Michael OHNEWALD's Gedanken über "Die Frau aus der Cafeteria"

Anmerkungen zum Tod einer Unbekannten

Man weiß so wenig voneinander. Das wird einem manchmal erst bewusst, wenn jemand, der eigentlich immer dazugehört hat, plötzlich fehlt. So wie die Frau aus der Cafeteria.

Von Michael OHNEWALD, Stuttgarter Zeitung, 6. Juni 2008


Es ist schon eine längere Zeit her, seit sie mir zum ersten Mal begegnet ist. Ich weiß es nicht mehr genau, die Stunden, Tage und Wochen fliegen dahin. Mehr als zwölf Jahre müssen es sein. Seitdem gehört sie irgendwie dazu, die Frau aus der Cafeteria.

Es könnte auch der Herr von der Tankstelle sein, die Dame aus dem Buchladen, die gute Seele vom Kiosk oder der knorrige Alte vom Gemüsestand. Sie sind wichtig, auch wenn man ihnen das noch nie gestanden hat. Man weiß ihre Namen nicht, und auch sie wissen nicht, wer ihnen gegenüber steht.

Trotzdem ist da eine seltsame Zuneigung. Es ist nicht nur, dass die einen was bestellen, das die anderen liefern. Es lässt sich nicht erklären. Es entsteht langsam, so was dauert seine Zeit in diesen Breitengraden. Eines Tages ist es da, wie aus dem Nichts, und verbindet, obwohl man eigentlich nur über belanglose Dinge redet wie das Wetter. Plötzlich ist da dieses Gefühl der Vertrautheit.

Bei der Frau von der Cafeteria hat sich eine gewisse Nähe wie von selbst eingestellt. Sie hatte ihre ganz eigene Autorität und ihren ganz eigenen Charme. Sie war die Chefin, obwohl sie diesen Titel nicht offiziell führte. Offiziell war sie Küchenhilfe. Sie schmierte Brötchen, befüllte die Kühlregale mit Schokopudding und Apfelsaft, sie verkaufte Kaffeemarken, gab Teebeutel aus und sorgte für sauberes Geschirr.

Ich hatte keine großen Erwartungen, als mir die Frau in der Cafeteria zum ersten Mal begegnet ist. Sie hat sie gleich übertroffen. Ich erinnere mich nicht mehr, was sie gesagt hat. Manchmal verselbstständigt sich eine Figur. Sie gehört so fest zum Alltag, dass man sich nicht merkt, wie es angefangen hat. Alles scheint selbstverständlich. Schon beim ersten Kontakt fiel jedenfalls auf, dass sie die Vorlieben ihrer Kundschaft kannte. Manchmal hat sie Dinge aus dem Regal geholt, obwohl die Leute noch gar nichts bestellt hatten. Sie ahnte es, weil viele wollen, was sie schon beim letzten Mal wollten.

Sie stand hinter der Kasse und tippte mit fliegenden Fingern die Beträge ein, auf dass die Wartenden nicht zu viel Zeit verlieren. Mehr als 1300 Menschen kommen jeden Tag in die Cafeteria des Pressehauses, und die meisten haben es eilig. Sie hat sich darauf eingestellt. Der Mensch versucht, möglichst viel Zeit zu sparen, indem er alles auf einmal macht und so die Zeit verdichtet. Aktienkurse am Mittagstisch, Telefonieren auf der Toilette, Lesen in der Cafeteria. Sie konnte an der Kasse beschleunigen wie keine andere.

Keine Unterschiede zwischen Blaumann und Anzugträger

Die Frau hinter der Kasse hatte ein starkes Gesicht und kräftige Hände. Ihr rollendes R vibrierte durch den Raum. Sie kannte ihre Stammkunden, die mit Anzug und jene im Blaumann. Sie hat keine Unterschiede gemacht und den meisten zum Espresso noch ein paar warme Worte aufs Tablett gelegt.

Man sieht in einen Menschen nicht hinein. Von außen betrachtet war sie eine Mischung aus Montserrat Caballé und Marianne Sägebrecht. Ein strammes Weibsbild, gut in ihrem Job und gesegnet mit Mutterwitz. Wenn ich einen Kuchen auf mein Tablett nahm, was öfter vorkam, lugte sie listig hinter ihrer Kasse hervor und sagte: „Na, heute mal wieder im Unterzucker?“

Ihren Gästen war sie in aller Regel einen Schritt voraus. Oft hatte sie die Summe schon eingetippt, bevor der Geldbeutel gezückt war. Nicht selten erfüllte sie Sonderwünsche, wenn jemand viel Butter auf die Laugenbrezel wollte, eine besondere Torte oder ein bisschen Zimtzucker über die frischen Erdbeeren.

Irgendwann habe ich angefangen, mich auf die Begegnung mit ihr zu freuen. Sie hat meinen Tag für ein paar Sekunden bereichert. „Weiß Ihre Frau, dass Sie schon wieder Kuchen essen?“ Das saß, und die Kollegen in der Schlange grinsten sich einen. So was darf einem nicht jeder sagen. Sie durfte es.

Ein besonderes Gefühl für Stimmungen und Launen

Manchmal hat die Frau hinter der Kasse auch einfach gar nichts gesagt. Sie hatte ein Gefühl für Stimmungen. Wenn sie merkte, dass man nicht den besten Tag hatte, sagte sie nichts. Es gibt auch andere Menschen, denen man regelmäßig begegnet, ohne dass man sie richtig kennt. Die Friseurin, der Metzger. Die reden oft und schweigen selten. Die Frau hinter der Kasse konnte schweigen.

Irgendwie schien es bei ihr nur gute Tage zu geben. Erkundigte sich jemand nach ihrem Befinden, sagte sie: „Geht gut, geht gut!“ Mehr wollte die Frau hinter der Kasse nicht von sich preisgeben. Sie fragte lieber andere, munterte die Leute auf und erzählte in der gebotenen Eile, was sie in der Zeitung gelesen hatte. Sie war über das Tagesgeschehen informiert. Auch Gesichter hat sie sich gemerkt. Als mal ein Kollege von früher, der seit vielen Jahren bei einem anderen Blatt beschäftigt ist, in die Cafeteria kam, begrüßte sie ihn freudig: „Auch mal wieder hier!“

Die Frau mit dem weißen Kittelschurz und den rehbraunen Augen war irgendwie speziell. Das wurde mir klar, wenn sie im Urlaub weilte und keiner nach meinem Blutzuckerspiegel fragte. Ich spürte das bei Gesprächen, die sie mit anderen führte. Und ich merkte es, wenn ich meinen Geldbeutel vergessen hatte und sie verständnisvoll sagte: „Dann rechnen wir halt morgen ab.“

Manchmal aber gibt es kein Morgen. Vor wenigen Tagen stand jemand anderes in der Cafeteria. Die vertraute Frau hinter der Kasse komme nicht mehr, hieß es. Sie sei gestorben, plötzlich und unerwartet im Urlaub, in ihrer Heimat, zu Hause in Kroatien.

Das Absurde der Zeit findet seinen Ausdruck darin, dass einem erst dann bewusst wird, wie wenig man voneinander weiß, wenn es zu spät ist. Die Frau hinter der Kasse hatte keine Geschichte, nicht mal einen Namen hatte sie. Man möchte wie bei der Fernbedienung am Videorekorder auf „backward“ drücken und zurückspulen und ein paar Fragen einbauen, die nie gestellt worden sind. Jetzt kann man nur noch andere fragen. Den Chefkoch, die Küchenhilfe, den Drucker.

Sie erzählen, dass die Frau hinter der Kasse Biserka Stefulj hieß. Sie stammte aus einem 400-Seelen-Ort unweit von Cakovec im Norden Kroatiens, wo es Arbeit nur für wenige gibt. Dort hat sie mit ihrem Mann Ivan nach Pfingsten ein paar Tage Urlaub gemacht bei der Tochter Vesna und beim Enkel Bruno. Sie wollte danach wieder zurück in die Cafeteria. Herzinfarkt auf der Toilette. Gestorben an einem Tag, der nichts hatte, was man im Nachhinein als Vorzeichen deuten könnte. Die Frau von der Cafeteria starb mit 56.

Biba haben sie ihre Freunde genannt. Sie war pünktlich und zuverlässig und seit 1973 um das leibliche Wohl der Belegschaft im Zeitungshaus bemüht. Biba musste hart arbeiten für ihr Geld. Anfangs wollte sie nicht so lange bleiben im fremden Land. Deshalb hat sie ihre Tochter Vesna gleich nach deren Geburt bei der Schwägerin in Kroatien gelassen. Die Familie hat dort ein Haus gebaut, in dem sie später leben wollte. Deutschland sollte nur eine Station sein. Am Ende blieb sie mehr als 35 Jahre. Weiß der Teufel, warum.

Der Frau hinter der Kasse ist es nicht so gutgegangen, wie sie immer getan hat. Sie hatte hohen Blutdruck und Schmerzen in den Beinen. Wer sie zum Arzt schicken wollte, bekam ihre robuste Seite zu spüren. Um andere hat sie sich mehr gesorgt. Ihrem kranken Vater sandte sie Medikamente nach Kroatien, und ihren Mann Ivan hat sie gepflegt, als er vor zwei Jahren an Darmkrebs litt. Sie habe nicht gezeigt, wie dreckig es ihr geht, sagt ihre Freundin aus der Küche. Andere, die einem begegnen, erzählen von sich, wenn es ihnen schlechtgeht. Sie nicht.

Die Kollegen haben für ihren Mann Ivan gesammelt, der erst 59 ist und jetzt in einer einsamen Wohnung in Oeffingen ausharrt, bis er in einem Jahr seine kleine Rente bekommt. Er erzählt das, als er die Habseligkeiten seiner Frau abholt. Zurückgelassen hat er ihre weiße Schürze und auch das Namensschild an ihrem Spind, in dem nichts mehr an sie erinnert.

Ivan hatte Biserka, die Tochter eines kroatischen Offiziers, auf einem Dorffest kennengelernt und 1972 geheiratet. Biba war damals gertenschlank, hatte gerade eine Lehre als Verkäuferin gemacht und wollte ihr Glück in Deutschland suchen. Sie ist als Erste gegangen, ihr Mann folgte ein Jahr später.

Sie gehörten beide zu den treuen Seelen. 30 Jahre und sechs Monate hat Ivan in einer Gießerei in Fellbach gearbeitet, bis die Firma Insolvenz anmeldete. Danach hat er Krebs bekommen und keinen Job mehr gefunden. Sie lebten zuletzt allein von ihrem Gehalt.

Ivan Stefulj sitzt an einem kahlen Tisch, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem seine Frau noch vor kurzem stand. Die Neue an der Kasse wird gerade eingearbeitet. Es hat sich eine Schlange gebildet. Die Kaffeemaschine zischt, jemand lässt sich einen Cappuccino raus. Der Witwer hat ein Foto von der Beisetzung mitgebracht. 500 Menschen sind gekommen. Auf den Sarg hat Ivan ein Porträt von Biserka gestellt. Sie lächelt. „Ich weiß nicht, wie es weitergeht“, sagt er. ####


Wie die Geschichte im Original auf einer ganzen Seite in der Zeitung abgedruckt und mit Bildern und Überschriften ge-layoutet war, können Sie hier als PDF anschauen.