Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 23.01.2015

Die Angst vor Veränderung

Von Sven Siebert

Pegida erfährt so viel Aufmerksamkeit, weil hier verunsicherte Bürger verunsicherte Politiker und Medien anbrüllen.


Am vergangenen Sonnabend waren sie wieder auf der Straße. 50 000, meldeten die Veranstalter, zogen vom Potsdamer Platz bis vor das Kanzleramt. Es war nicht die erste Demonstration dieser Art. Schon zum fünften Mal zogen die Bürger durch die Hauptstadt. Sie richteten sich gegen Massentierhaltung, forderten fairen Handel mit den Ländern der Dritten Welt und verurteilten das geplante Freihandelsabkommen TTIP.

Auch wenn es wohl nicht ganz so viele Menschen waren, wie die Initiatoren behaupteten - es handelte sich ohne Zweifel um eine Großdemonstration. Größer als die sogenannten Spaziergänge der "Pegida" in Dresden. Doch die Resonanz in Politik und Medien? Kaum zu spüren. Niemand, der alarmiert feststellt, dass "die Politik" den Kontakt zu Bürgern und Rindern verloren habe, dass die Hühnerfreunde in dieser Gesellschaft kein Gehör mehr fänden oder dass man nun endlich in einen Dialog mit den Anhängern der artgerechten Tierhaltung treten müsse.

Pegida hingegen, die Bewegung, die ausschließlich in Dresden eine nennenswerte Zahl von Menschen zum Demonstrieren animieren kann, hält seit Wochen die halbe Republik in Atem. Kein Politiker, der sich nicht zu Pegida geäußert hätte, kein Leitartikler, der die Dresdner Versammlungen nicht kommentiert hätte. Die Bundeskanzlerin widmet eine ganze Passage ihrer Neujahrsansprache denen, die "montags wieder ,Wir sind das Volk? rufen". Und eine Pressekonferenz zweier stark verunsicherter Pegida-Organisatoren wird auf drei Fernsehsendern übertragen. Live. Als bekomme das Land ausgerechnet von einem Herrn Bachmann und einer Frau Oertel endlich Antworten auf wichtige offene Fragen.

Ich gebe zu: Der Vergleich hinkt. Die "Wir haben es satt!"-Demo mag wichtige Themen aufgreifen, sie berührt aber - Tierrechte, Welthandel und Ernährungsfragen hin oder her - nicht den Kern gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie rührt nicht an der Religionsfreiheit, am Grundrecht auf Asyl und am Umgang mit Einwanderern.

Hinzu kommt: Der Verdacht der Fremdenfeindlichkeit schafft Aufmerksamkeit. Es kann einem gefallen oder nicht: Das hat auch etwas mit der deutschen Geschichte zu tun, mit Adolf Hitler und den Nazis. Das ist der Grund, weshalb CNN und New York Times nach Dresden reisen und den Termin am Potsdamer Platz sausen lassen.

Aber es liegt noch an etwas anderem, dass Pegida so viel Aufmerksamkeit erfährt, obwohl der Anteil der Pegidisten an der Bevölkerung Deutschlands noch niedriger ist als der der Muslime in Sachsen.

Die Menschen, die für gute Ernährung, das Tierwohl, die Rechte der Entwicklungsländer und sichere Standards des Welthandels auf die Straße gehen, sind ein gut integrierter Teil des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Sie gründen Bürgerinitiativen, gehen ihren Wahlkreisabgeordneten auf den Wecker und treten am Ende sogar selbst einer Partei bei.

Sie sind vielleicht mit bestimmten Entwicklungen unzufrieden, sie verzweifeln manchmal daran, dass der Bundeslandwirtschaftsminister von der CSU kommt und nicht von den Grünen, sie werden wütend, dass in der Schulmensa ihrer Kinder sogenannte Nuggets aus allenfalls geflügelfleischähnlichem Material serviert werden. Aber: Sie vertrauen dem Prinzip der Demokratie, sie fühlen sich als Teil des gesellschaftlichen Dialogs. Sie lesen Zeitung und sie gehen zur Wahl.

Das tun viele der Pegida-Demonstranten mutmaßlich nicht. Sie behaupten, die Politik habe sie im Stich gelassen, es habe keinen Sinn mehr, mit Politikern zu sprechen. Und die Medien würden im Auftrag böser Mächte nur noch Lügenpropaganda verbreiten. Sie tragen ihre Dialog- und Informationsverweigerung wie eine Auszeichnung vor sich her.

Ich weiß, auch Pegidisten darf man nicht über einen Kamm scheren, auch Pegidisten lesen - manche sogar die SZ. Aber mit ihrer Verweigerungshaltung treffen sie zwei "Branchen" an einer empfindlichen Stelle, die gerade von Selbstzweifeln und Zukunftsängsten geplagt sind.

"Die Politik" - um eine unzulässige Verallgemeinerung der Pegida aufzugreifen - hat in den vergangenen Jahren an Ansehen verloren. Den Parteien laufen die Mitglieder davon (oder sie sterben und jüngere wachsen nicht nach) und die Wähler auch.

Die Wahlbeteiligung, die bei Bundestagswahlen zwischen 1990 und 2005 stets um 80 Prozent lag, ist auf gut 70 Prozent gefallen. In Sachsen haben 1990 bei der ersten Landtagswahl rund 2,7 Millionen Bürger ihre Stimme abgegeben, 2013 war es gut eine Million weniger. Pegida weist stets mit falschem Stolz darauf hin, dass weniger als die Hälfte der Sachsen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.

Das hat den Parteien einerseits wenig ausgemacht. Schließlich werden in Bundes- und Landtag stets alle Sitze vergeben. Und in der Regel reichen ja auch 40 Prozent, um einen Wahlkreis direkt zu gewinnen - es müssen nicht immer über 50 sein.

In Sachsen kam die CDU so zu bald 25 Regierungsjahren. Die Partei hat es sich in diesem Vierteljahrhundert an der Macht gemütlich gemacht und nun muss sie feststellen, dass ihr irgendwo Wähler abhanden gekommen sind.

Die Gesamtauflage aller Tageszeitungen in Deutschland - lokal, regional, überregional und Boulevard - ist seit dem Jahr 2000 von 24 Millionen verkaufter Exemplare auf zuletzt 17,5 Millionen zurückgegangen. Das ist ein Rückgang um 17 Prozent. Die "Bild"-Zeitung hat in dieser Zeit ihre Auflage sogar praktisch halbiert. Auch die Sächsische Zeitung hat Auflage verloren .

Die Digitalisierung setzt den Print-Medien zu. Viele Leser sind zu den Gratis-Angeboten im Internet abgewandert. Aber sehr viele nutzen gar keine klassischen Medien mehr - weder auf Papier noch im Netz. Sie bewegen sich in ihren eigenen, sich auf sich selbst beziehenden Zirkeln der sogenannten sozialen Medien oder in Online-Foren, wo sie nicht Herausforderung, sondern Bestätigung suchen. Und was für die Zeitungen gilt, gilt in ähnlicher Form auch für die klassischen elektronischen Medien wie Radio und Fernsehen.

Man kann hier immer noch stolze Quoten messen, doch vor allem die Jüngeren bedienen sich längst bei Youtube, Netflix oder iTunes. Oder sie schicken sich ihre Filmchen direkt von Smartphone zu Smartphone. Politische Magazine, die nicht ausschließlich auf Skandalisierung setzen, und anspruchsvollere Dokumentationen gelten in den Sendern selbst - auch in den öffentlich-rechtlichen - als schwere Kost und werden auf Sendetermine geschoben, zu denen kaum noch jemand wach ist. Zeitungen und Sender müssen feststellen, dass ihnen irgendwo Leser und Zuschauer abhanden gekommen sind.

Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, wie intensiv sich Journalisten, die für Printmedien arbeiten, in den vergangenen Jahren über die Zukunft ihrer Branche Gedanken machen. Und natürlich spielt dabei nicht nur die gesellschaftliche Dimension einer veränderten Medienwelt eine Rolle, sondern auch die Sorge um den eigenen Job und die wirtschaftliche Zukunft.

Politikern geht es weniger um ihre wirtschaftliche Existenz, die durch zurückgehende Wahlbeteiligung nicht unmittelbar bedroht ist. Doch zumindest die intelligenteren unter den Abgeordneten spüren, dass die Legitimation ihrer Entscheidungen abnimmt. Dass sich weniger Menschen an das gebunden fühlen, was die Parlamente beschließen.

Die verlorenen Leser und abtrünnigen Zuschauer waren aber bisher eine eher abstrakte Gruppe. Man hatte allenfalls das Gefühl, dass irgendwo "da draußen" etwas passiert, von dem man nicht so genau wusste, was es eigentlich ist.

Pegida scheint dem unbekannten Nichtwähler und Nichtleser nun ein Gesicht zu geben. Und dieses Antlitz lässt schlimmste Befürchtungen scheinbar wahr werden. Was soll gute Politik und guter Journalismus nützen, wenn Menschen erklären, sie hätten gar nicht mehr die Absicht, das zur Kenntnis zu nehmen?

Natürlich: In der Auseinandersetzung um Pegida geht es auch um konkrete Politik, um Entscheidungen im Ausländerrecht, um Wirtschafts- und Bildungspolitik, wahrscheinlich auch um Gesundheitspolitik und Infrastruktur. Dass Pegida so faszinierend ist und so viel Aufmerksamkeit erfährt, hat ironischerweise aber auch etwas damit zu tun, dass verunsicherte, von Zukunftsängsten gequälte Bürger auf verunsicherte, von Zukunftsängsten gequälte Politiker und Journalisten treffen.

Politik und Medien möchte man zurufen: Entspannt Euch! Macht Eure Arbeit! Redet drüber. Aber haltet Pegida nicht für Eure Zukunft. Pegida ist nicht "das Volk".



Unser Autor

Sven Siebert, (49) ist Berliner Korrespondent der Sächsischen Zeitung.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.