Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 14.02.2015

Aus meiner Sicht - Der Aufstand der Provinz

Von Frank Seibel

Erschrocken blickten wir Montag für Montag nach Dresden: Woher kommt die Wut von "Pegida"? Vielleicht auch aus Seifhennersdorf.


Hat das "Prinzip Pegida" seine Wurzeln in einer kleinen Stadt am Rande und nicht in der Hauptstadt? In einem Städtchen, das binnen zwanzig Jahren von 10 000 Einwohnern auf 4 000 geschrumpft ist? Ist die Wutwelle der vergangenen Monate eher vor einer Schule entstanden als vor einem Asylbewerberheim? Stand am Anfang des großen Aufstandes ein gebrochenes Politiker-Versprechen? Vielleicht ist die Geschichte der "Schulrebellen" von Seifhennersdorf ein Beispiel dafür, wie Enttäuschung in Zorn umschlagen kann. Vielleicht ist sie aber auch das Gegenteil von "Pegida" - ein positives Beispiel für bürgerschaftliches Engagement.

Am 1. September 2012 hat in Seifhennersdorf so etwas wie ein neues Kapitel in der Geschichte des Freistaates begonnen. Sechs Wochen zuvor waren 40 Familien mit der Gewissheit in die Ferien gestartet, dass ihre Kinder weiterhin am gleichen Ort zur Schule gehen können. Zum Stichtag im Frühjahr hatte es 41 Anmeldungen für die 5. Klasse gegeben. Kultusministerin Brunhild Kurth hatte zuvor versprochen, dass die neue fünfte Klasse an der Oberschule starten kann, wenn Anmeldungen für zwei Klassen zu jeweils mindestens zwanzig Schüler vorliegen.

Nach den Sommerferien war alles anders. Einige Kinder sind noch nachträglich fürs Gymnasium zugelassen worden, die Mindestmarke wurde unterschritten, das Versprechen der Ministerin löste sich in Luft auf. Nun standen die Zeichen wieder auf Schulschließung - so wie es der Kreistag zunächst 2006, und, nach der Kreisreform, noch einmal 2008 beschlossen hatte. Laut Prognosen würden die Schülerzahlen nicht mehr für alle Schulen im südöstlichen Zipfel der Oberlausitz ausreichen.

Da standen Eltern und Großeltern nun stolz und trotzig an diesem ersten Schultag und haben alle überrascht. Statt auf die amtliche Post aus Dresden mit Rückzug zu reagieren und ihre Kinder brav auf umliegende Schulen zu schicken, haben sie gewissermaßen eine eigene Schule gegründet. Drei, vier Lehrer, die ihre Freizeit für eine gute Sache hergaben, Eltern, die Stundenpläne schrieben und mit ihren Kindern nachmittags Hausaufgaben machten. "Schulrebellen" nannten sie sich trotzig und erregten schnell bundesweit Aufmerksamkeit.

Sie taten das, was ihnen jahrelang aufgetragen wurde: Seid mündig, organisiert euer Leben, überlasst nicht alles dem Staat, gestaltet eure Lebenswelt so, wie es euch wichtig ist. Das war das Credo des liberal-konservativen Mutmachers Kurt Biedenkopf gewesen. Sicher ist es Zufall (oder vielleicht doch nicht?), dass nach dem Abschied von "König Kurt" im Freistaat etwas zu brodeln begann. Heute ist es fast vergessen, dass es einmal ein Volksbegehren gegen die sächsische Schulpolitik gegeben hat. Die Schulrebellen von Seifhennersdorf waren ein Hunderttausendstel aller Unzufriedenen, die mit ihrer Unterschrift das Volksbegehren "Zukunft braucht Schule" unterstützt hatten. Insgesamt 230 000 Menschen hatten den Protest in mehreren Etappen mit ihren Unterschriften getragen. Der Protest blieb folgenlos, weil es noch viel mehr hätten sein müssen, um eine gültige Abstimmung aller Sachsen zu ermöglichen.

Unterschriften und Plakate reichten nicht, auch ein Moratorium des Kreistages von Löbau-Zittau konnte im Jahr 2012 die Schulschließungen nicht stoppen. Dann kamen zwei Dutzend Familien aus der Provinz, stellten sich quer, nannten sich "Schulrebellen", und schon rückten Fernsehteams aus ganz Deutschland an. Nach dem Protest gegen den Bahnhofskoloss "Stuttgart 21" nun auch im letzten Winkel von Deutschland echte Wutbürger. Exotisch. Hier wagten es Menschen, vor aller Augen etwas "Illegales" zu machen, was doch kaum jemand für wirklich schlecht halten konnte. Die Kinder lernten, gingen gern zur Schule, und die Lehrer nahmen sich viel Zeit, den Unterricht vorzubereiten. Dennoch bekamen die Familien nach und nach Bußgeldbescheide¨- denn Schule macht nur der Staat oder aber ein Verein, dem das ausdrücklich erlaubt wird.

Ein Faszinosum, ein Rätsel: Was machten die da in Seifhennersdorf? Das fragten wir uns auch immer wieder in der Redaktion. Ist das kühn, tollkühn - oder einfach nur renitent? Wir und andere Medien erzählten über die Schulrebellen mal anerkennend, mal verwundert, mal genervt, mal ratlos. Die Rechtslage schien ja klar: Der Kreistag hatte beschlossen, die Schule zu schließen, damit andere Schulen leben können. Solidarität in der Region, über den eigenen Kirchturm hinaus. Vernünftig, einerseits. Andererseits auch irgendwie merkwürdig, lieber Kinder in Bussen durch die Welt zu schicken als Lehrer. Vernünftig, lieber eine Schule weniger zu erhalten und dafür andere besser auszustatten. Aber seltsam, dass die Kinder kaum noch Zeit haben, in den Sportverein oder zur Musikschule zu gehen oder einfach nur Freunde zu treffen, wenn sie morgens und nachmittags jeweils eine Dreiviertelstunde im Bus sitzen.

Da war und ist diese Bürgermeisterin, die sich und ihre um Dreiviertel der Einwohner geschrumpften Stadt gerne als Opfer von Verschwörungen sieht; die Behördenwillkür und falsche Zahlenspiele anprangert; die sich gegen den Verlust ihrer Schule stemmt, wie ein Dreijähriger an der Supermarktkasse Bonbons einfordert: Ich will, uns steht das zu ... Die Bürgermeisterin, Karin Berndt (parteilos), hat 1989/90 aktiv an der friedlichen Revolution mitgewirkt. Jetzt zieht sie Parallelen zur Endzeit der DDR mit ihren selbstgefälligen, bornierten Bonzen.

Herrje, nun übertreiben sie's aber mit dem Protest, dachte ich irgendwann. Auch die Bürgermeister der umliegenden Orte wurden zunehmend ärgerlich: lokaler Egoismus auf Kosten der anderen?

Ich habe mich dabei beobachtet, wie der Respekt für das Engagement der Eltern und ehrenamtlichen Lehrerinnen überlagert wurde vom Ärger über Kirchturmdenken und Starrsinn.

Doch dann haben die Schulrebellen die Welt aus den Angeln gehoben. Mit den Mitteln jenes Rechtsstaates, an dem sie langsam glaubten, verzweifeln zu müssen. Ihre Klage gegen den Schulnetzplan des Landkreises, der die Schließung der Seifhennersdorfer Schule vorsah, war schon wieder zu kompliziert, um öffentlich wirklich wahrgenommen und verstanden zu werden. Manche Eltern hatten sich in Nachtschichten, nach dem Organisieren des "illegalen" Schulbetriebes und nach der Hilfe bei den Hausaufgaben ihrer Kinder, in den Paragrafendschungel begeben und Wege zu ihrem Ziel gesucht.

Ernst genommen hat sie in dieser Phase kaum jemand. Die Leute "oben" im Ministerium, die Mitarbeiter der Bildungsagentur, das Landratsamt - und immer wieder haben auch wir Journalisten mit den Augen gerollt: Was soll das denn noch! Es ist doch alles demokratisch entschieden vom Kreistag, bestätigt vom Ministerium. Und so schlimm ist es doch nicht, wenn Seifhennersdorf eben nur noch eine Grundschule und ein Gymnasium hat, aber keine Oberschule mehr.

Als das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe entschied, dass die Schulrebellen recht hatten mit ihrer Klage gegen das sächsische Schulgesetz, da berichteten die sächsischen Medien noch einmal etwas ausführlicher. Kamerateams hatte man da schon lange nicht mehr gesehen in Seifhennersdorf - und auch jetzt nicht. Vielleicht war die Nachricht zu unglaublich, um wirklich wahrgenommen zu werden: Eine Ministadt in der sächsischen Provinz kippt das Schulgesetz des Freistaates Sachsen. Vielleicht war das aber auch einfach zu abstrakt und kompliziert: Paragrafen, kommunale Selbstverwaltung, Preußisches Kommunalrecht aus dem Jahr Achtzehnhundertsonstwas.

Am 12. Dezember 2014 haben die Schulrebellen gewonnen, aber sie konnten ihren Sieg nicht feiern. Weil sie müde und mürbe waren. Weil wir - auch ich - ihnen den Sieg nicht zugestehen wollten. (War es nicht doch ein Sieg des bornierten Kirchturmdenkens ...).

Mittlerweile ist ziemlich klar, dass es erst einmal weitergehen kann mit der Oberschule Seifhennersdorf. Die "Schulrebellen" selbst werden vielleicht gar nichts davon haben, weil ihre Kinder nun doch auf eine andere Schule gehen und sich dort wohlfühlen. Aber die Anforderungen für eine neue fünfte Klasse sind deutlich niedriger als vor drei Jahren. 25 Kinder - das sollte zu schaffen sein. Der Aufstand gegen den Freistaat ist geglückt, weil "die da unten" gute Anwälte hatten und "die da oben" von "denen noch weiter oben" ausgehebelt wurden.

Ich weiß nicht, ob von den "Schulrebellen" jemand mitdemonstriert hat in Dresden. Aber nach vielen Diskussionen mit Kollegen und anderen aufmerksamen Menschen glaube ich, dass sich Menschen von diesem Schlag in jener Masse versammelt haben, die wochenlang vor allem als ausländerfeindlich wahrgenommen wurden, weil die "Performance" von Pegida allzu dumpf geraten ist. Von fremdenfeindlichen Ressentiments habe ich nie etwas gehört oder gespürt in vielen Gesprächen mit den "Rebellen". Aber von einem Gefühl des Vergessenseins, des Abgehängtseins; verloren in der Provinz. Stattdessen von einem schier grenzenlosen Bemühen, etwas Gutes für die Zukunft ihrer Kinder und ihrer Heimat zu tun.

Sie haben ganz viel erreicht. Aber die Freude über juristische Siege wird überlagert von Müdigkeit und Bitterkeit. Die "Schulrebellen" haben genau registriert, wie die Ministerin, die einst ihr Wort gebrochen hatte, kürzlich im benachbarten Zittau war, um einen Fördermittelbescheid für eine Schulsanierung zu überreichen und dafür Dank und Applaus entgegenzunehmen. In Seifhennersdorf war Brunhild Kurth an jenem Tag nicht. Ein Wort der Entschuldigung hätten die Eltern erwartet, vielleicht sogar ein Wort des Dankes für ihr außerordentliches Engagement.

Stattdessen denken Minister und Abgeordnete in der Landeshauptstadt darüber nach, wie es nur zu dieser gruseligen Hassbewegung "Pegida" kommen konnte. Sie finden einfache Antworten: Der Islam gehört nicht zu Sachsen; abgelehnte Asylbewerber sollten konsequent abgeschoben werden, und auf alleinstehende Männer aus Nordafrika passen Sonderkräfte der Polizei auf. Das ist oberflächlich und billig.

Die Fokussierung auf die Facette "Fremdenhass" verstellt den Blick auf andere Ursachen von "Pegida", die hausgemacht sind und vor allem eines erforderlich machen: die Abkehr von der Selbstgerechtigkeit.

 


Unser Autor

Frank Seibel arbeitet seit 1998 als Redakteur der Sächsischen Zeitung in der Oberlausitz. Seit zweieinhalb Jahren verfolgt er intensiv den Kampf der Seifhennersdorfer um ihre Schule.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.