräume in den Bewertungen seitens der Gutachter und der Sozialgerichte enthalten sind. Im fraglichen Fall hatte das SG Mannheim die Anerkennung einer BK abgelehnt. Ebenso das daraufhin eingeschaltete Landessozialgericht (LSG). Weil dessen Richter einen formalen Fehler in der Prozessführung begangen hatten, war es dem Anwalt gelungen, vors Bundessozialgericht (BSG) zu ziehen. Hier hatten die Richter den Formfehler gesehen, das Verfahren wieder zurück an das LSG in Darmstadt verwiesen - versehen mit der Empfehlung, das Vorliegen einer BK doch noch mal zu prüfen.
Wenn Richter an einem LSG einen solchen Wink mit dem Zaunpfahl 'von oben' bekommen, bleibt ihnen nichts anderes übrig als zu reagieren. Und beauftragten den selben Gutachter, der zuvor auf Ablehnung plädiert hatte. Der konnte jetzt auf einmal eine BK erkennen. Und ebenso die Richter. Der Fall war gelaufen. Diesesmal positiv.
Wir haben dieses Fallbeispiel in einem etwas anderen Zusammenhang ausführlich dokumentiert: 1 Gutachter - 2 Meinungen: Prof. Dr. med. Stephan LETZEL.
Ein symptomatisches Fallbeispiel?