Einblick in die Dessauer Polizeiaffäre

Eine offenbar unendliche Affäre in Sachsen-Anhalt

Eigentlich hätte es ein Modellfall werden können – bundesweit und mit hoher Signalwirkung. Stattdessen ist wohl das Gegenteil eingetreten - die rund 8.000 Polizisten im Bundesland Sachsen-Anhalt haben daraus ‚gelernt’:

  • Kritik zahlt sich nicht aus und wer irgendwie aufmuckt, wird schnell ausgegrenzt
  • lieber wegsehen als „Hingucken“.

„Hingucken!“ heißt eine Kampagne des Innenministers Holger HÖVELMANN, SPD. Meint (angeblich): nicht wegschauen, wenn es um fremdenfeindliche oder gar rechtsextremistische Aktionen oder Straftaten geht. Sachsen-Anhalt führt bei Straftaten mit politisch motiviertem Hintergrund bundesweit die Statistik an und das heißt hier: Neonazis sind am Werk.

Diese Statistik ist im Jahr 2007 (vorübergehend) gesunken: um rund die Hälfte. Das, was der Innenminister öffentlichkeitswirksam als Erfolg seiner Kampagne verkaufte, stellte sich wenige Wochen später als statistisches Täuschungsmanöver heraus: das Landeskriminalamt (LKA), eine Abteilung des Polizeiapparates seines Ministeriums hatte rund 200 als „politisch motiviert“ gemeldete Straftaten einfach umdefiniert und sie in eine andere Kategorie verpackt: die Zahlen waren manipuliert. „Aus allen Wolken sei er gefallen“, ließ der Minister über seinen Pressesprecher öffentlich verlautbaren.

Er hätte es besser wissen können. 

Seit Mai 2007 schwelt in Sachsen-Anhalt eine Affäre, die eine Zeitung aufgedeckt hatte, deren Redaktion rund 150 Km weit entfernt arbeitet: Der Tagesspiegel in Berlin und dessen Redakteur Frank JANSEN. 

JANSEN hatte bereits ein Jahr zuvor einen ganz anderen Vorfall aus Sachsen-Anhalt ans Tageslicht gebracht, für die er den „Otto-Brenner-Preis“ zugesprochen bekam: "Wenn keiner nach den Rechten sieht". Im Land des "Hinguckens!" werden solche Vorfälle offenbar nicht unbedingt transparent gemacht. Die Vorgänger-Story spielt sich in Zerbst ab. Dort wohnt der Innenminister privat. Zur fraglichen Zeit war HÖVELMANN Landrat des Kreises Anhalt-Zerbst. 

In Zerbst hatte bei einer Kirmes ein Neonazi einem 17jährigen Punk, dessen Rucksack eine Aufschrift „Gegen Nazis“ zierte, mit einer Bierflasche ein Auge zerschnitten. Die Polizei nahm den mutmaßlichen Täter in Gewahrsam, veranlasste einen Blutalkoholtest und fuhr ihn abends mit dem Streifenwagen zum Bahnhof: damit er den letzten Zug nachhause erreichen konnte. Im Zug schlug der Täter nochmals zu – diesesmal traf es einen anderen. 

Das Opfer im Krankenhaus verliert sein Augenlicht für immer. Die Polizei nimmt eine Zeugenaussage nach 6 Tagen auf. Der ansässigen Regionalzeitung gibt man in Zerbst die Auskunft, dass man keine Gerüchte bestätigen können, nach denen ein junger Mann bei dem Heimatfest ein Auge verloren habe. Die Zeitung vor Ort guckt nicht näher hin. 

Das machen andere: Beamte aus dem Kommissariat Polizeilicher Staatsschutz aus Dessau. Sie rücken an und machen das, was andere nicht (wirklich) gemacht haben: sie ermitteln. Und dies besonders gründlich. 

Und hier beginnt der Zusammenhang zu der nächsten Geschichte, für die der Tagesspiegel-Redakteur Frank JANSEN 2008 wieder einen Journalistenpreis erhält; den „Wächterpreis der Tagespresse“

Es geht um drei Polizeibeamte im Fachkommissariat Polizeilicher Staatsschutz, die dort seit 2005 arbeiten - sehr zielorientiert, engagiert und innovativ. Man baut Kommunikationsnetzwerke auf, fordert die Menschen auf, Vorfälle zu melden, also „hinzugucken“. 

Die neuen Methoden gefallen im Polizeiapparat nicht jedem. „Der GRATZIK und seine Jünger sind wieder unterwegs“, heißt es dann immer – so wortwörtlich rapportiert von der Dienstvorgesetzten der drei Ex-Staatsschützer. 

Während einer dienstlichen Besprechung im Februar 2007 beim Polizeivizepräsidenten von Dessau, ihrem nächsthöheren Dienstherrn, kommt es dann zu einer Diskussion, über deren Ergebnis die 3 Staatsschützer ein "Gedächtnisprotokoll" anfertigen, weil sie die Welt nicht mehr verstehen. Dieses Protokoll wird dazu führen, dass die drei engagierten Staatsbeamten nicht mehr da arbeiten (können bzw. dürfen), wo sie – mehr oder weniger unbestritten – ‚ganze Arbeit’ machen. Anlässlich eher formaler Fragen wie Arbeitsbelastung und aufgelaufene Überstunden in dieser Abteilung notieren sich die 3 Polizeibeamten, was sie vom Polizeivizepräsidenten zu hören bekamen:

  •  „dass man nicht alles sehen müsse“
  • man könne „ja auch langsamer schreiben“, z.B. einen Bericht
  • wenn man so ‚fleißig’ sei und viele Vorfälle aufgreife, Anzeigen aufnehme usw., sei „niemand darüber glücklich“: "das Innenministerium ist nicht glücklich, das Landeskriminalamt ist nicht glücklich“
  • und angesprochen auf die offizielle Politkampagne von HÖVELMANN "Hingucken": „Der Innenminister ist ein politischer Akteur, der hat doch keine andere Wahl. Das dürfen sie alles nicht so ernst nehmen, dass ist doch alles für die Galerie.“


Der Bericht des Tagesspiegel "Das ist doch nur für die Galerie" vom 12. Mai 2007 löst bundesweit nicht nur Erstaunen aus, sondern die Fraktion Die Linke im Magdeburger Landtag setzt ob dieser und der weiter vomTagesspiegel recherierten Informationen über weitere Vorfälle dieser Art einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss durch – die beiden regierenden Koalitionsparteien CDU und SPD sowie die oppositionelle FDP enthalten sich der Stimme, sind ebenfalls nicht ‚glücklich’ über dieses politische Ermittlungsorgan. 

Vor diesem Untersuchungsausschuss bestreitet der Polizeivizepräsident die im Gedächtnisprotokoll fixierten und inzwischen auch eidesstattlich belegten Aussagen der 3 ehemaligen Staatsschützer. Er wird allerdings immerhin öffentlich zugeben, das gesagt zu haben:

  • „Jede Medaille hat 2 Seiten: Wer hohe Fallzahlen habe, müsse zwangsläufig damit leben, dass er im Bundesdurchschnitt schlecht dastehe.“
  • „Niemand ist damit glücklich. Wir nicht, das LKA nicht, das Land nicht.“


Die HÖVELMANN-Kampagne „Hingucken“ – wirklich ernstgemeint? So sehen die bisher bekannt gewordenen Fakten und die Entwicklungen nach Bekanntwerden der Affäre aus: 

  • Der Abteilungschef Sven GRATZIK wird nach Bekanntwerden des „Gedächtnisprotokolls“ vom internen Informationsfluss abgeschnitten, erhält in seiner Abteilung Hausverbot bzw. eine „Betretungsverbot“. Er wird „umgesetzt“, inzwischen in die Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Süd, darf dort nicht arbeiten, muss Überstunden abbummeln
  • Sein Mitarbeiter, Christian KAPPERT, Jahrgang 1981, demissioniert ebenfalls und wird versetzt: er ist jetzt für die Überwachung des fließenden Verkehrs zuständig (z.B. Blitzen). Die Staatsanwaltschaft setzt ein Ermittlungsverfahren gegen ihn in Gang: er habe es unterlassen, eine möglicherweise strafbare Handlung (Aufforderung des Polizeivizepräsidenten zum ‚Wegsehen’) nicht zur Anzeige gebracht – gegen den Polizeivizepräsidenten selbst ermittelt die Staatsanwaltschaft nicht
  • Swen ENNULLAT, Jahrgang 1976, wird von der Dessauer Polizeipräsidentin ebenfalls versetzt. Er will sich daraufhin im Rahmen des Höheren Dienstes weiterqualifizieren und studieren. Polizeiführung und Innenministerium sind dagegen. ENNULLAT muss gegen seinen Arbeitgeber klagen: in 4 Instanzen. Derzeit obsiegt er vor Gericht und studiert an der Polizeifachhochschule. 
    Dort wird er, wie erst vor kurzem bekannt geworden, im Auftrag des HÖVELMANN-Ministeriums von ebenfalls studierenden Kollegen beobachtet - studentische Kollegen fertigen "auf Bitte" des Ministeriums einen "Vermerk zu einem Gespräch an", der dann an die Staatsanwaltschaft zur Prüfung auf strafrechtlichen Inhalt weitergeleitet wird:

 

Hier können Sie die ganze Geschichte im Detail nachlesen:

Im ABC der Akteure finden Sie nochmals alle Namen, die eine Rolle spielen. 

Wir haben uns auch mit den betroffenen Ex-Staatsschützern unterhalten - Innenministerium und die Polizeipräsidenten hatten uns nicht nur eine Interview-, sondern vor allem eine Aussagegenehmigung für die Polizeibeamten erteilt. Wir haben sie gefragt, wie sie im Fachkommissariat Staatsschutz gearbeitet haben, was nach Bekanntwerden des Protokolls geschehen ist, wie sie sich jetzt fühlen und wie sie ihre künftigen Berufs- und Lebensaussichten einschätzen: Die drei Ex-Staatsschützer im Gespräch. 

Mit dem ehemaligen Chef der Staatsschutzabteilung in Dessau, Sven GRATZIK, haben wir im Jahr 2011 bzw. 5 Jahre nach dem "Gedächtnisprotokoll" nochmals ein Interview geführt. Um zu erfahren, was Stand der Dinge ist und wie sich der Whistleblower heute sieht und fühlt. Und ob er nochmals so handeln würde: Fünf Jahre nach dem Protokoll.

Sie können diese Geschichte direkt aufrufen oder verlinken unter www.ansTageslicht.de/Dessau.

(JL)