Wie die Story "Opferrenten für Kriegs- und Naziverbrecher" entstand

Im Gespräch mit den beiden Journalisten

Hier rekonstruieren wir die Entstehungsgeschichte anhand von Gespräche mit  John GOETZ und Volker STEINHOFF   anhand von kurzen Erklärungen und Ausschnitten aus den Interviews. 

Die Interviews  in gesamter Länge und deren Mitschriften gibt es hier:

 

Ansonsten dokumentieren wir die entsprechenden Erinnerungen der beiden Journalisten in den einzelnen Abschnitten. Die Geschichte beginnt  mit dem Ende der Sowjetunion 1991. John GOETZ begab sich in das jetzt unabhängige Lettland, um der Frage nachzugehen, welche politischen Kräfte sich dort durchsetzen können. Es gab Gerüchte über zunehmenden Antisemitismus und eine Erstarkung der alten Nazis: 


Im Laufe seiner Recherchen stieß GOETZ auf ein weiteres, anderes Thema: Einen moralischen wie finanziellen Skandal. 


SS-Veteranen im lettischen Kriegsmuseum

Nach Gesprächen mit Holocaust-Überlebenden, u.a. mit Alexander BERGMANN, wurde John GOETZ auf die wöchentlichen Versammlungen der SS-Veteranen im Rigaer Kriegsmuseum hingewiesen. 
Sie gehörten im Zweiten Weltkrieg zur "lettischen Legion", der 15. und 19. Division der SS. Im Museum fiel John GOETZ unter anderem die Statue für Herberts CUKURS auf: ein bekannter Kriegsverbrecher. Das "Simon Wiesenthal Center" macht ihn u.a. für Massenmord und Vergewaltigungen verantwortlich.

In Gesprächen mit den Kriegsveteranen fiel immer wieder der Name der deutschen Stadt Ravensburg. Außerdem zeigten die ehemaligen SS-ler John GOETZ Rentenanträge und baten ihn um Hilfe beim Ausfüllen. John GOETZ wurde schnell klar, dass diese Männer Rentenanträge an das Versorgungsamt des Landes Baden-Württemberg in Ravensburg schickten, um von dort finanzielle Unterstützung zu bekommen. Grundlage hierfür bildete das Bundesversorgungsgesetz (BVG):


Zurück in Deutschland diksutierte John GOETZ diese Informationen mit Volker STEINHOFF, der beim NDR bzw. bei panorama  tätig war. Das Thema wurde der Redaktion vorgeschlagen. Und schnell abgesegnet. 

Volker STEINHOFF flog daraufhin im März 1993 nach Lettland, um weitere Filmaufnahmen festzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt wurde dort der 50. Jahrestag der Gründung der SS in Lettland gefeiert. U.a. erklärte sich der Verteidigungsminister zum Ehrenmitglied der SS und das lettische Parlament legte eine Schweigeminute ein. 
Außerdem führte Volker STEINHOFF Gespräche mit den Holocaust-Überlebenden und den SS-Veteranen. Es wurde deutlich, dass die eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkrieges keine Entschädigung bekamen, da diese bis 1969 einen Antrag auf Entschädigung hätten stellen müssen, was aber durch den „Eisernen Vorhang“ nicht möglich war. Gleichzeitig beschwerten sich die ehemaligen Mitglieder der „lettischen Legion“, dass sie eine deutlich geringere „Opferrente“ bekommen als ihre Kameraden in Deutschland. 
Diese Ungerechtigkeiten sind die Grundlage für den ersten Film und die weitere persönliche Arbeit der beiden Journalisten bis 1997:

Für den ersten Fernsehbericht wurden ebenfalls Gespräche mit dem Versorgungsamtleiter in Ravensburg Hans-Peter GIANMOENA, dem Leiter der "Zentralstelle Verfolgung von NS-Verbrechen" Willi DREßEN und dem Historiker  Dr. Hans-Heinrich WILHELM


Reaktionen auf den ersten panorama-Beitrag

Auf den  panorama -Bericht folgte ein großes Presseecho und im Bundestag stellten, vor allem die Fraktion B90/ Grüne mit Volker BECK Anfragen und Vorschläge zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). 
Zunächst reagierte die Politik. Rita SÜSSMUTH (ehemalige Bundestagspräsidentin) fuhr, so wie der damalige Bundespräsident Richard von WEIZSÄCKER, nach Lettland. Beide gaben Versprechen auf schnelle Hilfe und Unterstützung, die aber nicht eingehalten wurden. 
Vor allem das Finanzministerium beschwichtigte und verwies darauf, dass das BVG aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht geändert werden könne und die Zahlen des  panorama -Berichtes aus der Luft gegriffen seien. 

Volker KAUDER (CDU/CSU):  "... panorama berichtete, daß lettische SS-Veteranen für ihren Dienst in der Waffen-SS eine Kriegsversehrtenrente erhielten. Damit wurde der Eindruck erweckt, als ob allein eine Zugehörigkeit zur Waffen-SS zu einer Kriegsversehrtenrente führe. Dies ist aber falsch. Richtig ist vielmehr ... wenn während eines militärischen Dienstes eine erhebliche gesundheitliche Schädigung eingetreten ist. ... All die im Zusammenhang mit dieser Fernsehsendung in der Öffentlichkeit geäußerten Vermutungen, ... sind deshalb abwegig." 

1994 wurde es wieder ruhig um das Thema. Neue Versuche das Gesetz zu ändern oder die Überlebenden zu entschädigen, lehnte das Finanzministerium mit immer neuen Argumenten ab:

  • "Es wäre auch Aufgabe der früheren Sowjetunion gewesen ... den Opfern einen Ausgleich zu gewähren." (Dokument)
  • "Angesichts der geringen Zahl der Betroffenen seien damit zu hohe Verwaltungskosten verbunden." und

  • Eine Entschädigung würde "andere Staaten ermuntern mit ähnlichen Forderungen an uns heranzutreten" (Dokument) 

  

Weitere Recherchen

John GOETZ und Volker STEINHOFF beschlossen, weitere Fälle zur Opferrente an Naziverbrecher auch außerhalb Lettlands zu finden. 
Sie nahmen u.a. Kontakt mit jüdischen Interessensverbänden in den USA auf (American Jewish Committee, Jewish Claims Conference) und versuchten auch über die Zufallsmethode neue Erkenntnisse zu erlangen. 

Über das US-amerikanische Justizministerium bekamen sie die Rentenakte des Kriegsverbrechers Kazys CIURINSKAS zugespielt. In der konnte ganz real nachgelesen werden, in welcher SS-Einheit er diente. Er musste diese Informationen geben, um eine Opferrente aus Deutschland zu bekommen. 

Mit Hilfe des Historikers Gerhard SCHREIBER wurden die beiden Journalisten auf  Wolfgang LEHNIGK-EMDEN aufmerksam. Er lebte damals in Ochtendung, war dortiger Karnevalspräsident und auch er bekam die Opferrente. LEHNIGK-EMDEN war im Zweiten Weltkrieg an Morden an der italienischen Zivilbevölkerung beteiligt. Er tötete 22 Zivilisten, darunter zehn Kinder und fünf Frauen. Der Bundesgerichtshof (BGH) sprach ihn 1995 wegen Verjährung frei. (Urteil)

Ebenfalls konnte John GOETZ Informationen über den Kriegsverbrecher Heinz BARTH in Erfahrung bringen. Er wurde in der DDR zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Nach der Wiedervereinigung wurde ihm von Leiter des Versorgungsamtes in Cottbus eigenmächtig die Opferrente gestrichen, die aber nach einem Gerichtsurteil wieder ausgezahlt werden musste. 

Weitere Recherchen führten John GOETZ und Volker STEINHOFF zur FREISLER Witwe und Thies CHRISTOPHERSEN.

Bis zum zweiten  panorama -Bericht  1997 hielten die beiden Journalisten engen Kontakt zu Alexander BERGMANN und Andrew BAKER (American Jewish Committee, AJC). 
Mit BERGMANN führten sie einige Interviews und dokumentierten wie die Opfer des Naziregimes ohne Entschädigung Jahr für Jahr immer mehr starben, u.a. weil ihnen das Geld für Medikamente fehlte. 

Andrew BAKER gehörte zu den wenigen Menschen, die sich für das Schicksal der osteuropäischen Juden einsetzte. Als Direktor des AJC und Vizepräsident der Jewish Claims Conference setzte er die Bundesregierung unter Druck. Für seinen Einsatz wurde er in Deutschland mit dem Bundesverdienstkreuz und dem litauischen Verdienstkreuz ausgezeichnet. 
John GOETZ veröffentlichte 1995 in "Die Tageszeitung" den Artikel "Deutschlands Fürsorge für seine Verbrecher". Die Ungerechtigkeiten wurden aber erst 1997 durch einen weiteren  panorama -Bericht wieder ernsthafter in Politik und Medien behandelt. 


Steuermilliarden für Naziverbrecher und verdeckte Auszahlungen nach Dänemark

Am 30.01. 1997 folgte der Bericht "Steuermilliarden für Naziverbrecher. Deutsches Recht macht Täter zu Opfer." In diesem wurde an Rechenbeispielen gezeigt, wie viel Geld an Kriegsverbrecher geflossen ist. Die Historiker schätzten die Summe auf 637 Mio. DM allein im Jahr 1996. 

U.a. nahm die New York Times das Thema auf und veröffentlichte den Artikel "Guess Which One Reveives a War Victims Pension from the German Government"

Auch Die Zeit griff den Beitrag auf. In Zusammenarbeit mit John GOETZ veröffentlichte Thomas KLEINE-BROCKHOFF einen längeren Artikel "Zuschlag für die Täter"

Mit Hilfe von Zuschauertipps wurden John GOETZ und Volker STEINHOFF auf Auszahlungen nach Dänemark an SS-Veteranen aufmerksam. Über das Rote Kreuz sollten diese Zahlungen verdeckt bleiben. Dies wurde Thema des dritten panorama -Berichtes:


In der Zwischenzeit werden im Bundestag wieder Vorschläge zur Gesetzesänderung des BVG und Anfragen an die Regierung durch CDU, FDP und Grüne gestellt. 

Der abschließende  panorama -Bericht

Während im Bundestag noch diskutiert wurde, brachte  panorama  im August 1997 einen Beitrag, der noch einmal das Schicksal der lettischen Juden aufgreift. Zusammen mit dem Archivmaterial der vorangegangenen Beiträge, spielt hier Alexander BERGMANN eine tragende Rolle. Er muss den Tod von immer mehr Holocaust-Überlebenden beklagen. Die Bonner Regierung scheint einfach abzuwarten. Die wahren Opfer der NS-Zeit haben immer noch keinen Pfennig Entschädigung erhalten. 

Diese Polarisierung, das Gegenüberstellen der als Kriegsopfer bezeichneten Täter von damals und der wirklich als Opfer zu bezeichnenden Juden und anderen Verfolgten, kennzeichnet diese Berichte. Indem klar gesagt und gezeigt wird, dass die Täter Geld bekommen und die Opfer leer ausgehen, erreichten GOETZ und STEINHOFF eine hohe Aufmerksamkeit erst von anderen Medien und der Öffentlichkeit und schließlich dann auch in der Politik.

Das Fazit der beiden Journalisten

Beide Journalisten ziehen ein positives Fazit aus den panorama-Berichten. Volker STEINHOFF weist daraufhin, dass es niemanden gab der sich sonst um diese Ungerechtigkeit gekümmert hätte. John GOETZ gibt zu, dass er damals mit viel Leidenschaft an dem Thema gearbeitet hat und im Bewusst ist, dass er etwas mit seiner Arbeit verändern konnten:

 

Die offizielle Antwort des Ministeriums aus dem Jahr 1994

Hier die Anfrage von panorama an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 1994 und die Antworten des Ministeriums, in denen (fast) alles abgestritten wird. Der zuständige Minister hieß Norbert BLÜM, CDU: