Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 27.01.2015

Das Volk ist, wer am lautesten brüllt

Von Marcus Krämer

Direkte Demokratie ist eine Kernforderung von Pegida und AfD. Sie ist auch ein Traum von vielen Linken. Wem also nützen Volksentscheide?


Bei all den Analysen und Talkshows über Islam und Asyl bleibt eine Kernfor derung der Pegida-Bewegung bisher unterbelichtet. Sie findet sich sowohl in deren 19-Punkte-Papier als auch in der Sechs-Punkte-Zusammenfassung. Darin heißt es: "Wir fordern die Ermög lichung direkter Demokratie auf Bundes ebene auf der Basis von Volksentscheiden." Bei der Kund gebung am vorigen Sonntag rief Pegida zu einem Volks begehren für mehr Stellen bei der Polizei auf. Letztlich erschallt in diesem Kontext auch der Ruf der Menge: "Wir sind das Volk!"

Die Forderung nach direkter Demokratie und Volksentscheiden war in der öffentlichen Wahrnehmung bisher vor allem ein Thema von linken Parteien und Bewegungen. Sowohl die SPD als auch die Linke sprechen sich in ihren Parteiprogrammen dafür aus, Volksentscheide auf Bundes ebene einzuführen. Obgleich der Libe ralismus dem ungezügelten Volks willen skeptisch gegenübersteht, werden sogar im Programm der FDP Volksentscheide befürwortet. Und in der Debatte der letzten Wochen werden von linksliberalen Intellektuellen gerne direkt demo kratische Elemente zur Sprache gebracht, als Allheil mittel gegen Politikverdrossenheit und Entfremdung von der parlamentarischen Demo kratie.

Die linke Sympathie für Abstimmungen durchs Volk ist nicht unverfänglich. Denn die Berufung auf den unmittelbaren Volkswillen hat zumal in der rechtskonservativen Ideengeschichte Tradition, bis in die Gegenwart. Die AfD fordert in ihren Leitlinien "Volksabstimmungen und Initiativen nach Schweizer Vorbild". Morgen debat tiert der sächsische Landtag über Volksentscheide auf Bundes ebene - auf Antrag der AfD. Auf die Schweiz beruft sich auch Pegida. Die NPD verlangt in ihrem Programm "Volksentscheide auf allen Ebenen ".

Die linke Sehnsucht erscheint auch deshalb etwas arglos, weil die Ergebnisse von Volksentscheiden tendenziell eher rechte und konservative Positionen begünstigen. Das zeigen internationale Vergleiche über einen langen Zeitraum hinweg. Ein markantes Beispiel der jüngeren Zeit ist etwa das Verbot für den Bau von muslimischen Minaretten, das 2009 in der Schweiz per Volks abstimmung durchgesetzt wurde. Die Wirklichkeit zeigt zudem, dass die Wahl betei ligung bei Volksentscheiden meist deutlich geringer ist als bei Parlamentswahlen. Es nehmen überproportional viele Gutverdiener und Gebildete teil - mithin nicht die klassische Klientel linker Parteien , sofern sie für die Interessen ein facher Arbeiter und Geringverdiener eintreten.

Auch in theoretischer Hinsicht kommt direkte Demokratie einer konservativen Politik entgegen. So liegt es auf der Hand, dass sich bei konkreten Entscheidungen in der Regel leichter Stimmen gegen Veränderungen mobilisieren lassen als dafür. Auf bloße Ja-Nein- Fragen antworten die meisten Menschen naturgemäß eher ablehnend gegenüber Vorhaben, die Wandel und Ungewissheit mit sich bringen. Reformen und progres sive Politik, traditionell linke Anliegen, sind bei direkter Volks befragung schwerer durchzusetzen als in parlamentarischen Verhandlungen, die zu Kompromissen führen können.

Die Themen Asylpolitik und Zuwanderung sind Beispiele dafür , dass sich manche politischen Entscheidungen kaum auf ein simples "Ja" oder "Nein" reduzieren lassen. Selbst die Pegida -Wortführer betonen, sie seien gar nicht gegen Zuwanderung oder Asylrecht an sich. Hinzu kommt, dass bei Volksentscheiden jede Minderheit überstimmt werden kann. Auch dies ist kaum im Sinne derer, die sich sonst für Minderheitenschutz und die Rechte von Schwachen und Unterdrückten einsetzen.

Das linke Liebäugeln mit direkter Demokratie ist gelegentlich auch blind für die historischen Fakten. Dass im Grund gesetz Volksabstimmungen auf Bundesebene oder auch eine direkte Wahl des Präsidenten nicht vorgesehen sind, ist vor allem auf die Erfahrung der Weimarer Republik sowie der anschließenden Diktatur der Nationalsozialisten zurückzuführen. Die noch viel ältere Idee der parlamentarischen Demo kratie fußte schon immer auf der Gewissheit, dass das "Volk" sich ebenso als Monster entpuppen kann wie jeder andere Herrscher auch. Deshalb wird die Machtstruktur so konstruiert, dass der reinen "Volks-Herrschaft" Zügel angelegt werden, etwa durch Gewaltenteilung und reprä sentative Formen der Abstimmung, nämlich durch gewählte Parlamente.

Dabei beschrieb schon einer der frühesten Verfechter dieser Idee, der englische Philosoph John Stuart Mill, im Jahr 1861 eine Schwäche solcher Staatsformen: "Reprä sentative Institutionen sind wenig wert, wenn sich die Mehrheit der Wähler nicht ausreichend für ihre eigene Regierung interessiert, um ihre Stimme abzu geben." Auf diese Schwachstelle zielen seit jeher auch die Gegner der parlamentarischen Demokratie. Sie sehen in der Bändigung des elementaren Volkswillens eine Deformation.

Einer der prominentesten Widersacher war der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt. Er wird bis heute, nicht nur von Rechtsintellektuellen, wegen seiner brillanten und scharfsinnigen Analysen vergöttert. Zugleich wird er, vor allem von Linksintellektuellen, als "Kronjurist des Dritten Reichs" verteufelt, weil er offen mit den Nationalsozialisten sympathi sierte. Schmitt war kein Freund des parlamentarischen Systems. Es widersprach seiner Vorstellung vom Wesen des Politischen: Er glaubte an ein striktes Freund-Feind Schema sowie an die Ur gewalt von "Nation " und "Volk". Auch heute wird wieder zunehmend über das "Geschwätz" parlamentarischer Gremien geschimpft. Zu langsam und zu langweilig finden viele diese Demokratieform. Der Hohn an den Stamm tischen findet seine intellektu elle Bestätigung im Werk Carl Schmitts.

Seine Schrift "Volksentscheid und Volksbegehren" aus dem Jahr 1927 liest sich stellenweise wie eine Blaupause für die Dresdner Straßenproteste. Deren Kritiker betonen, der Ruf "Wir sind das Volk" sei wider sinnig, weil Tausende Demonstranten keineswegs die Mehrheit bildeten. Dem hielt Schmitt ein verführerisches Argu ment entgegen: Es könne durchaus "auch eine zahlenmäßige Minderheit als Volk auftreten und die öffent liche Meinung beherrschen, wenn sie nur gegenüber einer politisch willenlosen oder un interessierten Mehrheit einen echten politischen Willen hat".

Diese Überlegenheit, so Schmitt, gebe jeder Menge die Möglichkeit, "sich unmittel bar als Volk zu bezeichnen und ihren Willen mit dem des Volkes zu identifizieren". Es sei dann ein leichtes Spiel, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen und die Volksabstimmung zu entscheiden. Auch der Liberale John Stuart Mill meinte: "Ein Einzelner mit einer Überzeugung ist eine soziale Macht, vergleichbar mit neunundneunzig, die bloß Interessen haben." Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt hin zu der koketten Logik : Das Volk ist, wer am lautesten brüllt - selbst dann, wenn Zigtausende Demonstranten überall in Deutschland dagegenhalten.

Die modernen Wutbürger können sich noch einen weiteren Satz Carl Schmitts auf die Fahnen schreiben: "Volk sind eben diejenigen, die keine behördlichen Funktionen haben , die nicht regieren." Demnach repräsentieren auch Parlamente nicht notwendig den Volkswillen. "Das restlos formalisierte Volk", schrieb Schmitt 1927, "verliert seine leben dige Größe und Kraft." Wohin diese Größe und Kraft ein Volk tragen können, haben die Deutschen bald darauf eindrucksvoll bewiesen.

Repräsentative Institutionen sind wenig wert, wenn sich die Mehrheit der Wähler nicht ausreichend für ihre eigene Regierung interessiert, um ihre Stimme abzugeben.

Auch eine zahlenmäßige Minderheit kann als Volk auftreten, wenn sie gegenüber einer politisch willenlosen Mehrheit einen echten politischen Willen hat.