Risikoverdoppelung

Wir hatten Prof. Hans DREXLER dies gefragt:

Sie hatten in einem spezifischen Fall eines Harnblasenkrebses ein Gutachten für die BGHM erstellt. Dieses GA lief bei Ihnen unter der Registriernummer 2083/7148 Wei./Ga.

Eines Ihrer Argumente, die beantragte BK abzulehnen, bezog sich auf das von Ihnen reklamierte fehlende Erfordernis einer "Risikoverdoppelung". Im Urteil des Hessischen LSG, Az L 3 U 48/13 v. 2.4.2019, ist die Rede davon, dass eine Risikoverdoppelung "nicht dem allgemeinen Erkenntnisstand" entspreche (gegensätzlich zur Auffassung des vorangegangenen SG Ffm).

Frage: Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Einschätzung?

Prof. DREXLER's Antwort bzw. Erklärung:

"Wenn eine Einwirkung im Sinne einer Berufskrankheit (z.B. BK 1301) nicht gesichert ist, dann hat der Gutachter zu prüfen, ob die Voraussetzungen zur Anerkennung einer Krankheit wie eine Berufskrankheit (Quasi-BK) nach §9(2) SGB VII vorliegen. in diesem Fall hat der GA zu prüfen, ob für die Erkrankung oder in einer Berufsgruppe ein deutlich erhöhtes Risiko durch den beruflichen Einfluss (2 und größer) wissenschaftlich gesichert ist. Der GA hat also  die  gleichen Beweisanforderungen wie der ÄSVB beim BMAS zu erbringen.

Das von Ihnen zitierte Urteil ist mir bekannt und erwähne ich stets, wenn es  um die Frage der Wesentlichkeit geht."

Und ansonsten könne er "auf konkrete Gutachtenentscheidungen nicht eingehen", da er sonst "personenbezogene Daten preisgeben müsste, was nicht nur gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen würde."


Prof. DREXLER hat uns weitere Hinweise dazu gegeben, wie er sich selbst in dieser Debatte um die "Risikoverdoppelung" sieht und wir er mit diesem Thema in seiner Begutachtung umgeht. Wir zitieren diese Anmerkungen hier vollständig inkl. seiner Literaturhinweise:

"Die Problematik der Expositionsabschätzung bei Vorliegen eines fraglich berufsbedingten Harnblasenkarzinoms war Gegenstand eines Symposiums am 27. Februar 2007 zum Thema "Berufskrankheiten durch aromatische Amine" in Hennef, das vom Berufsgenossenschaftlichen Institut für Arbeitsschutz (BGIA) veranstaltet worden war.

Herr Weiß vom Forschungsinstitut für Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (BGFA) stellte sein Konzept „Dosismaß als Hilfestellung zur gutachterlichen Beurteilung einer BK 1301“ vor. Es stützt sich auf die epidemiologischen Ergebnisse zum Harnblasenkarzinomrisiko durch Tabakrauchen unter der Annahme, dass das Krebsrisiko in dieser Lokalisation ausschließlich den aromatischen Aminen zuzuschreiben ist.

Unter Verwendung von Daten aus Tiermodellen wurde versucht das kanzerogene Potential verschiedener aromatischer Amine in Relation zu setzen. Unter diesen Annahmen kommen Weiß und Brüning (BGFA) zu der Schlussfolgerung, dass bei einer Grenzdosis von 6 mg 2-Naphthylamin bzw. äquivalenten Expositionen mit anderen aromatischen Aminen (z.B. bei ortho(o)-Toluidin 30.000 mg) ein Verdoppelungsrisiko für Harnblasenkarzinome beim Menschen bestünde. Die Kritikpunkte an diesem Konzept, die auch von den Autoren eingeräumt wurden, sind folgende:

  1. Beim Tabakrauch handelt es sich um ein heterogenes Stoffgemisch. Rein formal würde zwar die Reduktion der potentiellen Kanzerogene im Tabakrauch auf einige wenige bekannte aromatische Amine zu einer erheblichen Risikoüberschätzung des Harnblasenkarzinoms, das von den aromatischen Aminen ausgeht, führen, was eine erleichterte Anerkennung von beruflich bedingten Harnblasenkarzinomen zur Folge hätte. Andererseits wird jedoch nicht berücksichtigt, dass auch antagonistische Effekte bei Belastung mit Tabakrauch von Bedeutung sein könnten (Enzyminduktion mit schnellerer Entgiftung, forcierte Apoptose, d.h. das Absterben von transformierten Zellen durch Einwirkung multipler Karzinogene usw.), und dass der Aufnahmeweg (ausschließlich inhalativ) ein anderer ist.
  2. Generell problematisch ist die Übertragung von Ergebnissen aus Tierversuchen auf den Menschen, um die unterschiedliche kanzerogene Potenz von Stoffen zu quantifizieren. Zwar steht außer Frage, dass die einkernigen aromatischen Amine (z.B. o-Toluidin) eine geringere kanzerogene Potenz aufweisen als die zweikernigen (z.B. 2-Naphthylamin, 4-Aminobiphenyl). Folgt man den Berechnungen von Weiß und Brüning, ist die kanzerogene Potenz von 4-Aminobiphenyl 25.000fach höher und die von 2-Naphthylamin 5.000fach höher als die von o-Toluidin. Diesen Überlegungen zur Folge würde eine Verdoppelung des Harnblasenkrebsrisikos nach 25jähriger Exposition (8 Stunden täglich, 40 Stunden wöchentlich) gegenüber einer Konzentration von o-Toluidin von 500 µg/m3 eintreten. Unter diesen Annahmen, wären jedoch die von Ward et al. (1991, 1996) beschriebenen erhöhten Inzidenzraten von Harnblasenkarzinomen in der Gummiindustrie nicht erklärbar. Demzufolge erscheinen die aus den Tierversuchen abgeleiteten Risikoverhältnisse unzutreffend.
  3. Die Diskussion um das Verdoppelungsrisiko, an einem durch aromatische Amine induzierten Harnblasenkrebs zu erkranken, erscheint ohnehin von untergeordneter Bedeutung zu sein, da es sich beim Harnblasenkarzinom durch aromatische Amine um eine Listenposition der Berufskrankheitenliste handelt. Die Feststellung der Gruppentypik, d.h., ob durch die berufliche Exposition eine bestimmte Personengruppe in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung betroffen ist, ist die Aufgabe des Sachverständigenbeirates des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), wenn entschieden werden muss, ob eine neue Krankheit in die Berufskrankheitenliste aufgenommen werden soll. Im Falle der Anerkennung einer Erkrankung nach § 9, Abs. 2, SGB VII hat der Gutachter im Einzelfall ebenfalls diese Diskussion zu führen. Bei Krankheiten, die in der Berufskrankheitenliste aufgeführt sind, muss die Gruppentypik bei der Begutachtung als gegeben betrachtet werden und es ist im Individualfall abzuwägen, ob die beruflichen Einflüsse als so wesentlich zu betrachten sind, dass die zur Diskussion stehende Erkrankung durch die beruflichen Einflüsse verursacht oder wesentlich mitverursacht wurde. Im Sozialrecht hat der Gutachter die Theorie der wesentlichen Bedingung bei der Beurteilung der Kausalität zugrunde zu legen. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" (= 50% Verursachungswahrscheinlichkeit, entspricht der Risikoverdoppelung) oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben) (BSG, Urteil vom 27.6.2006 – B 2 U 13/05 R). Eine allgemein verbindliche Konvention kann einen Beitrag zur Gleichbehandlung aller Versicherten liefern. Solange es für die Erkrankung an einem Harnblasenkarzinom jedoch keine allgemein verbindliche Konvention gibt, bleibt die Risikoabschätzung im Einzelfall im Verantwortungsbereich des medizinischen Gutachters.
  4. Bei der Berechnung der so genannten Verdoppelungsdosis von 6 mg (Summe 2-Naphthylamin und 4-Aminobiphenyl) müsste auch das 95% Konfidenzintervall betrachtet werden, das, gestützt auf eine von Weiß demonstrierte Präsentation, mit 2 bis 12 mg geschätzt werden kann.

Ein anderes Vorgehen hat Herr Bolm-Audorff (Staatlicher Gewerbearzt und Mitglied des ärztlichen Sachverständigenbeirats, Sektion „Berufskrankheiten“ des BMAS) vorgeschlagen. Bei Einhaltung bestimmter Rahmenbedingungen sieht er den inneren Zusammenhang als erfüllt an, wenn 2-Naphthylamin in der Luft oberhalb der Bestimmungsgrenze gemessen werden konnte. Beim Vorhandensein persönlicher Risikofaktoren (hoher inhalativer Tabakkonsum, chronischer Phenacetinmissbrauch, chronische Zystitis), fordert er eine höhere Einwirkungsdosis für die Anerkennung als Berufskrankheit.

In seinen Ausführungen verwies er zunächst darauf, dass ein erhöhtes Harnblasenkrebsrisiko in der Gummiindustrie konsistent von unterschiedlichen Arbeitsgruppen belegt worden sei. Da die Harnblasenkarzinome auch bei Personen, die nach 1960 eingestellt worden waren, auftraten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass allein 2-Naphthylamin als Kanzerogen für die Harnblase verantwortlich wäre. Würde man den inneren Zusammenhang nur an einer Exposition gegenüber 2-Naphthylamin definieren, so würde das vom o-Toluidin ausgehende Krebsrisiko nach dieser Betrachtung völlig negiert werden.

Wir bewerten das Vorhandensein von persönlichen Risikofaktoren (s.o.) anders als Bolm-Audorff. Bei Vorhandensein außerberuflicher Risikofaktoren bei beruflich exponierten Personen ist stets ein erheblich höheres Grundrisiko anzunehmen, an einem Harnblasenkarzinom zu erkranken, als bei Personen ohne Risikofaktoren. Auch bei beruflicher Exposition gegenüber Asbest und gleichzeitigem Tabakkonsum wird das Lungenkrebsrisiko überadditiv gesteigert. Dennoch gilt die kumulative Asbestfaserstaub-Dosis von 25 Faserjahren sowohl für Raucher als auch für Nichtraucher. Solange eine derartige, durch Konvention festzulegende Dosis für aromatische Amine jedoch nicht formuliert ist, muss davon ausgegangen werden, dass das Vorhandensein persönlicher Risikofaktoren bei gleicher Expositionshöhe mehr für als gegen das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Nr. 1301 der BKV spricht. Bei fehlender hinreichend hoher Exposition ist der Gutachter nicht aufgefordert, im Sinne einer Beweislastumkehr, außerberufliche Ursachen eines Malignoms zu belegen.

Unter Berücksichtigung der kontroversen Diskussion gehen wir von folgenden Voraussetzungen für die Anerkennung eines Harnblasenkarzinoms als Berufskrankheit nach der Nr. 1301 der BKV aus. o-Toluidin ist ein Humankanzerogen, das sehr gut perkutan aufgenommen wird und wogegen in der Gummiindustrie bis in die Gegenwart hinein Arbeitnehmer exponiert sind (Korinth et al. 2006). Die gute Hautgängigkeit und der relativ geringe Dampfdruck (0,18 mbar) dieser Verbindung schränkt die Aussagekraft alleiniger Luftmessungen ein. Erhöhte Raten von Harnblasenkarzinomen in der Gummiindustrie sind in mehreren Ländern (Ward et al. 1991; Sorahan et al. 2000) konsistent gesichert worden und 2-Naphthylamin kann nicht die alleinige Ursache dafür sein. Auch eine Coexposition gegenüber N-Phenyl-2-naphthylamin kann die erhöhte Inzidenz an Harnblasenkarzinomen in der Gummiindustrie alleine nicht erklären. Bei der Begutachtung von Harnblasenkarzinomen zur Abklärung der beruflichen Verursachung ist eine Quantifizierung der Exposition von größter Bedeutung. Die Allgemeinbevölkerung ist gegenüber aromatischen Aminen ubiquitär exponiert, so dass der alleinige Nachweis einer Exposition nicht belegen kann, dass ein Harnblasenkarzinom durch die beruflichen Einflüsse wesentlich mitverursacht wurde. Auch wenn die Risikoverdoppelung bei der Individualbetrachtung nicht von wesentlicher Bedeutung ist, da die Gruppentypik mit Aufnahme in die Berufskrankheitenliste bereits bestätigt ist, erscheint eine derartige quantitative Betrachtung des Risikos sinnvoll und wichtig. Trotz aller Probleme, die sich beim Vergleich mit dem Tabakkonsum ergeben, scheint dies derzeit der sinnvollste Weg zu sein, da entsprechende Expositionsdaten, insbesondere solche, die auch die Hautresorption gesondert berücksichtigen, nicht vorhanden sind und in absehbarer Zukunft wohl auch nicht zur Verfügung stehen werden.

In Kenntnis der zugrundeliegenden Literatur und den Berechnungen von Weiß und Brüning gehen wir davon aus, dass der innere Zusammenhang prinzipiell dann erfüllt ist, wenn die kumulative Exposition gegenüber aromatischen Aminen den mg-Bereich erreicht. Beim o-Toluidin ist allerdings der Vergleich mit der von Ward et al. (1991, 1996) beschriebenen Exposition unter Arbeitsplatzbedingungen zu bevorzugen. Wird der innere Zusammenhang als gesichert betrachtet, sind individuelle Gegebenheiten zu prüfen, die entweder für oder gegen das Vorliegen einer Berufskrankheit sprechen. Bei gesicherter medizinischer Diagnose von Schleimhautveränderungen, Krebs oder anderer Neubildungen im Bereich der Harnblase oder der harnableitenden Wege und bei Feststellung einer Exposition gegenüber kanzerogenen aromatischen Aminen in relevanter Höhe, sprechen für eine berufliche Genese eines Harnblasenkarzinoms insbesondere:

  • eine Manifestation des Harnblasenkarzinoms nach mehr als 10 Jahren nach Erstkontakt und weniger als 25 Jahren nach letztem beruflichem Kontakt.
  • ein vorverlegter Erkrankungszeitpunkt im Vergleich zu der Allgemeinbevölkerung.
  • rezidivierendes oder multilokuläres Auftreten des Harnblasenkarzinoms.
  • der Status eines phänotypischen Langsamacetylieres.
  • das Vorhandensein persönlicher Risiken (u.a. Rauchen, Einnahme Harnblasenkrebs verursachender Medikamente, Mehrfachtumore, Zystitis).

Alle diese Argumente müssen auf individueller Basis abgewogen und in der Gesamtschau bewertet werden. Es ist jedoch nicht zu fordern, dass für die Anerkennung einer BK nach der Nr. 1301 der BKV alle Punkte erfüllt sein müssen."

Literatur:

BGA-Symposium aromatische Amine am 27. 02.2007 in Hennef.

Korinth G, Weiss T, Penkert S, Schaller KH, Angerer J, Drexler H:

Percutaneous absorption of aromatic amines in rubber industry workers: impact of impaired skin and skin barrier creams.

Occup Environ Med 2007; 64: 366–372. 

Sorahan T, Hamilton L, Jackson JR:

A further cohort study of workers employed at a factory manufacturing chemicals for the rubber industry, with special reference to the chemicals 2-mercaptobenzothiazole (MBT), aniline, phenyl-beta-naphthylamine and o-toluidine.

Occup Environ Med 2000; 57: 106–115. 

Ward E, Carpenter A, Markowitz S, Roberts D, Halperin W:

Excess number of bladder cancers in workers exposed to ortho-toluidine and aniline.

J Natl Cancer Inst 1991; 83: 501–506. 

Ward EM, Sabbioni G, DeBord DG, Teass AW, Brown KK, Talaska GG, Roberts DR, Ruder AM, Streicher RP:

Monitoring of aromatic amine exposures in workers at a chemical plant with a known bladder cancer excess.

J Natl Cancer Inst 1996; 88: 1046–1052. 

 

Ergänzungen unsererseits dazu:

Auf die grundsätzliche Kritik der Forschung und der publizierten Ergebnisse des IPA-Instituts bzw. der Herren BRÜNING und WEISS sind wir bereits dezidiert im Haupttext eingegangen, als wir sowohl deren Methodik als auch die Kritik anderer Arbeitsmediziner an deren Vorgehen dokumentiert haben (siehe Abschnitte: a) Wie die herrschende Meinung zu Benzol & Co praktiziert wird sowie b) ..."kardinaler Mangel des Denkansatzes", ... "wissenschaftlich nicht haltbar", ...). DREXLER teilt diese Kritik teilweise. 


Hinweis:

Das Thema Aromatische Amine, Harnblasenkrebs, Risikoverdoppelung ist für Prof. DREXLER offenbar immer noch ein Thema. Er hat in seinem Erlanger Institut IPASUM am 5. März 2021 einen Online-Workshop veranstaltet. Thema: "Erarbeitung einer Expositionsabschätzung für das Harnblasenkrebsrisiko durch aromatische Amine und Einschätzung der Auswirkung der Erkrankung Harnblasenkrebs auf die Erwerbstätigkeit."

Das Programm und die Vortragenden (inkl. Prof. BRÜNUNG und T. WEIß) sind hier nachzulesen.

Der Text, den Sie hier lesen, gehört zum Themenkomplex

Krank durch Arbeit.

Weitere Bestandteile sind diese Themenschwerpunkte:

Ebenso dazugehörig, aber an anderer Stelle bei uns platziert:

Alle diese Themenschwerpunkte bestehen aus mehreren (ausführlichen) Texten, die wir "Kapitel" nennen. Den gesamten Themenkomplex im Überblick können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/krankdurcharbeit.