"S 21"Chronologie Teil I: die Planung (1985 - 1994)

1985

Europa wächst immer mehr zusammen. Auch auf dem Schienennetz.

Eine der Visionen: zum Beispiel auch von Paris nach Prag. In einem Rutsch.

Zwischen Stuttgart und Ulm indes liegt die Geislinger Steige – ein Streckenabschnitt mit enormen Höhenunterschieden und vielen engen Kurven. Die Züge müssen sehr langsam fahren. Dazu ist Stuttgart ein Kopfbahnhof – alle weiterfahrenden Züge müssen die Fahrtrichtung wechseln. Allerdings: Stuttgart ist nicht der einzige Kopfbahnhof. Ebenso die Bayernmetropole München, das zentrale Verkehrskreuz Frankfurt/Main oder Leipzig.

Der Bundesverkehrswegeplan 1985 beinhaltet als Weiterführung der Neubaustrecke Mannheim - Stuttgart eine Ausbau-/Neubaustrecke Plochingen - Günzburg. Gerhard HEIMERL, Verkehrswissenschaftler und Professor am Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen an der Universität Stuttgart, erkennt Mängel in der zu engen Aufgabenstellung der Planungen. Die Kapazität des Stuttgarter Hauptbahnhofs als zentralen Verkehrsdrehschreibe würde schnell sein Maximum erreichen. HEIMERL entwickelt die Idee aus dem Bahnhof in Stuttgart einen Durchgangsbahnhof zu machen.



20.03.1988

In Baden-Württemberg regiert seit ewigem Gedenken die CDU. Mal alleine, mal mittels einer Koalition mit der FDP. Die Baden-Württemberger sind überwiegend bodenständig, sprich eher konservativ als dass sie auf die Barrikaden gehen oder mit Neuem experimentieren. Dies zeigen auch die letzten Wahlergebnisse der Landtagswahlen:


August 1988

Im Sommer 1988 wird das Thema Schellfahrstrecke im Kuratorium des Verkehrswissenschaftlichen Instituts an der Universität Stuttgart erörtert. HEIMERL wird aufgefordert, das Thema mit einer kleinen Denkschrift öffentlich zu machen. Dies geschieht im August 1988. Seine Motivation: auf erkannte Mängel in der Planung für eine langlebige, zukunftsorientierte Infrastruktur hinzuweisen und entsprechende Verbesserungen anzuregen.

HEIMERL’s Planungen beinhalten u.a.:


  • Eine Neubaustrecke von Stuttgart bis Ulm nach dem “Europäischen Infrastrukturplan”
  • Die Trasse siedlungsfern entlang der Autobahn zu bauen: umweltfreundlicher und schneller zu befahren
  • Den Stuttgarter Hauptbahnhof in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof umzubauen, um ihn als Knotenpunkt fähig zu machen
  • Den Landesflughafen an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn anzubinden


Die Denkschrift wird der Politik, den Fachbehörden in Bund, Land, Region und Stadt, der Deutschen Bahn, der Wirtschaft (IHK) und auch der Presse zugänglich gemacht.


22.10.1989

In Stuttgart sieht die politische Machtverteilung anders aus als über ganz Baden-Württemberg gesehen – wie so meist in Großstädten, in denen bevorzugt Akademiker, Entscheidungsträger und Studenten und weniger bodenständige Bauern wohnen. In der Schwabenmetropole sieht das Kräfteverhältnis (Gemeinderatswahlen Stadtkreis Stuttgart) so aus:


Juli 1990

Die H-Trasse

Die in HEIMERL´s Denkschrift beschriebenen Planungen (als H-Trasse bezeichnet) führten zu Diskussionen und alternativen Überlegungen. Die Planer der Deutschen Bahn (DB) entwickeln die sogennante K-Trasse.

Die K-Trasse:

  • Ausbau der durchs Filstal führenden Gleistrasse einschließlich eines notwendigen Albaufstiegstunnels
  • Ebenfalls einen unterirdischer Stuttgarter Hauptbahnhof


Die unterschiedlichen Trassenverläufe sind auf der Grafik zu sehen: rot die H-Trasse, grün die K-Trasse.

In einem internen Beschluss des DB-Vorstandes im Juli 1990 wird “aus strategischen Gründen … unter dem Aspekt der Zukunftsperspektiven eine Trasse in Anlehnung an die Heimerl-Variante präferiert”. Auch sind Kosten der H-Trasse mit geschätzten 3,2 Milliarden DM im Vergleich zur K-Trasse mit 4,1 Milliarden DM geringer.


Mai 1991

Eine endgültige Entscheidung für „H“ oder „K“ hat die Deutsche Bahn immer noch nicht getroffen. Das für den 28. Mai geplante Votum durch den Vorstand der Deutschen Bahn wird auf Herbst verschoben. Zahlreiche Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker, sowie mehrere Verbände wie beispielsweise die IHK Region Stuttgart ziehen die H-Trasse vor.

Einer der Gründe für das Zögern liegt in der Vermutung, dass durch die Unterführung des Stuttgarter Hauptbahnhofs empfindliche Mineralwasserströme gestört werden könnten. Gutachten dazu würden mehrere Monate oder Jahre dauern.


Juni 1991

In einer Diskussion in der Nellinger Stadthalle geben Thomas SCHÄUBLE (CDU), Verkehrsminister von Baden-Württemberg, und Heinz DÜRR, neuer Bahnchef, am 12. Juni bekannt, dass Stuttgart und Ulm in das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz integriert werden. Eine Entscheidung für oder gegen die H-Trasse hat die Deutsche Bahn nicht getroffen.

Die Stuttgarter Zeitung schreibt dazu am 13. Juni: “Doch gelinde Zweifel dürfen angemeldet werden: Erstens tobt der Meinungsstreit über die beiden Trassenvarianten nach wie vor heftig, vor allem hinter den Kulissen, und zweitens finden im März 1992 Landtagswahlen statt. Nur ganz besonders mutige Politiker sind in solchen Zeiten bereit, schwierige und weitreichende Entscheidungen zu treffen”


Sommer 1991

Die SPD im Rathaus fordert vom Gemeinderat endlich ein Votum und zwar noch bevor die Deutsche Bahn im Herbst ihr Votum abgibt. Die SPD selbst favorisiert die H-Trasse. Beide großen Fraktionen im Rathaus (CDU und SPD) machen klar: Sie sind für die H-Trasse.

Die Bürgerinitiative "Unteres Filstal" kritisiert die Planungen der Deutschen Bahn. Die Initiative erkennt die Vorteile der H-Trasse gegenüber der K-Trasse. Der Bau der K-Trasse dauere längere und würde größeren Lärm machen. Während die H-Trasse umweltfreundlicher sei und durch die Lage an der Autobahn keine Ortschaften spalten würde.


Varianten untersuchung der H- und K-Trasse

Oktober 1991 bis März 1992

Die H- und K-Trasse werden in Form einer “Variantenuntersuchung für den Abschnitt Stuttgart-Ulm” von der Deutschen Bahn untersucht. Die Variantenuntersuchung wird den betroffenen Landkreisen, Städten und Kommunen vorgelegt. Diese sollen bis zum 15. Januar 1992 dazu Stellung nehmen - anschließend ist ein Votum der Landesregierung fällig.

Meinungen zur Variantenuntersuchung:

  • Die Bürgerinitiative "Unteres Filstal" kritisiert die Ergebnisse der Variantenuntersuchung. Ihnen ist nicht klar, warum nach Ansicht der Deutschen Bahn die Strecke durchs Filstal aufgrund des Transports von schweren Gütern dennoch ausgebaut und um ein drittes Gleis erweitert werden müsse.
  • Der Bereichsausschuß Stuttgart im Nachbarschaftsverband ist ebenfalls für die H-Trasse und gibt sein Votum an das baden-württembergischen Verkehrsministerium.
  • Der Gemeinderat der Stadt Ulm ist für die H-Trasse, während man im Alb-Donau-Kreis und in Stadt und Landkreis Neu-Ulm die K-Trasse favorisiert. Die Mehrheit des Regionalverbands stimmt jedoch für die H-Trasse
  • Der Regionalverband spricht sich in einer Sondersitzung für die H-Trasse aus

05.04.1992

Neuwahlen zum Landtag in Baden-Württemberg: Ein Desaster für die CDU - sie fällt von 49% um rund 10 Prozentpunkte nach unten: auf 39,6%. Die Grünen legen etwas zu und die Republikaner kommen auf fast 11 % - sie ziehen erstmals ins Parlament ein. Folge: Die CDU muss zusammen mit der SPD unter Erwin TEUFEL (CDU) regieren):


September 1992

Auch die Landesregierung gibt ihr Votum ab. In einem Beschluss äußert sich das Kabinett für die H-Trasse und damit eine komplette Einbindung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in das Hochgeschwindigkeitsnetz in Form eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs.


Dezember 1992

Auf den politischen Ebenen (Regionalverband, Landesregierung) formiert sich eine Mehrheit für die H-Trasse. Die Landesregierung spricht sich zudem für die Einbindung des Stuttgarter Hauptbahnhofs aus in Gestalt eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs.

Am 8. Dezember gibt die Deutsche Bahn bekannt, dass die Neubaustrecke nach Ulm nach den Plänen der H-Trasse erfolgen soll, jedoch ohne den Hauptbahnhof zu untertunneln. Zudem wurde die Idee geäußert “zusätzlich in Stuttgart einen neuen Fernbahnhof am Rande des Rosensteinparks” zu bauen. Damit könnte man den Sackbahnhof in der Innenstadt umgehen.

Zusätzlicher Vorteil: durch Gleise ehemals besetzte Flächen stünden für städtebauliche Nutzungen zur Verfügung.

Die Planungen zum Rosensteinbahnhof erweisen sich nach weiteren Überlegungen allerdings nicht als zielführend.


Dezember 1993

Mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Grünen beschließt der Bundesrat und Bundestag die Bahnreform als ersten Schritt zur Privatisierung der Bahn.


Januar 1994

Die privatwirtschaftliche Deutsche Bahn AG entsteht aus der staatlichen westdeutschen Bundesbahn und der staatlichen DDR-Reichsbahn. Bahnchef-DÜRR, der vorher u.a. im Ex-Daimler-Vorstand tätig war, bleibt wieterhin in seiner Position bei der Deutschen Bahn AG.


1993-1996

Am 27. Dezember 1993 entsteht das Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz - ENeuOG), dass die Basis zur Gründung der Deutsche Bahn AG bildet. Dieses Gesetz sieht vor, dass alle nicht bahnnotwendigen (vgl. Stuttgart 21 - wem gehört die Stadt, S. 185) Bahngrundstücke weiterhin Bundeseigentum bleibt. Dazu gehört auch der Großteil des Stuttgarter Bahngeländes, welches mittlerweile zur Finanzierung von Stuttgart 21 genutzt wird.
Nach einer heftigen Auseinandersetzung setzt sich die DB AG durch, in dem sie sich auf einen unscheinbaren Gesetzesparagrafen (ENeuOG §23 (6)) beruft: Der Großteil des Bahngeländes, auch das nichtbahnnotwendige, bleibt im Eigentum der Deutsche Bahn AG und wird seitdem bundesweit in spekulativen Grundstückdeals finanziell lohnend verwertet.


Das Großprojekt "Stuttgart 21" wird vorgestellt

18.04.1994

An diesem Tag findet vormittags eine kurzfristig angesetzte Pressekonferenz im Morsesaal des Stuttgarter Landtages statt. Anwesend sind Bahnchef, Heinz DÜRR, sowie die politischen Verantwortlichen Erwin TEUFEL (Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, CDU), Manfred ROMMEL (Oberbürgermeister Stuttgart, CDU) und Matthias WISSMANN (Bundesverkehrsminister, CDU).

Sie stellen das umfassende Bahnhofsprojekt “Stuttgart 21” vor. Stuttgart 21 stellt ein Synergiekonzept zwischen Verkehrsplanung und Stadtentwicklung dar und greift die Idee auf, durch Gleise belegte Flächen (in diesem Fall 80 ha) freizumachen und zu verwenden, die durch die Planungen des Bahnhofs Rosenstein im Dezember 1992 aufgekommen sind. Stuttgart 21 beinhaltet mehr als die Trassen-Überlegungen aus den 80iger Jahren.

Stuttgart 21 in Stichpunkten:

  • Der Stuttgarter Hauptbahnhof soll durch einen untertunnelten Durchgangsbahnhof ersetzt werden
  • Der Abstellbahnhof am Rosensteinpark soll an die Stelle des bisherigen Rangierbahnhofs Untertürkheim versetzt werden
  • Die Neubaustrecke nach Ulm soll entsprechend den Planungen der H-Trasse realisiert werden
  • Der Flughafen soll angebunden werden


Ziel: die Eingliederung Stuttgarts in die Verkehrsmagistrale Paris - Budapest und eine Modernisierung des Stuttgarter Knotenpunkts.

Von Alternativen ist in dieser Vorstellung keinerlei Rede.

Ein Bündnis von Umwelt- und Verkehrsverbänden namens UMKEHR STUTTGART spricht sich bereits kurz nach der Präsentation gegen das Projekt und für Erhaltung des Kopfbahnhofs aus.


Sommer 1994

Bei den Gemeinderatswahlen in Stuttgart legen die Grünen als einzige Partei mit immerhin 5 Prozentpunkten zu: auf 17,3%. Alle anderen verlieren an politischer Zustimmung:

Die Gemeinderatswahl ist für die Bürger die erste Möglichkeit, mittels ihrer Wahlstimme auf den Planungsprozess von Stuttgart 21 einzuwirken. Bisher wurden immer noch keine alternativen Konzepte Vorgeschlagen. Auch ist das Thema bei den Bürgern noch nicht als wirklich entscheidungsrelevant angekommen.

Später wird sich herausstellen, dass diese Kommunalwahl die einzige Gelegenheit für die Bürger von Stuttgart sein wird, um Einfluss auf das Projekt zu nehmen.

Die Presse greift Stuttgart 21 in der Zeit zwischen der Pressekonferenz und den Gemeinderatswahlen (18.04. und 12.07.1994) mehrmals auf. Trotzdem wird das Projekt von den Medien nicht als sonderlich kritisch, weder zeitlich noch inhaltlich, eingestuft, obgleich es mehrmals Thema in der i>Stuttgarter Zeitung ist. Selbst der Artikel “Bahnkonzept "Stuttgart 21" mit neuem Hauptbahnhof - Probleme in der Innenstadt” aus der Stuttgarter Zeitung vom 1. Juni stellt die vorgestellten Ergebnisse und Probleme nüchtern und abwartend auf die Zukunft dar. Dass der Protest über Stuttgart 21 sich erst nach einer so langen Zeit in der Öffentlichkeit formiert hat, liegt auch in den Händen der beiden Stuttgarter Zeitungen. Durch informelle Vorgaben waren die Redakteure gehalten, eher positiv über Stuttgart 21 zu berichten.