Die Landessozialrichter machen das, was sie immer machen. Auch sie ernennen einen Sachverständigen und bitten Prof. Dr. med. Johannes KONIETZKO von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz um fachlichen Beistand. KONIETZKO war erst knapp zwei Monate zuvor in öffentliche Kritik geraten. Prof. Johannes KONIETZKO hatte Jahre zuvor und dies in seiner Funktion als Mitglied des "Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten" beim Bundesminister für Arbeit ein "wissenschaftliches Merkblatt" im Zusammenhang mit der Berufskrankheit "BK 1317", auch "Malerkrankheit" genannt, abgefälscht. "Organisierte Falschdarstellung" hatte das der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert BLÜM (CDU) genannt (mehr unter "Organisierte Falschdarstellung". Organisierte Kriminalität?). Die Richter am Landessozialgericht scheint das nicht zu stören.
Sie bekommen ihren Gutachter dennoch nicht. KONIETZKO ist inzwischen im Ruhestand. Das Institut für Arbeitsmedizin scheint bei den Sozialrichtern offenbar hoch im Kurs zu stehen. Und so beauftragen sie dessen Nachfolger, Prof. Dr. med. Stephan LETZEL, einen Schüler der Erlanger VALENTIN-Schule.
LETZEL erstellt ein „Wissenschaftlich begründetes arbeitsmedizinisches Gutachten“ auf 25 Seiten, fasst die „Vorgeschichte nach Aktenlage“ zusammen, gibt die Feststellungen des Technischen Außendienstes (TAD) der BG Bau wieder, nach der Wolfgang E. „kontinuierlichen Umgang mit lösemittelhaltigen Produkten“ und dies vor allem „in geschlossenen Räumen“ gehabt habe, führt auch die dabei relevanten Gefahrstoffe Trichlorethylen, Benzol und Toluol auf und kommt dann auf S. 19 zu diesem Ergebnis:
„Eine Quantifizierung der verwendeten Mengen und/oder Schadstoffmessungen aus den speziellen Arbeitsbereichen des Herrn E. liegen nicht vor, sind retrospektiv auch nicht ohne weiteres mehr zu ermitteln. Unter denen im einzelnen aufgeführten Stoffen ist eine kanzerogene Potenz für den Menschen insbesondere von Teer, Bitumen, Trichlorethylen, Asbest und Benzol wissenschaftlich eindeutig belegt. Keiner dieser Stoffe hat jedoch die Leber als Zielorgan. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den diagnostizierten Lebererkrankungen und eine Exposition gegenüber diesen kanzerogenen Stoffen kann daher nicht wahrscheinlich gemacht werden.“
Und zusammenfassend auf Seite 23 nochmals:
„Bei den vorliegenden Angaben über die spezielle Expositionssituation kann jedoch aus arbeitsmedizinischer Sicht kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der bestandenen Lösemittelexposition und der Lebererkrankung wahrscheinlich gemacht werden. Die Anerkennung der Lebererkrankung von Herrn E. als Berufskrankheit können wir somit nicht empfehlen.“
Während Arbeitsmediziner Prof. LETZEL vom Gericht benannt wurde, beauftragt Witwe E. einen Gutachter eigener Wahl, den sie nach § 109 SGB selbst bezahlen muss: Prof. Dr. med. H.K. SEITZ, Chefarzt am Krankenhaus Salem in Heidelberg, einem „Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Heidelberg.“ Von ihm als Mitverfasser des Lehrbuchs „Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden“ erwartet sie zumindest, dass er die Behauptung widerlegt, dass das Leberkarzinom aufgrund von „Alkoholabusus“ entstanden ist.
Das Gutachten erweist sich als totaler Flop. Auch dieser Gutachter „gut“-achtet nur „nach Aktenlage“, interpretiert also nur die bisherigen Informationen.
Weder LETZEL noch SEITZ kommen auf die Idee, einen Fachmann der Bodenlegerbranche einzuschalten oder einen solchen zu empfehlen, der etwas genauer über die Arbeitsweise von Bodenlegern, die dabei benutzten Arbeitsstoffe und die typischen Expositionszeiten an einem durchschnittlichen Arbeitstag erzählen könnte. Denn dies ist das Manko aller bisherigen Gutachten: Der volle Kausalitätsbeweis lässt sich mangels nachträglicher Rekonstruierbarkeit nicht eindeutig führen. Jedenfalls solange nicht, wie man sich nicht die Mühe macht, möglichst viel trotz aller schwierigen Umstände zu rekonstruieren, was noch rekonstruierbar ist. Um dann die Wahrscheinlichkeit von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch dem Umfang nach besser einschätzen zu können.
Rechtsanwalt Hans-Joachim DOHMEIER hat an den eigenen Gutachter SEITZ viele detaillierte Fragen. Denn vieles ist vage und ausgesprochen diffus beschrieben, vieles unklar oder ungenau zitiert. DOHMEIER’s Fragenkatalog kann als Musterbeispiel dafür gelten, in welchem Umfang und vor allem in welcher Tiefe man in arbeitsmedizinische Gutachten einsteigen muss, um Inkonsistenzen, Widersprüche und eigentlich absolut Unbrauchbares zu identifizieren. Wir hinterlegen deshalb seine Fragen hinter diesem Link Was kann man tun? als Hinweis für andere, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.
Gutachter SEITZ ziert sich. Will sich den Fragen nicht stellen. Trotz Aufforderung durch das Gericht. Die Richter am Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart lassen es durchgehen. Prof. Dr. med. K.H. SEITZ muss nicht erscheinen, keine Antworten geben.
Dem Antrag von Hans-Joachim DOHMEIER, ein „arbeitstechnisches Gutachten“ einzuholen, also das eines Malers oder Bodenlegers, der in Kenntnis des typischen Arbeitsalltags erklären kann, welchen Schadstoffbelastungen („Expositionen“) ein Bodenleger üblicherweise ausgesetzt ist, also unterhalb oder oberhalb geltender Grenzwerte, lehnen die Richter ab. Begründung: Der von ihnen beauftragte Gutachter LETZEL sei bereits von einer „relevanten Schadstoffexposition“ ausgegangen, dessen genaue Expositionshöhe aber nicht mehr feststellbar sei.
Urteil: Ablehnung der Berufung (LSG Baden-Württemberg: Az L 6 U 4712/02 v. 6.4.2006).
Da die Richter am Landessozialgericht aber in ihrer ablehnenden Begründung ausgeführt hatten, dass eine toxische Schädigung der Leber „eine sehr hohe, regelmäßig über den Grenzwerten liegende Exposition voraussetzen“ würde, die ja aber „nicht nachgewiesen ist und im Nachhinein auch nicht mehr ermittelt werden kann“, begeben sie sich in eine Falle: Weil sie genau dieser Frage nicht nachgehen wollen, beruht das Urteil auf einer „unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung“. Nämlich auf einer, über die ein Beweis gar nicht erhoben worden ist.