Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 09.12.2014

Die geteilte Stadt

Der Aufstand der Zornigen trifft auf den Protest der Besorgten: Dresden war gestern Abend das Spiegelbild einer zerrissenen Gesellschaft.


Den Anfang machen die Gegner. Mitten im Berufsverkehr, zwischen Heerscharen an Weihnachtseinkäufern und Striezelmarktbesuchern, versammeln sie sich, umringt von der Blaulicht-Disco der Polizei. An sechs Punkten der Innenstadt.

An der Annenkirche etwa, die im Wendeherbst 1989 zu jenen vier Dresdner Gotteshäusern gehörte, in denen Gegner des SED-Regimes Zuflucht fanden. Das Gotteshaus ist mit 600 Menschen gefüllt. Der evangelische Superintendent Albrecht Nollau erinnert an das Flüchtlingsdrama von Maria und Josef. Ein älteres Ehepaar, klassisches Dresdner Bildungsbürgertum, sagt, sie seien hier, weil die Weihnachtszeit eine Willkommenszeit ist. Vor der Kirche leuchten Luftballons. Ein junges Mädchen sagt: "Damit wollen wir zeigen, wie bunt unsere Stadt ist."

Am Bahnhof Neustadt schart die Initiative "Dresden nazifrei" 1 000 trommelnde, singende und trillerpfeifende Leute um sich. Von der Technischen Universität aus setzen sich Studenten in Bewegung. Am Bahnhof Mitte machen sich Politiker von Linken, Grünen und SPD auf den Weg, darunter die Linken-Bundesvorsitzende Katja Kipping mit Fahrrad und Kindersitz.

Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat mitteilen lassen, eine Willkommenskultur könne nur dann bestehen, "wenn die Grundwerte des Gastlandes auch respektiert werden und die Bürger die Integration als Aufgabe jedes Einzelnen begreifen". Er läuft aber nicht selber mit, statt seiner spazieren der Innenminister und die Integrationsministerin durch die Stadt. Die Lautsprecher der Dresdner Verkehrsbetriebe spucken im Minutentakt Informationen zu Verspätung oder Umleitungen aus.

Die Sternläufer vom Bündnis "Dresden für alle" wollen zum Rathausplatz. Dort muss die Redebühne um 90 Grad gedreht werden, weil viel mehr kommen als erwartet worden war: 9 000. Sie sagen: "Wir stehen gemeinsam für Weltoffenheit, Menschenwürde, Solidarität und Toleranz."

Nur hundert Meter weiter sehen das andere Bürger nicht ganz so. Am dunklen Skaterpark in der Lingnerallee haben sich zum achten Mal die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands versammelt. 10 000 sind es, vor allem Mittdreißiger und Rentner. Ihre Bewegung ist inzwischen im ganzen Land als Pegida bekannt. Für sie sind die Sternläufer die Gegner, die "zum Sturm geblasen" haben, die Gutmenschen, die die Realität verkennen.

Pegida hatte wieder getrommelt, wie üblich vor allem auf Facebook: "Montag ist Pegida-Tag", hieß es in einem Appell an die "lieben Freunde, Mitbürger und Patrioten". "Gewaltfrei und vereint" wolle man gegen "Glaubenskriege auf deutschem Boden" vorgehen. In den Reihen der Landtagsparteien stößt Pegida auf wenig Verständnis, nur die AfD interpretiert die Idee vom Sternlauf als "kriegerische Kesselschlacht".

Anders als bislang verzichten die Patrioten aber an diesem Montagabend auf einen Spaziergang. Diesmal soll eine Kundgebung genügen. Ein Schachzug. So blieben allein die Pegida-Gegner aus dem Bündnis "Dresden für alle" als Verursacher für Straßensperrungen und Verkehrsstaus übrig. Pegida-Chef Lutz Bachmann scheint es zu genießen, seine Kritiker vorzuführen.

Er setzt sogar noch eins drauf und lässt Visitenkarten mit der Aufschrift verteilen: "Ich wurde Ihnen als Kunde geschickt von Pegida". Die sollen seine Anhänger zum Weihnachtseinkauf vorzeigen. Denn offiziell begründet die Protestbewegung die Absage ihrer Demonstration mit der Kritik von Einzelhändlern, Pegida sei schlecht fürs Geschäft.

Wie immer steht der gelernte Koch und heutige Werbeagentur-Inhaber vorn auf dem kleinen Podest mit den Lautsprechern. Unübersehbar prangt dort das Transparent "Großröhrsdorf dankt Pegida." Die jüngsten Ereignisse in dem kleinen Ort im Landkreis Bautzen haben dem 41 Jahre alten Cheforganisator in die Hände gespielt.

In Großröhrsdorf hatten die Behörden eine Turnhalle für das Training der örtlichen Sportvereine erst monatelang gesperrt, um dann kurzfristig das angeblich nicht mehr bausichere Gebäude doch noch als Notunterkunft für 50 Asylsuchende herzurichten. Kaum waren die ersten von ihnen da, meist Tunesier, mussten Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte anrücken. Einer der Flüchtlinge drohte mit Selbstmord, der nächste verfeuerte unter Drogeneinfluss stehend vor der Halle Pappkartons. Dann ritzte sich ein Nordafrikaner mit einem Messer selbst und zu guter Letzt stand noch der Verdacht auf Körperverletzung im Einsatzprotokoll der Polizei. All das ist in nicht einmal vier Tagen geschehen.

Unter dem Gejohle der Menge wird bei Pegida ein Brief des Bautzner Landrats verlesen, in dem er der Großröhrsdorfer Bürgermeisterin versichert, nie wieder wolle der Landkreis kriminelle Asylbewerber aufnehmen. Das Aus für die Notunterkunft hat der Landrat bereits beschlossen. "Wir sind das Volk", schallt es über den Platz.

Es sind diese Dinge, die der populistisch agierenden Pegida einen ungeheuren Zulauf verschaffen. Mittlerweile bekennen sich auf Facebook 34 300 Menschen als Fans der Initiative. Zeitgleich zum Dresdner Pegida-Protest haben sich die Anhänger des Ablegers Kadiga in Kassel versammelt. In Düsseldorf demonstriert Dügida vor dem Landtag, in Bochum gibt es Bogida und in Bayern versucht Bagida Fuß zu fassen.

Diese Mobilisierungskraft lässt bei manchen Politologen die Alarmglocken schrillen. Bei Pegida breche ein großes anti-demokratisches Potenzial offen aus, sagt etwa der Leipziger Rechtsextremismus-Forscher Johannes Kiess im MDR. Die Anhänger der Protestbewegung projizierten eigene Ängste auf Schwächere. Sein Berliner Kollege Hajo Funke spricht vom Versuch, einen "Kampf der Kulturen" zu schüren. Das Ganze zeige Ansätze einer rechtsextrem inspirierten Massenbewegung. Timo Reinfrank von der Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin sieht "rechtspopulistische Wutbürger" am Werk.

In Sachsens Landeshauptstadt jedenfalls brodelt es mächtig. Gerüchte schwirren umher. So behauptet der Rugby-Verein Dresden, nach einer Feier am Sonntagabend seien drei Spieler des Klubs in eine Schlägerei geraten, weil einer davon, ein dunkelhäutiger Spanier mit Vollbart, als Salafist bezeichnet und attackiert worden sei. Pegida-Anhänger wiederum tun das als staatlich gelenkte Propaganda der "Lügenpresse" ab. "Wir sind nicht politisch korrekt. Wir beugen uns nicht dem medialen Mainstream und somit auch nicht den Gutmenschen", macht die Organisation unmissverständlich klar. "Verpiss dich", raunzt ein Hüne in schwarzen Klamotten einen Reporter an.

Während in der vergangenen Woche ein Fragebogen der Sächsischen Zeitung wenigstens noch im Internet beantwortet wurde, werden weitere erneut schriftlich eingereichte Fragen - etwa zur Vereinsgründung oder der Satzung von Pegida - bislang einfach ignoriert. Doch auch in diesem Punkt scheinen die Patriotischen Europäer umzuschwenken: Immerhin geben zwei ihrer Vertreter dem MDR-Sachsenspiegel ein Interview. Bislang hat Pegida nur mit der Bild-Zeitung gesprochen.

Ein Strategiewechsel im Umgang mit der Öffentlichkeit? Auf ihrer bisher wichtigsten Kommunikationsplattform Facebook häufen sich die Schwierigkeiten. So war die Pegida-Seite dort in den vergangen Tagen mehrfach gesperrt. Facebook-Sprecherin Nadine Meliß sagt zwar, dazu lägen ihr im konkreten Fall keine Informationen vor, Facebook sei aber "kein Ort für die Verbreitung rassistischer Ansichten". Deshalb unterstütze das Unternehmen Initiativen wie etwa "Laut gegen Nazis". Dessen Vereinschef zeigt sich auf einem bei Pegida geposteten Foto mit Facebook-Managerin Tina Kulow; beide halten ein Plakat des Bündnisses "Dresden nazifrei" in die Höhe. Pegida kommentiert dieses Foto mit dem Satz: "Mit solchen Verbindungen ist es bestens möglich, jemanden mundtot zu machen." Tatsächlich hat es nicht nur auf der Pegida-Facebook-Seite Störungen gegeben, es sind auch alle privaten Seiten von Pegida-Chef Bachmann verschwunden. Unklar ist, ob er das nach dem Bekanntwerden seiner Vorstrafen und teilweise hetzerischen Kommentare selbst getan oder ob Facebook auf Beschwerden anderer Nutzer reagiert hat.

Seinem Erfolg tut das keinen Abbruch. Wieder waren mehr gekommen als am Montag vor einer Woche. Der vorbestrafte Mann und seine Pegida, sie legen die Zerrissenheit der Deutschen in der Asylfrage offen. Und so ist Dresden im Advent 2014 eine seltsame Stadt. In den Kirchen sorgen sich die Christen um den Frieden der Weihnachtsbotschaft. Auf dem 850. Striezelmarkt herrscht ein fast schon babylonisches Sprachgewirr tausender Gäste. In den Gassen der Altstadt fliegen martialische Sprüche hin und her. 1 200 Polizisten versuchen, die Lager zu trennen. Trotzdem fliegen nach dem Ende der Kundgebungen noch ein paar Böller und Raketen. Fürwahr, eine seltsame Stadt.

 

Von Thilo Alexe, Thomas Schade, Alexander Schneider und Ulrich Wolf (mit dpa)