Interview mit Gangolf STOCKER

″So lassen wir uns von denen nicht mehr behandeln″


Interview mit Gangolf STOCKER, Sprecher der Bürgerinitiative "Leben in Stuttgart - Kein Stuttgart 21" und Künstler (Maler), über den kontinuierlichen Widerstand gegen Stuttgart 21, die Polizeiaggression am 30. September im Schloßpark und die Bilanz der Schlichtung.

Wenn du heute zurückblickst auf eineinhalb Jahrzehnte Arbeit gegen Stuttgart 21 – hast du jemals daran gedacht, dass die S21-Befürworter ihr Ding so durchziehen würden und dass die Gegnerinnen und Gegner von S21 so stark werden könnten?

Gangolf STOCKER: Dass die ihr Projekt so durchziehen, wie sie es heute tun – das war vorstellbar. Doch das, was wir da ausgelöst haben, das hätten wir niemals zu träumen gewagt. Und wenn jemand von uns so etwas geträumt und das anderen mitgeteilt hätte, dann hätte man dem den Gang zum Psychiater nahegelegt. Übrigens völlig zu Recht.

Die ″Financial Times Deutschland″ brachte am 23. August 2010 ein Porträt von dir unter der Überschrift: ″Von Beruf Widerständler″. Das bezog sich natürlich vor allem auf Stuttgart 21. Gibt es da einen roten Faden in deinem Leben oder begann alles mit Stuttgart 21?

Gangolf STOCKER: Die CDU und ihr Generalsekretär STROBL hatten versucht, den Protest gegen Stuttgart 21 dadurch zu schlechtzureden, dass sie sagten: Einer der Anführer des Protestes sei Kommunist und in der PDS gewesen. Er hat auch behauptet, ich sei Mitglied der französischen kommunistischen Gewerkschaft CGT. Das Letztere ist grotesk. Aber ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich Kommunist war, dass ich mehrere Jahre lang die PDS-Landesgeschäftsstelle geleitet habe. Diese Art, jemand in eine Schublade zu packen, das funktioniert heute nicht mehr.

Du warst lange Zeit Betriebsrat im Stuttgarter Thieme-Verlag.

Gangolf STOCKER: Ich war 23 Jahre lang in diesem Verlag beschäftigt. Als ich kam, gab es gar keinen Betriebsrat. Ich war der erste Betriebsratsvorsitzende. Insgesamt 13 Jahre lang. Die Bilanz, die ich heute dazu ziehe, ist allerdings eher gemischt. Wir waren zu sehr mit internen Debatten beschäftigt und hatten zu wenig Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen. Aber man lernt ja dazu. Dennoch stimmte natürlich die grundsätzliche Frontstellung: Von den 23 Jahren, die ich dort war, wollten die mich 22 Jahre lang loswerden. Am Ende ging ich mit einer Abfindung.

Wann wurde S21 Teil Deiner politischen Arbeit?

Gangolf STOCKER: Als Stuttgarter und als politisch aktiver Mensch nahm ich Stuttgart 21 natürlich bereits 1994 wahr, als das Projekt unter anderem von Heinz Dürr, dem damaligen Bahnchef, vorgestellt wurde. Doch in diesem Jahr spielte das zumindest in der Debatte von Linken und Grünen noch keine allzu große Rolle. Dann erschien 1995 ein kleines Buch von Winfried WOLF zu dem Thema.Es gab eine Veranstaltung mit dem Autor zu Stuttgart 21, an der rund 40 Leute teilnahmen. Wenige Tage später trafen sich ein paar Leute, die an der Veranstaltung teilgenommen hatten und die bereit waren, konsequent an diesem Thema zu arbeiten. Im November 1995 gründeten wir die Initiative ″Leben in Stuttgart – Kein Stuttgart 21″.

Zwischen 1995 und 1997 haben wir viel Arbeit darauf verwandt, die Leute über Stuttgart 21 intensiv zu informieren. Das Ergebnis: Die Stuttgarterinnen und Stuttgarter wissen mehr über das Projekt wie die Entscheider. Und wenn jemand etwas weiß, dann kann man dem nicht mehr mit billigen Werbesprüchen kommen. Das führte dazu, dass der Protest stabil war. OETTINGER sagte ja mehrmals: ″Widerstand ist zwecklos″. Doch der Widerstand wuchs. Er bezog aufgrund seines Charakters – wir nannten das ″friedlich, freundlich, kulturvoll″ - neue Bevölkerungsschichten mit ein, die in ihrem ganzen Leben noch nie demonstriert hatten. So die viel zitierten Menschen aus der Stuttgarter Halbhöhenlage. Es entstand eine Dynamik, bei der viele Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Der entscheidende Faktor ist: Man hat zu lange – über Jahrzehnte hinweg – geduldet, dass die da oben immer selbstherrlicher wurden, dass die immer weniger auf die Bevölkerung hörten und dass sie die Bevölkerung vor allem für blöd hielten. Das mögen die Leute nicht, wenn sie merken, dass sie für blöd gehalten werden. Dabei geht es nicht um Stuttgart 21 allein. Das steht für mehr. Das ist typisch – auch für viele andere Städte und Regionen.

In Zeitungen und elektronischen Medien heißt es: Warum kommen die erst jetzt mit ihrer Kritik?

Gangolf STOCKER: Draußen im Land kommt das tatsächlich so an. Da wusste man vor drei, vier Jahren ja noch nicht einmal, um was es bei Stuttgart 21 geht. Da sieht es so aus, als kämen die jetzt erst, wo man anfängt zu bauen. Aber die, die in Stuttgart leben, wissen, dass wir seit 15 Jahren über S21 informieren. Wir haben auch 1996 schon 15.000 Unterschriften unter einen Bürgerantrag gesammelt. Das wurde weitgehend ignoriert. Wir hatten auch immer das schwere Leben einer Initiative, die die Presse intensiv bekämpfte: durch Ignorieren und miese Kommentare. Das änderte sich 2007 – unter anderen durch unsere zweite Unterschriftensammlung. Jetzt veröffentlichten die zwei Tageszeitungen auch Dinge, die man bisher unter der Decke hielt. Ein Beispiel: 2007 wurde bekannt, dass das Land Baden-Württemberg und die Stadt die Stuttgarter Flughafen GmbH angewiesen haben, an die Deutsche Bahn Netz 112 Millionen Euro zu überweisen. Einfach so. Damit das Projekt Stuttgart 21 wieder Schwung kriegt. Die haben sich regelrecht die Unterstützung der Bahn gekauft.

Bei den 112 Millionen Euro blieb es ja nicht.

Gangolf STOCKER: Zuvor hat die Stadt der Bahn ja bereits das Bahngelände für 450 Millionen Euro abgekauft, was dann nach dem Beschluss vom Dezember 2009, S21 definitiv zu bauen, bei der Deutschen Bahn AG zur Verschönerung der 2009er Bilanz eingesetzt werden konnte. Und es gab im Juli 2007 die Entscheidung der Landesregierung, für die Neubaustrecke nach Ulm einfach mal so 950 Millionen Euro zu spendieren. Dabei ist es noch nie Aufgabe eines Bundeslandes gewesen, den Schienenwegebau zu finanzieren.

Eure zweite Unterschriftensammlung muss – allein von der Dimension her – den Widerstand gegen Stuttgart 21 fast allen, die in der Landeshauptstadt leben, bekannt gemacht haben. Die ″Süddeutsche Zeitung″ schrieb dazu in einem ansonsten wohlwollenden Artikel, es habe eine ″beklagenswerte Amateurhaftigkeit des angestrebten Volksbegehrens″ gegeben.

Gangolf STOCKER: Das bezieht sich wohl darauf, dass unter anderem OB SCHUSTER behauptet hatte, das Ganze sei eine Irreführung der Öffentlichkeit. Wir hätten doch wissen müssen, dass ein solcher Bürgerentscheid nicht zulässig sei. Das entspricht nicht den Tatsachen. Es ging SCHUSTER darum, unsere Aktion politisch zu bekämpfen. Was wir damals machten, war nicht amateurhaft, sondern höchst professionell. Wir haben innerhalb von sechs Wochen 70.000 Unterschriften gesammelt. Das soll uns mal jemand vormachen. Ich sagte mal scherzhaft: Da hat die eine Hälfte der Stadt bei der anderen Hälfte Unterschriften gesammelt. Du konntest in diesen Wochen nicht durch die Stadt gehen, ohne an jeder Ecke von jemand angesprochen zu werden, ob du nicht eine Unterschrift für das Bürgerbegehren leisten willst.

Erwin ROMMEL, der SCHUSTER im Amt vorangegangene Oberbürgermeister, sagte 1996 zur Ablehnung des ersten Bürgerbegehrens, es sei verantwortungslos, ″wenn Politiker sich bei so komplexen Entscheidungen (wie der zu S21) dadurch aus der Verantwortung hinauswinden, dass sie dem Volk die Entscheidung zuschieben.″

Gangolf STOCKER:Wenn jemand nichts über Stuttgart 21 wusste, dann war das ROMMEL. Der sagte einmal. ″Stuttgart 21 koschtet die Stadt koi Mark″. Der hatte keine Ahnung. Das gilt auch für den Gemeinderat, der im November 1995 die Rahmenvereinbarung zum Bau von Stuttgart 21 beschlossen hat – da war Ahnungslosigkeit verbreitet. Das Argument mit den ″hochkomplexen Themen″ führen viele Politiker heute noch im Mund. Das könnten die einfachen Leute nicht verstehen... Aber die Menschen sind gescheiter als die Politiker. Und das verstört die großen Konzerne, die Bauindustrie. Bisher lief es doch so: Man trifft den Herrn Staatssekretär. Man küsst der Gattin des Ministerpräsidenten die Hand. Man redet ein paar wichtige Dinge so nebenbei. Dann verpflichten sich die Gesprächspartner, in ihrer Partei dafür zu sorgen, dass das in der Fraktion klargeht. Dann wird das durch die Parlamente buxiert. Und dann wird das auch so gebaut. Und jetzt kommt plötzlich das Volk. Und sagt: Nein, wir wollen das Ding nicht. Da kann man in den Konzernzentralen ja nicht mehr planen.

Der Widerstand gegen Stuttgart 21 wird bei den Parteien von den Grünen und der Linken unterstützt. Wie sind eure Erfahrungen mit dieser Zusammenarbeit?

Gangolf STOCKER:Die Zusammenarbeit mit den Grünen klappt inzwischen problemlos. Anfangs gab es Probleme, weil die Grünen glaubten, sie könnten die Bewegung unter eigener Führung leiten. Das mussten wir ihnen in heftigen Streitgesprächen ausreden. Seitdem läuft es gut; Absprachen funktionieren. Diese Absprache läuft vor allem zwischen Werner WÖLFLE und mir. In der PDS spielte das Thema lange keine größere Rolle. Da wurde bisweilen über mich gesagt: ″Der mit sei´m Bahnhof″. Das hat sich deutlich gebessert. Allerdings tritt Die LINKE nach meinem Gefühl bei dem Thema weiterhin zu zurückhaltend auf. Ich weiß von (dem Landesvorsitzenden; d. Red.) Bernd RIESIGER, dass der den Vorwurf fürchtet, die LINKE könnte das Thema instrumentalisieren. Darüber muss man nochmals reden. Die Grünen haben da keinerlei Probleme; die nutzen das Thema S21 auch für Parteiziele. Die LINKE sollte mit diesem Thema deutlich stärker in den Landtagswahlkampf gehen. Man kann da ja auch gute soziale Zusammenhänge herstellen. Zum Beispiel zwischen der Frechheit, die Hartz IV-Sätze um fünf Euro anzuheben, aber mal so auf die Schnelle fünf Milliarden Euro für ein unsinniges Betonprojekt auszugeben.

Mit den aktiven Parkschützern gibt es ab und an noch Reibereien. Ich hoffe, dass wir da langsam zu einer guten Zusammenarbeit kommen. Viele Leute können erkennen, dass einiges, was aus diesem Spektrum kommt, nicht immer zielführend ist. Weil die Bewegung gegen Stuttgart 21 ein bürgerlicher Protest ist, ist dieser so erfolgreich. Es ist kein Protest von Gewerkschaften. Kein Protest von schwarzen, autonomen Gruppen.

Wen erreicht ihr im bürgerlichen Spektrum, bei den Leuten in den besseren Häusern, in der ″Halbhöhenlage″?

Gangolf STOCKER:Die Leute aus diesen Schichten haben sich um S21 im großen und ganzen bis vor kurzem nicht gekümmert. Das änderte sich im August mit dem Abriss des Nordflügels. Da waren die plötzlich da. Einzelne Leute aus diesem Milieu waren allerdings von Anfang an da. Das gilt für Winfried BECK-ERLANG, den damaligen Vorsitzenden des Architekturforums Baden-Württemberg. Der half uns viel. Das gilt auch für Peter CONRADI, der von vornherein dabei war und der viele Kontakte, auch in Kulturkreise, hat. Das half uns viel – oft auch finanziell. Als S21 ein bundesweites Thema wurde, wurde das auch ein Thema für die Leute in Halbhöhenlage. Die Wende brachten die S21-Sendung bei ″Frontal21″ im Frühjahr und ab Juli die Artikel im ″Stern″ von Arno LUIK. Jetzt wachten auch unsere zwei Tageszeitungen auf. Die hatten noch bis Mitte 2010 unsere Montagsdemos weitgehend souverän ignoriert. Obwohl jeden Montag drei- bis fünftausend Menschen dort unten am Nordflügel des Bonatz-Baus standen. Da galt das Motto: Das ist doch nichts Neues – das geht doch jeden Montag so. Also nicht berichten. Obwohl das zu diesem Zeitpunkt bereits ein internationales Thema war. Da kamen zu uns die Neue Züricher Zeitung, der Züricher Tagesspiegel, die New York Times, The Economist – die haben alle hier ihre Interviews gemacht. Aber für unsere Zeitungen war das kein Thema. Das war schon frech.

Die Montagsdemos – wie entstanden die? Wurde da bewusst an die Demokratiebewegung in der DDR 1989 angeknüpft?

Gangolf STOCKER: Die Idee entstand im November. Der Name entstand eher pragmatisch. Die Demos finden immer am Montag statt; also kann man die Montagsdemos nennen. Ich war äußerst skeptisch. Bei der ersten Montagsdemo trafen sich zwei am Bahnhof. Die anderen zwei dachten, der Ausgangspunkt wäre das Rathaus. Man traf sich dann zu viert in der Königstraße. Bei der zweiten Montgsdemo war ich dann auch dabei. Da waren es bereits 30. Für diese Demo wurde bereits ganz gut im Netz mobilisiert. Bei der dritten Montagsdemo waren wir 150, bei der vierten 600. Dann haben wir die Demos auch angemeldet. Die wuchsen dann kontinuierlich. Wir wurden auch professioneller. Die Bühne blieb allerdings dieselbe: zwei Blumentröge, zwei Bretter drauf – das war die Kundgebungsbühne. Worauf wir Wert legten: Wir hatten von Anfang an immer Musik dabei.

Wann gab es den Umschlag von einigen Tausend, die demonstrierten, zu einigen Zehntausend – zu einem massenhaften Protest?

Gangolf STOCKER: Das begann mit dem Aufstellen des Bauzauns. Und natürlich mit dem Beginn der Abbrucharbeiten. Das wurde als Tabubruch empfunden. Da kommen die mit so einem Tyrannus Saurus Rex-Bagger und lassen den in den Nordflügel reinbeißen. Das brachte die Massen. Jetzt kamen auch erstmals viele Menschen aus der Region. Ich war gerade in Offenburg auf einer Veranstaltung gegen S21. Da haben mir ein paar Leute gesagt: Ich war schon auf einer Demo bei euch. Ich besprach gerade mit den Grünen, dass die zur nächsten Großdemo in Stuttgart, die wir am 11. Dezember organisieren, in großem Maßstab mit Bussen Leute nach Stuttgart bringen. Das zieht jetzt richtig Kreise. Klar – es gibt die Themen Bahnhof, Park, Mineralwasserquellen. Aber all das wird überlagert von der Stimmung. ″So lassen wir uns von denen nicht mehr behandeln.″

War die Polizeiaggression am 30. September im Schloßpark ein kalkulierter Angriff?

Gangolf STOCKER: Selbstverständlich. Es war der bewusste Versuch, nochmals der Geschichte Herr zu werden. MAPPUS wollte Bilder von gewaltbereiten Demonstranten. Das wird im Untersuchungsausschuss auch dokumentiert werden. MAPPUS war drei Mal bei Besprechungen zum Polizeieinsatz dabei. Das funktionierte nicht. Es gab nur die Bilder von gewalttätigen Polizisten. Jetzt sind die am Ende mit ihrem Latein. Denn es müssen ja weitere Bäume gefällt werden. MAPPUS sagte zu mir wörtlich: ″Herr Stocker, können Sie mir versprechen, dass wir solche Bilder nicht mehr sehen müssen?″. Ich antwortete: ″Ich kann Ihnen versprechen, dass wir solche Bilder auch nicht mehr sehen wollen.″

Ihr wart im November 2009 noch bei Bahnchef GRUBE ihm – in einem Acht-Augen-Gespräch. Ihr gingt damals davon aus, dass der möglicherweise zu überzeugen ist.

Gangolf STOCKER:GRUBE ist ein großer Täuscher und Trickser. Nach außen tritt der kumpelhaft auf. Bezeichnet sich als ″hanseatischen Kaufmann″. Er heuchelt großes Verständnis. Aber er zieht dann sein Projekt knallhart durch. Als MAPPUS erstmals die Idee vortrug, dass man doch Gespräche führen sollte – der Abrißbagger hatte da gerade die Arbeiten eingestellt; die mussten den Schutt wegfahren – da ließ GRUBE den Abrissbagger mit Brachialgewalt gegen den Nordflügel donnern. Ähnlich provokativ verhält sich GRUBE jetzt. Kurz vor Beginn der Schlichtung sandte er nochmals mehrere Ausschreibungen für Bauarbeiten raus. GRUBE will mit Gewalt Fakten schaffen. Wenn es nach der Landtagswahl tatsächlich zu einer von den Grünen geleiteten Landesregierung kommen sollte, dann sollen die Kosten für einen Ausstieg derart hochgetrieben worden sein, dass man gewissermaßen notgedrungen weiterbauen muss.

Es gibt inzwischen den Versuch einer Gegenbewegung. Am 15. Oktober konnten die S21-Befürworter ein paar Tausend Leute ins Stuttgarter Zentrum mobilisieren.

Gangolf STOCKER:Man muss wissen: Die hatten da ihren Großkampftag. Die CDU-Kreisverbände setzten landesweit Busse ein und gabelten die Leute auf dem Land auf. Stadtweit wurde plakatiert. Gekommen sind 5000 Leute. Die Polizei spricht von 7000. Bei uns waren es am gleichen Tag 50.000. Die Polizei hat 16.000 gezählt. Grundsätzlich hat sich nichts am Kräfteverhältnis geändert. Die haben nicht deutlich mehr auf den Schlossplatz mobilisieren können, als sie am Donnerstag zuvor zusammentrommeln konnten. Obwohl Sekt und Pizza gratis und Freibier gab.

Wie sieht Deine Bilanz der Schlichtung aus?

Gangolf STOCKER: Zunächst gilt: Wir konnten vor einer großen Öffentlichkeit beweisen: K 21 ist machbar – ist leistungsfähiger, ökologischer, kostengünstiger. K21 bedroht nicht das Mineralwasser oder das Stadtklima, erhält den Bonatz-Bau und unseren Park. S 21 dagegen ist auch nach 15 Jahren Planung ein leeres Versprechen. Bestenfalls lässt sich sagen: S 21 schafft gerade mal soviele Züge wie der heutige Kopfbahnhof. Nur der optimierte Kopfbahnhof kann Kapazitätssteigerungen verlässlich – und bereits in kurzer Zeit – garantieren. Und dies mit einem Komfort und einer Sicherheit für die Reisenden, die es beim Kellerbahnhof nicht geben kann.

GEIßLER turnt durch die Talkshows und lässt den Eindruck entstehen, beide Seiten hätten seinem Spruch zugestimmt.

Gangolf STOCKER:Wir haben einem solchen Schlichterspruch nicht zugestimmt. GEIßLER versuchte, die Bevölkerung zu entmündigen. Er kündigte den Grundkonsens auf. Wir wollten Demokratie und bekamen einen Geißler-Entscheid. GEIßLER verlangt im übrigen Nachbesserungen, die nicht umsetzbar sind. Ich habe mir gedacht: Wenn sich dadurch das Projekt verzögert und der S 21-Preis steigt, dann soll er halt seinen Spruch verkünden. Aber es bleibt dabei: Wir haben dem Schlichterspruch nicht zugestimmt. Die Medien und GEIßLER unterstellen eine solche Zustimmung. Das ist eine bewusste Irreführung. Richtig ist jedoch auch: Wir hätten unsere Ablehnung viel deutlicher herausstellen müssen.

Wäre es besser gewesen, irgendwann aus der Schlichtung auszusteigen?

Gangolf STOCKER:Jahrelang haben wir gefordert, dass unsere Argumente ernsthaft angehört werden. Es war unsere Bewegung hier in Stuttgart, die die Bahn und die Regierung an den Tisch gezwungen hat. Natürlich waren das keine Gespräche auf Augenhöhe. Die Gegenseite hatte ganze Beratermannschaften, die jede Situation, jedes Interview durchstylen konnten. Dennoch wäre es falsch gewesen, wenn wir die Chance zu diesen Gesprächen nicht wahrgenommen hätten. Schließlich konnten wir trotz der Ungleichheit bei fast allen Sachthemen punkten. Im übrigen wird sich zeigen: Das Volk lässt sich nicht wegschlichten. Die Demokratie können nur wir als Bürgerbewegung erneuern. Das kann kein GEIßLER-Kult. Der Widerstand geht weiter.


Das Interview ist ein Zusammenschnitt zweier Gespräche von Gangolf StOCKER mit Winfried WOLF und Hannes ROKENBAUCH. Diese sind ausführlich in folgenden Büchern nachzulesen:

"Stuttgart 21 - oder: Wem gehört die Stadt" - Volker LÖSCH, Gangolf STOCKER, Sabine LEIDIG und Winfried WOLF (Herausgeber)

"Oben bleiben! - Die Antwort auf Heiner Geißler" - Volker LÖSCH, Gangolf STOCKER, Sabine LEIDIG und Winfried WOLF (Herausgeber).

Mit freundlicher Genehmigung des Mitherausgebers Winfried WOLF hier bei uns zu lesen.