Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 17.12.2014

Alle gegen Alles

Was treibt die Dresdner montagabends auf die Straße? Worauf sind die einen wütend und worauf die anderen? Beobachtungen am Rand.


In der Katholischen Hofkirche beginnt gerade die Abendmesse. Ein Bettler hockt vor der Tür und hält einen Becher hoch. In den Fenstern der Stadtrundfahrt-Busse vorm Italienischen Dörfchen flackert Blaulicht. Durchdringend riecht es nach Pferdemist. Polizeiautos mit der Werbeaufschrift "Verdächtig gute Jobs" halten die Straße frei. Das hier ist wahrscheinlich kein guter Job.

"Unserer Polizei" wird ausdrücklich gedankt - auf der anderen Seite der Stadt, damit klar ist, zu wem die Polizei gehören sollte. Hier die einen und dort die anderen. Das ist nun Normalität in Dresden. Die Medien der Welt nehmen Anteil. In der Regel haben sie das Phänomen vor der eigenen Haustür. Neu sind die Risse auch hier nicht. Sie waren bloß nicht so deutlich sichtbar, außer bei Wahlen. Da geht die Hälfte nicht hin. Jetzt gehen Tausende hin, "auf die Straße, auf die Straße", skandieren sie bei Pegida, werbewirksames Kürzel für die Anti-Islam-Bewegung.

Seit Ende Oktober wächst die Menge von einigen Hundert Demonstranten in die Tausende. "Du parkst am besten am Zwinger und kommst hergelaufen", sagt ein Wollmützenträger ins Handy. "Wie das hier heißt? Lingen, glaub ich." Die Lingner allee ist keine richtige Allee, mehr ein verlängerter Parkplatz. Am Tag rollen Skater über die Bahnen. Eine riesige Figurengruppe ragt in den Abendhimmel.

Der Dresdner Bildhauer Vinzenz Wanitschke, für liebenswürdige Kleinplastiken berühmt, bekam Ende der Siebzigerjahre den Auftrag vom Rat der Stadt zu einer Skulptur. Er hat sich damit schwergetan. Das Thema war schwierig und kaum darstellbar. An diesem Abend wirkt es wie Hohn: proletarischer Internationalismus.

An diesem Abend wird die deutsche Heimat beschworen, und wem das deutsche vor Heimat nicht passe, könne ja gehen. Zustimmendes Grölen. Deutschlandfahnen werden geschwenkt, einige Sachsenfahnen. Die Gemengelage ist gespenstisch, aggressiv und bedrohlich. Dagegen helfen Etiketten wie "Nazis in Nadelstreifen" oder gar "Mischpoke" nicht weiter; klar, dass der Redner des Abends auf solche Angriffe reagiert. Publikumsbeschimpfung war eine launige Theateridee, sie funktioniert nur auf der Bühne. Es ist viel wirksamer, den Leuten nach dem Mund zu reden. "Ihr seid Verlierer? Gewinner seid ihr!" AfD-Politiker Gauland gibt sich als Gast bei Pegida gern zu erkennen. Hier findet einer wie er seine Leute.

Immer mehr strömen hinzu. "Mut zur Wahrheit" steht auf einem Plakat, "Kein Krieg in Europa" steht auf einem anderen. Wer würde sich das Gegenteil wünschen. Hier und da brennen Kerzen auf dem zugigen Platz, entstehen Gespräche. Eine ältere Frau erzählt einem jungen Pärchen empört, wie am Görlitzer Park die Zahl der Ausländer von fünfzig auf fünfhundert gestiegen sei. Die Jungen sagen, dass sie den Zustand genauso schlimm finden. "Ach, Sie kennen das?", fragt die Frau interessiert. Der junge Mann nickt. "Wir kommen aus Görlitz." Die Frau stutzt, runzelt die Stirn. Pause. "Ich meine den Görlitzer Park in Berlin."

Ordner mit weißen Armbinden regeln den Zulauf, Türstehertypen, als Profis erkennbar. Es sind sowieso sehr viel mehr Männer als Frauen auf dem Platz, mittelgroße, kompakte Gestalten. Wäre die ältere Frau vom Park alt genug, könnte sie vom sächsisch-meißnischen Stamm reden. Es würde zur Veranstaltung passen. Die Musik vom Gegenprotest stört vielleicht in der Nähe; die Menge nicht.

Politiker und Polittheoretiker rätseln seit Wochen über die Motive jener, die sich montags zum sogenannten Abendspaziergang in Dresden treffen. Wutbürger? Angstbürger? Wirre Wohlstandsbürger? Enttäuschte Wendeopfer? Abstiegsbesorgte Mittelständler? Nagelstudiobesitzerinnen, die ihre Interessen von den alten Parteien nicht vertreten fühlen? Pegida vereint sie alle. Ein diffuser Mischmasch. Die wachsende Zahl von Asylsuchenden mag eine Rolle spielen. Die "Islamisierung des Abendlands" kommt an diesem Montag nicht vor. Anderes schon. Rechtsextremisten mischen sich rein. Der Unterschied zwischen dem veröffentlichten Pegida-Programm und öffentlichen Auftritten ist erheblich.

In der City-Herberge an der Lingner allee treten Besucher auf den Balkon. "Premiumreisen" steht auf einem Bus. Ein buntes Fernsehbild flimmert in einem Hotelzimmer. Eine Frau schließt das Fenster mit einem Ruck. Das wird nicht helfen. Die Pegida-Chefs lassen sich ihre Technik was kosten. Die Mauern der Skaterbahn sind von Demonstranten und Ordnern besetzt.

Von dort erklärt ein Mann, dass er nicht möchte, dass sich sein Großvater als Täter fühlen müsse, weil er bei der SS war. Und dass früher ohnehin alles anders war, als die behaupten. Sobald es gegen "die" geht, sind sich die Leute einig. Differenzierter muss das Feindbild nicht werden. Wir hier unten, die da oben; diese einfache Rechnung scheint vielen zu genügen. Ein anderer Mann setzt die Täter-Diskussion mit Zahlen der Dresdner Toten im Zweiten Weltkrieg fort. 25 000? "Alles gelogen!" Er weiß es besser. Um die beiden bildet sich eine Gruppe, Ältere, Jüngere, es sind hörbar Hiesige. Jeder hat etwas anderes beizusteuern. Gründe zur Empörung gibt es genug. Die Szene könnte aus einem Kabarett-Programm stammen. Dann wäre sie lustig.

Ein Graukopf mit warmem Mützenschiffchen geht nicht ganz so weit zurück in die Vergangenheit. "Wie war es denn mit unserm Betrieb, mit dem Schreibmaschinenwerk?!", fragt er in die Runde. "Das wurde für eine D-Mark verkauft, für eine D-Mark! Und dann wurden die Maschinen verscherbelt für viel Geld, davon hat keiner was gesehen, mit kyrillischen Buchstaben drauf." Es bleibt offen, ob die Käufer oder die Maschinen aus Russland kamen.

Das Stichwort genügt. "Über vierzig Jahre lang", sagt ein anderer Mann, "waren wir von den Russen besetzt, deshalb sind wir doch keine Russen geworden. Aber jetzt mit der Scheißgentrifizierung müssen plötzlich alle Englisch können." Übereinstimmendes Nicken in der Gruppe. Was Gentrifizierung auch immer bedeuten mag - Großstadtviertel verlieren ihren Charakter, wenn nach der Modernisierung Reiche einziehen und Arme weg -, Hauptsache, dagegen. Eine Graulockige bringt ihre Englischerfahrung mit "Coffee to go" ein und findet Beifall, obwohl mancher in der Runde bestimmt originellere Beispiele kennt. Es kommt gar nicht drauf an, ob es um den Euro geht oder die Rundfunkabgabe, stereotyp heißt es: "belogen und betrogen". Die Szene ist nicht lustig.

Das liegt auch an dem Ton, der jedes "Buh" und jedes "Pfui" der Menge begleitet. Der Ton klingt dumpf. Auch der Ruf "Wir sind das Volk", der in jenem Herbst '89 so viel Hoffnung und Heiterkeit mittrug, selbst dieser Ruf klingt rabiat, wenn er jetzt in einer Welle über den Platz schwappt und später durch den Demonstrationszug zum Strassburger Platz und weiter zum Dynamo-Stadion. Immer mal schert einer der Männer aus und geht in die Büsche. Spaziergang könnte was Schönes sein. Harmlos.

Es dauert eine Weile, bis die Straßenbahnen wieder über den Platz fahren können. Viele Leute mit Weihnachtseinkäufen sitzen darin. Der Alltag ist anderswo weitergegangen. Ein Bildschirm in der Bahn zeigt die Haltestellen an, der andere bringt Werbung. Auf einmal taucht ein gelber Schriftzug auf. Er behauptet: "Wir stehen für ein weltoffenes Dresden."

Ähnliche Schilder kleben in der Stadt an Haltestellen und Wänden. Es hat eine Weile gedauert, bis die Protestkundgebung von "Dresden nazifrei" vor dem Bahnhof Neustadt in Gang kommt. Einer hat die Spielregeln vorgelesen. Ein Hund darf nur als Blindenhund mit, Alkohol gar nicht, die Größe der Plakate ist exakt festgelegt. Die Bürokratie regelt alles. Widerwärtige Ausfälligkeiten im Internet regelt sie nicht. Das Weihnachtsbaumimitat in der Bahnhofshalle wird von einer Kordel geschützt.

Draußen auf dem Lautsprecherwagen sucht ein junger Mann Freiwillige, die sich als Ordner melden. Er muss mehrfach rufen, bis die nötige Zahl zusammenkommt. Das können die anderen besser. Drei Jugendliche in Kapuzen shirts reden halblaut über den nächsten Urlaub: rüber nach Paris, Versailles gucken, dann runter nach Italien.

Auf dem Weg über die Augustusbrücke ist die Menge schnell größer geworden. "Wer wird denn rumstehn, wir wolln euch tanzen sehn, und dann laut rumschrein." Die Protesthymne donnert. Zwei Schülerinnen kommen lachend mit Bratwurstsemmeln vom Weihnachtsmarkt am Goldenen Reiter herbeigerannt. Bratwurst ist erlaubt.

Die junge Frau auf dem Lautsprecherwagen erklärt: "Wir wollen verhindern, dass die Vorurteile und Ressentiments der Stammtische in die Öffentlichkeit getragen werden." Kann ja sein, dass Vorurteile und Ressentiments dann von selbst verschwinden. Eher nicht. Der Lautsprecherwagen rollt weiter, die Gruppe junger Leute läuft hinterher. Viele ältere laufen mit, paarweise oder allein, sie wechseln kurze Blicke. Kein Zunicken, und doch was Gemeinsames: Sorge, Trotz, Furcht. Der Mann mit Bart und Baskenmütze ähnelt Thierse.

Später vor dem Neustädter Bahnhof kehrt ein dünner Mann mit Besen und Schaufel an langen Stielen die Kippen weg. Der Mann arbeitet schnell. Bald sieht es aus wie nichts gewesen.