Interview mit Dieter RUCHT

Interview mit dem Protestforscher und Soziologen Prof. Dieter RUCHT vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) über die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Entwicklung der deutschen Protestkultur.

 

ansTageslicht.de: Welche Typen von Demonstrierenden gingen bei Stuttgart 21 auf die Straße und zeigten politisches Engagement? Welche Motive und Erwartungen führten zum Protest?

Dieter RUCHT: Die Demonstrierenden setzten sich aus unterschiedlichen Gruppen zusammen. Durchschnittsangaben über "typische" Demonstranten sind wenig aussagekräftig. Im Groben lassen sich aber drei Hauptgruppen identifizieren: Protesterfahrene, stark links orientiert, organisatorisch bereits eingebunden und seit längerem gegen S 21 aktiv (ca. ein Fünftel); Protestneulinge, politisch eher im moderat linken Spektrum, erst relativ spät an Aktionen gegen S 21 beteiligt (ca. ein Viertel); situativ Engagierte, mitte-links, geringe Protesterfahrung, eher in unpolitischen Gruppen aktiv (gut die Hälfte).

Die Hauptmotive für den Protest sind Demokratiedefizite bei der Projektplanung und beim Umgang mit den Protestierenden, hohe Kosten des Projekts und die Kritik an den Profitinteressen von Banken und Baukonzernen.

ansTageslicht.de: Bei Ihrer "Befragung von Demonstranten gegen Stuttgart 21 am 18.10.2010" äußerten viele Protestierende, dass sie das Gefühl haben, die Politik würde über die Bürger hinwegregieren. Ist diese viel diskutierte Kluft zwischen Regierenden und Regierten tatsächlich größer geworden?

Dieter RUCHT: Sicherlich ist sie bei den Gegnern von S 21 größer geworden. Über lange Zeiträume wiederholte repräsentative Umfragen zeigen für die Gesamtbevölkerung in Deutschland keinen starken Vertrauensverlust gegenüber den Regierenden. Andere, zumeist nicht wiederholt durchgeführte Umfragen aus der jüngsten Zeit ergaben jedoch teilweise dramatisch negative Einschätzungen im Hinblick auf die politische Elite.

ansTageslicht.de: Wie kann die Politik auf Konflikte und Proteste reagieren, so dass sich die Bürger ernst genommen fühlen? Was spricht für direktdemokratische Entscheidungen beispielsweise in Form von Volksentscheiden?

Dieter RUCHT: Eine angemessene Reaktion wäre das frühzeitige Einbeziehen und Anhören der Bürger, der Verzicht auf einseitige Projektdarstellungen, in denen nur die Vorteile erwähnt werden, sowie die Erörterung von grundsätzlichen Planungsalternativen. Direktdemokratische Entscheidungen sind besonders dann hilfreich, wenn es zu einer Patt-Situation bei den politischen Entscheidungsträgern und/oder der Bevölkerungsmeinung kommt. Die Hürden für Volksentscheide sind vor allem im Saarland und Baden-Württemberg unangemessen hoch. Dort stellen sie faktisch ein Instrument der Verhinderung direkter Demokratie dar.

ansTageslicht.de: Wie hoch ist die Wahlbeteiligung unter den Demonstrierenden?

Dieter RUCHT: Sie ist sowohl im Rückblick als auch im Hinblick auf kommende Wahlen einige Prozente höher als beim Durchschnitt der Landes- und der Bundesbevölkerung.

ansTageslicht.de: Zu Beginn der Vermittlungsgespräche mit Heiner GEIßLER erwarteten viele Protestierende, dass Stuttgart 21 durch die Demonstrationen gestoppt werden könne. Welchen Einfluss haben die Schlichtungsgespräche auf die deutsche Protestbewegung?

Dieter RUCHT: Das Schlichtungsverfahren war nicht nur zu spät angesetzt, sondern auch in seiner Durchführung und insbesondere in der erst gegen Ende angekündigten Selbstermächtigung durch einen vermeintlichen Kompromissvorschlag Geißlers durchaus problematisch. Dazu habe ich eine Kritik verfasst , die ich noch vertiefen werde. Dieser Schlichterspruch hat die Kritiker von S 21 vor allem in den Augen des breiten Publikums geschwächt. Aber er hat die Kritiker nicht entmutigt. Schlichtungsgespräche, früh eingesetzt, gut vorbereitet und fair durchgeführt, können erhitzte Gemüter beruhigen, Debatten versachlichen und zur Hinnahme eines Ergebnisses veranlassen, das ansonsten kaum hingenommen würde. Es gibt zu wenige Mediations- und Schlichtungsverfahren, um einen Einfluss auf die Protestbewegungen insgesamt zu haben.

ansTageslicht.de: Das mediale Interesse an Demonstrationen gegen Stuttgart 21 oder die Atompolitik ist enorm. Wie berichten die Medien darüber? Und welche Auswirkungen hat dies auf die Protestbewegungen?

Dieter RUCHT: Die Medien im Fall von S 21 haben zunächst sehr einseitig und erst mit dem Aufkommen von Massenprotesten differenzierter berichtet. Lediglich die Stuttgarter Nachrichten halten an ihrer Parteinahme für das Projekt unbeirrt fest. Bei der Atompolitik gibt es dagegen schon seit langem eine abwägende und differenzierte Berichterstattung in den Massenmedien. Seit der Verlängerung der Laufzeiten haben sich dort die kritischen Stimmen verstärkt und wirkten für die Protestbewegung beflügelnd.

ansTageslicht.de: Welche Bedeutung haben die Neuen Medien wie facebook oder Twitter in der Protestbewegung?

Dieter RUCHT: Ihre Bedeutung wird weit überschätzt – zumindest für Funktionen, die über die Beschaffung und Verbreitung von Nachrichten hinausgehen. Während die Nutzung der Neuen Medien seit den späten 1990er Jahren stark gestiegen ist, war parallel dazu die Protestbeteiligung insgesamt rückläufig. Erst im Jahr 2010 kam es wieder zu einem Anstieg der Proteste, der jedoch nicht auf die Neuen Medien zurückgeführt werden kann. Überwiegend netzbasierte Gruppen wie Campact sind zunehmend dazu übergegangen, bei größeren Kampagnen nicht allein auf Online-Aktivitäten zu bauen, sondern sie mit Straßenprotesten zu verbinden. Auch daran zeigt sich, dass das Netz seine Grenzen hat.

ansTageslicht.de: Haben die Proteste tatsächlich zugenommen oder erweckt lediglich das öffentliche Interesse an einer neuen Bürgerprotestkultur diesen Anschein?

Dieter RUCHT: Im Jahr 2010 haben die Proteste zugenommen, aber im Vergleich zu den Spitzenwerten einzelner weiter zurückliegender Jahre kein außergewöhnlich hohes Niveau erreicht. Die starke mediale Thematisierung von Protest in jüngster Zeit hat zu einer Überschätzung seiner realen Dimension geführt. Aber diese Überschätzung hat auch neue Leute zum Protest ermutigt und wirkte damit, zumindest teilweise, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

ansTageslicht.de: In den 70ern und 80ern galten Proteste eher als "Querulantentum". Damals war es undenkbar, dass auch staatsnahe Berufsgruppen wie Lehrer oder Polizisten auf die Barrikaden gehen. Ist der Protest mittlerweile in der Gesellschaft als politische Ausdrucksform angekommen und akzeptiert?

Dieter RUCHT: Im Großen und Ganzen ja. Aber es gibt nach wie vor Gruppen, die darin nur einen Störfaktor sehen. Oder suggerieren, hier wären Rattenfänger am Werk, somit also das Urteilsvermögen der Masse von Protestierenden in Zweifel ziehen.

ansTageslicht.de: Die 68er Studentenbewegung wendete sich gegen die „herrschenden Verhältnisse“ in der BRD. Sie forderte eine sozialistische Revolution und kritisierte das System. Welche Motive bewegen heute die Bürger, auf die Straße zu gehen? Welche Qualität und Ziele haben die Proteste?

Dieter RUCHT: Die Proteste sind themen- und gruppenspezifischer geworden. Es geht an vielen Stellen und in vieler Hinsicht um eine Verbesserung der Verhältnisse, bestenfalls um radikale Reformen, aber nicht um einen Umsturz. So protestieren Milchbauern, Fuhrunternehmer, Hebammen, Zahnärzte, Tierschützer, Kurden, Hausbesetzer, Hartz IV-Empfänger, getäuschte Kapitalanleger usw. für ihre jeweiligen Anliegen. Themenübergreifende Kampagnen kommen kaum zustande.

ansTageslicht.de: In Frankreich beispielsweise waren auch viele junge Menschen an Protesten gegen die Rentenerhöhung beteiligt. Kann man sagen, dass auch in Deutschland die Jugend politischer wird? Wird bürgerliches Engagement in Zukunft steigen?

Dieter RUCHT: Der Anteil politisch aktiver Jugendlicher hat in den letzten Jahrzehnten nicht stark geschwankt. Wiederum haben die Massenmedien vorhandene Entwicklungen vergrößert und zum Trend der Zeit erklärt: die 89er-Generation, die Generation Golf, die Generation Golfkrieg usw. Im Hinblick auf das Engagement der Jugend gibt es eine starke Zersplitterung in diverse politische Szenen, angefangen von braven Naturschützern über die Jusos bis hin zu den gewalttätigen rechten Kameradschaften und den ähnlich militanten Antiimperialisten. Langfristig, und nicht nur bei Jugendlichen, wird das Engagement eher zunehmen als abnehmen. Gruppen, die bereits früher Demonstrationserfahrung gesammelt haben, sind leichter, und sogar als Rentner, wieder mobilisierbar als solche, die nie politisches Interesse gezeigt haben.

ansTageslicht.de: Vielen Dank.

(Interview: Linda Underwood/ans.Tageslicht.de)
(Foto von Dieter Rucht: E. Riefer-Rucht)