Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 04.05.2015

Der Anecker

Dieter Müller bildet Kommissare aus. Er kennt das Innenleben der Polizei in Sachsen. Es gibt viel Frust - über Pegida, aber auch über den Innenminister. 

Die Uhr zeigt 11.45 Uhr, höchste Zeit für den Unterricht. Die Luft im Seminarraum ist stickig, es riecht nach Filzteppich und kaltem Beton. Aus den Thermoskannen dampft Kaffee. Die Uniformen der angehenden Kommissare sitzen. Ordner und Stifte liegen bereit. Vor ihnen in der Polizeihochschule im ostsächsischen Rothenburg steht Professor Dieter Müller. Ergrautes Haar, schmale Lippen, mildes Lächeln. Die Hände hat er in den Taschen seiner Jeans, er trägt weißes Hemd und dunkles Jackett.

Es geht um Verkehrsüberwachung. Müller redet Klartext: "Vielen Ihrer Vorgesetzten wird es künftig nur um die Bilanz gehen, damit sie vor dem Innenministerium gut dastehen." Bei den Kommunen sei es nicht anders. "Hauptsache die Bußgeldeinnahmen sind hoch." Die Verkehrssicherheit trete in den Hintergrund.

Der 56-Jährige kritisiert das seit Jahren. In einem wissenschaftlichen Artikel von 2011 beschrieb Müller Standblitzer als unsinnig, weil fast jeder Autofahrer sie kenne. Für Falschparker hingegen forderte er härtere Strafen, da die geringen Bußgelder das Verhalten nicht änderten. Ebenso kritisch beäugte er die Politik des damaligen Bundesverkehrsministers Peter Ramsauer (CSU) ein Jahr zuvor, warf ihm Rechtsfehler vor. Die Artikel hatten Folgen.

An einem Freitag Anfang Dezember 2011 musste Müller im Dresdner Landespolizeipräsidium antreten. Vier ranghohe Polizeifunktionäre hätten ihm im Auftrag von CDU-Innenminister Markus Ulbig gegenübergesessen, erinnert sich Müller. "Mir wurde untersagt, künftig im Namen der Hochschule zu publizieren." Ihm sei gesagt worden, dass mit weiteren Veröffentlichungen der Eindruck entstehen könnte, er äußere sich im Namen des Freistaats. Das solle vermieden werden. Auch der damalige Prorektor der Hochschule war dabei und erinnert sich daran, wie man Müller einen Maulkorb verpassen wollte.

Dreieinhalb Jahre später scheint dem Innenministerium dieses Gespräch immer noch etwas peinlich zu sein. Zu Personaldingen äußere man sich generell nicht, heißt es. Mehr ist nicht zu erfahren.

Müller frustriert diese Art von Politik. "Bei der Polizei ist Ehrlichkeit oft ein Hindernis für die Karriere." Darum bemüht er sich, seinen Studenten von Beginn an die eine oder andere Illusion zu rauben. "Erwarten Sie nicht, dass das Innenministerium sich für die wissenschaftlichen Arbeiten, die Sie einschicken, interessiert, egal wie brillant sie auch sein mögen." Während er an den Stuhlreihen entlangspaziert, doziert er weiter. Wer mit blindem Idealismus auf die Straße komme, werde von der Realität geohrfeigt, sagt er. "Sie werden Ihren Kopf als Polizist immer wieder für Politiker hinhalten und ihre Fehler ausbaden müssen."

Der Hochschullehrer weiß, wovon er spricht. Als Dienstältester in Rothenburg hat er in den vergangenen 20 Jahren etwa 2 500 Kommissare ausgebildet. Schon als Kind, sagt der gebürtige Niedersachse, habe er zur Polizei gewollt. Schließlich war auch sein Vater Polizist.

Für die neue Polizistengeneration sei die Sicherheit des Beamtenstatus das Hauptmotiv, sagt er. Einige aber seien auch noch Idealisten, so wie er selbst. Etwa die Hälfte der jährlich rund 130 Studenten kommt aus dem Bereitschaftsdienst. Die anderen haben gerade ihr Abitur gemacht oder studiert, Informatik oder Ökonomie zum Beispiel. Nur Künstler gibt es keine. Denen wird mitunter besonders viel Zivilcourage nachgesagt. Doch Gehorsam steht Staatsdienern ohnehin besser, schließlich sollen sie Verordnungen von oben protestlos hinnehmen. Müller weigert sich, das zu akzeptieren.

Besonders mit seinem obersten Dienstherrn geht er hart ins Gericht, verübelt Innenminister Ulbig den geplanten Stellenabbau. Vor allem jetzt, da montägliche Pegida-Demonstrationen und immer mehr Hochsicherheitsspiele im Fußball die sächsische Polizei an die Grenzen ihrer Einsatzbereitschaft bringen. "Davon hat Ulbig keine Ahnung, der Berufsalltag der Polizei interessiert ihn nicht genug", sagt Müller. "Er kommt höchstens mal zum Repräsentationsbesuch. Dann glänzt das Revier natürlich, und es sind nur ganz bestimmte Polizisten da." Bundesinnenminister Thomas de Maizière, ebenfalls aus Sachsen, kommt bei Müller deutlich besser weg. "Er lebt das C der CDU noch, anders als seine meisten Kollegen." Das Christsein, es ist wichtig im Leben des Professors.

Gemeinsam mit Ursula von der Leyen wurde er im Ort seiner Kindheit und Jugend, in Ilten bei Hannover, konfirmiert. Dort, in Niedersachsen, begann Müllers Karriere 1978 bei der Bereitschaftspolizei. Später wollte er in den gehobenen Dienst. Sein damaliger Chef aber habe ihn zum Bleiben zwingen wollen. Müller quittierte den Dienst, zog nach Göttingen, studierte Theologie und wollte Pastor werden. "Da ging es mir aber zu wenig um den Glauben als Überzeugung." Nach fünf Semestern brach er ab, einige Zeit später trat er aus der Kirche aus. "Wenn ich Ziele, die ich mir gesetzt habe, nicht erreiche, ziehe ich meine Konsequenzen und gehe." Auch mit der Parteimitgliedschaft war es jedes Mal schnell vorbei, sowohl bei der CDU, aber auch bei der SPD.

Müller wurde also weder Polizist noch Pastor. Sein Weg führte ihn stattdessen zum Jurastudium in Göttingen und Hannover. Er beendete es Anfang der 1990er-Jahre, der Osten suchte händeringend nach Verwaltungsexperten aus dem Westen. Müller wurde 1994 für die Gründung der Polizeihochschule nach Sachsen berufen. "Dabei hatte ich mal gedacht, dass mich mein Weg niemals wieder zur Polizei führen würde." Dass seine geplante Ernennung zum Regierungsrat im Jahr 1997 platzte, sieht er als Preis, "den ich für meine Meinungsfreiheit zahlen musste".

Die Studenten schätzen seine Haltung. Sven Krahnert etwa, der heute als Polizeibeamter in Chemnitz arbeitet. "Müller ist mehr der gute Freund mit Fachwissen als der Oberlehrer", sagt Krahnert. "Manchmal hätte er vielleicht etwas mehr auf den Tisch hauen können."

Die Vorlesung ist um. Einige Studenten scharen sich um das Pult. Müller plaudert mit ihnen. Es scheint, als genieße er ihr Interesse. Trotz aller Politikverdrossenheit habe er seinen Optimismus behalten, sagt er. Das wolle er auch den Studenten vermitteln. "Ein Polizist muss ein Ventil für sich finden, sonst kündigt er irgendwann innerlich."

Müllers Ventil ist das Schreiben. Hunderte wissenschaftliche Arbeiten hat er veröffentlicht, inzwischen dichtet er auch. Das erscheint dann auf der Internetseite "Polizei-Poeten", einer Plattform für Polizisten, die ihre Geschichten und Gedichte austauschen wollen. Oft geht es um berufliche Erlebnisse, auch drastische. Müllers jüngstes Werk heißt "Schon wieder ...egida etc." Er wolle damit zeigen, was in einem Polizisten vorgeht, der stumm neben Demonstrationen steht und sie beschützt. "In meiner Freizeit darf ich euch umjubeln oder euch verdammen, in Uniform sind mir diese Rechte genommen", schreibt Müller. "Es ist mein Job, manchmal selbst braunen Mob zu begleiten, es sind echt schwere politische Zeiten."

Müller macht damit auch seine Meinung zu Pegida öffentlich. "Ich weiß, wie sich die Polizisten dort fühlen." Als er selbst noch einer war, lernte er die innere Doppelrolle kennen. Als Polizist in Niedersachsen habe er Friedensdemonstrationen bewacht, als Privatmann an ihnen teilgenommen. Angesichts von Politikfrust und Stellenabbau sei er nicht verwundert, dass sächsische Polizisten durchaus mit der rechtspopulistischen Bewegung sympathisierten. Dann schränkt er ein: "Das sind diejenigen, die nicht differenzieren können." Die meisten der jungen Polizisten jedoch seien "überzeugte Demokraten, die dem Eindruck nach vorwiegend rot-grün wählen." Die Lobeshymnen, die Pegida-Gründer Lutz Bachmann bei jeder Demonstration auf die sächsische Polizei ablässt, ärgern Müller. Das sei Scharlatanerie.

Trotz seines Kirchenaustritts sieht er sich weiter als Christ. Bei Pegida könne er keine christlich-jüdischen Werte entdecken. "Glaube hat für mich ganz viel mit persönlicher Freiheit zu tun", sagt er. Abgehängte Kreuze in deutschen Klassenzimmern seien kein Indiz für eine Islamisierung des Abendlandes, sondern für die Freiheit der Nichtgläubigen. Wer einem Lutz Bachmann folge, müsse genauso verblendet sein wie Hitlers einstige Mitläufer, meint Müller. "Dass Bachmann das Gesetz so oft gebrochen hat, zeugt von schweren charakterlichen Schäden." Im Übrigen ist Müller nicht stolz, Deutscher zu sein, sondern froh, "in einem Land zu leben, das zwei Diktaturen überstanden hat und zu einer Demokratie geworden ist".

Als Nächstes will er einen Masterstudiengang an der Technischen Universität in Dresden etablieren, der Polizei- und Sozialarbeit mit Jura und Psychologie verbindet. "Würden diese Berufsgruppen richtig kooperieren, könnte es unserer Gesellschaft besser gehen."

Die Uhr in Müllers Büro zeigt 16.45 Uhr. Den Platz im Regal teilt sich eine deutsche Polizeikappe mit Jura-Wälzern. Seit letzter Woche ergänzt der "Goldene Dieselring" die Sammlung, verliehen vom Motorjournalistenverband. "Wertschätzung für meine Arbeit erhalte ich eben vorwiegend außerhalb von Sachsen", kommentiert Müller den Preis, der seine Verdienste für die Verkehrssicherheit ehrt.

Sachsen ist Müllers Wahlheimat, doch er braucht die Abwechslung, "den Blick über den Tellerrand", sagt er. Ein Wimpel der israelischen Polizei erinnert an eine Begegnung mit Kollegen im Nahen Osten. Daneben steht die Bibel. Müllers Computer ziert ein Foto, das ihn als stolzen Vater zeigt. Mit acht Kindern hat er sogar seine Mitkonfirmandin Ursula von der Leyen übertroffen. Die Jugend, sagt er, müsse es schließlich irgendwann richten.