Die Berichte der Sächsischen Zeitung, 13.11.2014

Interview Thomas de Maizière - "Zum Patriotismus gehört auch Vertrauen in den Staat"

"Pegida" hat nicht recht, sagt Innenminister Thomas de Maizière. Dennoch: "Wir nehmen die Sorgen der Bürger ernst."

 

Herr Minister, in Dresden gehen Montag für Montag mehr Demonstranten unter dem Etikett Pegida auf die Straße, die behaupten, die Politik nehme ihre Sorgen nicht ernst. Haben diese selbst ernannten Patrioten recht?

Nein. Natürlich nehmen wir die Sorgen der Bürger ernst. Wir tun eine Menge. Schon die im Namen enthaltene Grundannahme, es drohe die "Islamisierung" unserer Gesellschaft ist allerdings grundfalsch. Der Anteil der Muslime an der Bevölkerung in Dresden und in Sachsen insgesamt ist verschwindend gering. Es gibt zwar in manchen Teilen deutscher Großstädte - vor allem in Westdeutschland - Ansätze zu Parallelgesellschaften, die wir nicht zulassen dürfen. Und ich sehe mit Sorge die Anziehungskraft der Salafisten, die junge Leute zu verführen versuchen. Aber auch von diesen vielleicht 7 000 Salafisten geht angesichts einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen keine ernsthafte Gefahr einer "Islamisierung" aus. Und von selbst ernannten "Patrioten" erwarte ich im Übrigen schon, dass sie staatlichen Institutionen und ihren Angaben - beispielsweise über die Zahl der Asylbewerber - ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbringen.

Es scheint aber eine zentrale Grundannahme der Protestierer zu sein: Dass es eine Verschwörung "der Politik" und der angeblichen "Systemmedien" gebe, die Bürger über "die wahren Verhältnisse" im Unklaren zu lassen?

Das ist blanker Unsinn. Es gibt keine Verschwörung von Politik und Medien, die Zahl der Muslime in Deutschland oder der Ausländer in Sachsen zu verfälschen. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Das ist ja - nebenbei gesagt - das, was vielen bei der Pegida nicht gefällt. Und in so einer offenen Gesellschaft würde ein solches Lügengebäude nicht halten. Auch Behauptungen, in Deutschland könne es eine Kopftuchpflicht geben, sind völlig absurd. Wer sollte das denn wollen? Aber trotzdem verbirgt sich hinter der teilweise aggressiv vorgetragenen Staatsenttäuschung eine tiefe Unsicherheit. Und die nehme ich ernst.

Haben Sie eine Erklärung, weshalb Pegida gerade in Dresden so erfolgreich ist?

Es gibt gut organisierte Veranstalter. Das unterscheidet Dresden offenbar von anderen Städten in Deutschland. Es kommt hinzu, dass wir gerade - 25 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR - die Kraft des Volkes besonders betont haben. Jetzt glauben viele, dass sie auf der gleichen Welle reiten dürften. Vor 25 Jahren haben die Bürger in Plauen, Dresden und Leipzig aber unter Einsatz ihres Lebens gegen eine Diktatur demonstriert. Das ist wirklich etwas ganz anderes. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob man der Mehrheit des Volkes in einer Diktatur eine Stimme gibt, oder ob man in einer Demokratie einer - wenn auch relevanten - Minderheitsposition Ausdruck verleiht.

Die Demonstranten rufen wie vor 25 Jahren: Wir sind das Volk!

Das ist eine Anmaßung. Auch die CDU, die mit zum Teil großen Mehrheiten seit 24 Jahren in Sachsen regiert, würde nie über sich behaupten: Wir sind das Volk! Wir sind alle nur Teil der demokratischen Bevölkerung. Und das gilt selbstverständlich auch für die Anhänger von Pegida.

Woher kommt die tiefe Unsicherheit, von der Sie sprechen?

Wir versuchen klarer zu analysieren, wie hoch eigentlich der Anteil ernsthaft besorgter Bürger ist neben den Extremisten und Chaoten, die sich unter sie mischen. Die Unsicherheit mancher Bürger hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass viele die moderne Welt nicht mehr verstehen oder ablehnen. Viele glauben, Deutschland könne sich von den Problemen der Welt abkoppeln. Viele nehmen an, man könne durch Verbote Probleme einfach aus der Welt schaffen. Unsere Gesellschaft entwickelt sich zu größerer Offenheit, zu mehr Toleranz, zu einem breiteren Spektrum von Lebensweisen, Meinungen und Religionen. Diese Entwicklung ist gut und fruchtbar. Sie ist aber auch mühsam, sie verursacht Spannungen. Es ist schwieriger, als wenn alle einer Meinung sind. Aber daraus kommt auch die Kraft einer modernen Gesellschaft. Dafür möchte ich gerne werben.

Erreichen Sie die Pegida-Demonstranten überhaupt noch? Es scheint, als hätten sich viele gegen Politik und Medien aktiv abgeschottet.

Es ist schwer. Es ist ja eine Mischung aus Gesprächsverweigerung und der Sehnsucht, es möge endlich einer mit ihnen reden. Wenn ein Gespräch unter der Voraussetzung beginnt - ich glaube dir sowieso kein Wort -, dann ist ein Dialog kaum möglich. Mich macht dabei schon nachdenklich, dass viele der ernsthaft besorgten Bürger - und über die spreche ich - Sorgen äußern über die angebliche übergroße Kriminalität von Asylbewerbern und zugleich einen Sprecher ihrer Bewegung akzeptieren, der sich in der Vergangenheit nicht gerade durch Rechtstreue ausgezeichnet hat.

Die Politik reagiert auf die gestiegenen Zahlen von Flüchtlingen und Asylbewerbern. Auf dem CDU-Parteitag wurde über ein Burka-Verbot diskutiert, der sächsische Innenminister hat eine Sondereinheit der Polizei zur Bekämpfung der Kriminalität von Asylbewerbern versprochen, die CSU erwog, Einwanderer dazu zu verpflichten, zu Hause Deutsch zu sprechen. Sind das nicht alles populistische Zugeständnisse auf den Druck von der Straße?

Wenn die Politik nichts macht, dann heißt es: Ihr hört nicht auf die Sorgen der Bürger. Wenn die Politik was macht, heißt es: Ihr seid populistisch. Wir ergreifen in Bund und Ländern aber nicht wegen Pegida oder wegen der AfD bestimmte Maßnahmen, sondern nehmen uns der Themen mit aller Kraft und mit aller Ernsthaftigkeit an, um die Probleme zu lösen. Wir arbeiten doch längst an vielen der Themen, die montags in Dresden genannt werden.

Zum Beispiel?

Die Bundesregierung hat gerade auf meinen Vorschlag hin einen Gesetzentwurf beschlossen, der einerseits Flüchtlingen und Asylbewerbern, die lange bei uns sind, überwiegend für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen und nicht straffällig geworden sind, die Möglichkeit gibt, dauerhaft bei uns zu leben. Andererseits haben wir aber auch beschlossen, dass Ausländer, die nicht bei uns bleiben können, auch ausgewiesen und abgeschoben werden können.

Oder: Serbien, Bosnien und Mazedonien gelten nun als sichere Herkunftsstaaten. Asylbewerber aus diesen Ländern durchlaufen ein vereinfachtes Verfahren, die Länder können schnell wieder für die Rückkehr sorgen. Wir tun, was wir selbst für richtig halten, und zwar weil wir Sorgen der Bürger ernst nehmen, nicht weil Pegida das fordert.

Es wird oft behauptet, bestimmte Dinge könne man aus Gründen der sogenannten "politischen Korrektheit" nicht mehr offen aussprechen.

Man kann auch in einer maßvollen Sprache das sagen, was man für richtig hält. Und man muss es eben auch aushalten, wenn man auf Widerspruch stößt. Ich finde allerdings, dass wir beim Thema Flüchtlinge vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte behutsam formulieren sollten. Ich beklage eine Verrohung unserer Sprache - insbesondere im Internet. Das gilt auch für die Beiträge auf der Internetseite der Pegida. Es hat nichts mit übertriebener "political correctness" zu tun, wenn man fremdenfeindliche oder menschenverachtende Äußerungen ablehnt. Zu einer politischen Kultur gehört auch eine nüchterne, die Probleme benennende, aber den politischen Gegner respektierende Sprache.

Aus der Führung der AfD gibt es mittlerweile Sympathiebekundungen für Pegida und ihre Forderungen. Können Sie das ignorieren?

Es zeigt sich, dass die AfD und Pegida ihre Zustimmung aus dem gleichen Nährboden ziehen. Unter den Unterstützern beider finden sich viele Modernisierungsgegner und Menschen, die sich durch die Komplexität der heutigen Welt verunsichert fühlen. Die Sympathiebekundungen für Pegida aus der AfD-Führung sind aber nicht nur Ausdruck der geistigen Nähe, sondern wohl auch des Neides. Sie ist eifersüchtig, dass sie auf so etwas wie Pegida nicht selbst gekommen ist.

 


Das Gespräch führte Sven Siebert


Bundesinnenminister Thomas de Maizière hält die Furcht vor einer drohenden Islamisierung in der Bundesrepublik für unbegründet, auch wenn es in Teilen westdeutscher Großstädte Ansätze für sogenannte Parallelgesellschaften gibt.