Wie die Reportagenseite der Stuttgarter Zeitung entstand

Eine kleine Chronik über Qualitätsjournalismus ganz konkret

Am Anfang steht immer eine Idee. Ob die sich umsetzen lässt, hängt oft davon ab, ob man experimentieren, sprich Neues ausprobieren kann oder darf. Wenn das geht, dann ensteht tatsächlich etwas Neues. Etwas was bisherige Grenzen oder Vorgaben sprengt. Und dadurch eine vorherige Idee oder Praxis voranbringt.

So war es auch bei den Stuttgarter Reportagen. Für Michael OHNEWALD, vormals Redakteur bei derBacknanger Kreiszeitung, war das tägliche Niederschreiben von oft vorgefertigten Informationen und Lokalnachrichten zu wenig; er begann neben seinem stressigen Journalistenjob ein Studium an der Freien Universität Berlin: bei dem (inzwischen leider eingestellten) Studiengang „Journalistenweiterbildung“. Dort lernte er nicht nur über die Auswirkungen medialer Berichterstattung auf die Öffentlichkeit zu reflektieren. Er kam auch mit neuen, sprich modernen Recherche-, Erzähl- und Gestaltungstechniken in Berührung, wie sie die Kommunikations- und Medienwissenschaft untersucht. 
OHNEWALD hatte Glück. Sein ehemaliger Verleger in Backnang ließ ihn gewähren, OHNEWALD konnte experimentieren und Erfahrungen sammeln.

1995 dann bei der Stuttgarter Zeitung. Erst in der Außenredaktion Waiblingen, danach für Kommunikationspolitik in der Stuttgarter Zentrale zuständig. Das war zu einer Zeit, als immer mehr Stuttgarter ‚aufs Land’, in den Speckgürtel zogen. Dort sind die Mieten, aber auch das Leben billiger. Meist geht es auch nicht so laut und hektisch zu wie im Stuttgarter Großstadtkessel.

Damit die ehemaligen Großstädter ihre Großstadtzeitung mitnehmen und nicht auf die dortigen Lokalzeitungen ausweichen, kam 2002 die Idee auf, den Stadtflüchtlingen etwas Besonderes zu bieten. Etwas, was auch den Großstädtern gefallen könnte: Eine ganze Seite

  • mit Hintergrundthemen aus Stuttgart und Umgebung
  • frei von Tagesaktualität und Termindruck
  • thematisch frei gestaltbar
  • alles in Farbe
  • und ohne Werbung und Anzeigen.

Anders gesagt: Eine ganze Seite mit Informationen, Reportagen oder anderen spannenden Geschichten, die sonst nicht möglich wären, weil sie sich nicht in das übliche Gerüst von Headlines, Teasern und festen Zeilenumfängen zwängen mussten. 
OHNEWALD bekam 2 Kollegen zur Seite, sie waren zu dritt. Anfangs waren es 4 Texte (bzw. im Fachjargon „Stücke“), die eine Seite füllten. Dann stieg man auf nur 2 Stücke um. Die aber länger, sprich ausführlicher bzw. hintergründiger.

Einer der vielen Irrtümer von Chefredakteuren und so genannten Medienberatern ist der irrige Glaube, dass Menschen nicht mehr längere Texte lesen würden. Glaube aber ist Einbildung, hat selten etwas mit Realitäten zu tun. Wenn Informationen spannend geschrieben, weil gut recherchiert sind, einen Bezug zum Leser haben und sei es, dass sie nur die intellektuelle Neugier ansprechen, mehr über bestimmte Dinge und Menschen zu erfahren, dann finden auch solche Stücke Akzeptanz.

Erst recht, wenn man mit der gestalterischen Umsetzung, also mit dem Text, Fotos und Bildern, Überschriften und Schriftgrößen ‚spielen’ kann. Weil den Lesern in Stuttgart und vor den Toren der Stadt das alles gefiel und dies auch der Redaktion mitteilten, wurden die Redakteure dieses speziellen Ressorts immer ‚mutiger’. Die Fotos wurden manchmal noch größer, die Seite fiel immer öfters aus dem Rahmen.

Wer Erfolg hat, hat schnell auch Neider. Michael OHNEWALD und sein Team bezogen immer öfter Prügel – auf den Redaktionskonferenzen, auf den Fluren des Redaktionsgebäudes: Wie kann man nur so (oft) aus dem Rahmen fallen?!

Irgendwann gingen sie zu dritt zum Chefredakteur: Entweder stellt er sich hinter sie und dies ganz eindeutig oder sie schmeißen alles hin. Die Entscheidung war klar: Fortan gab der ranghöchste Journalist Rückendeckung. Und das unmissverständliche Signal: Weitermachen, Dranbleiben! 
Zu Anfang hatte die spezielle Seite mit erst vier, dann später nur noch zwei Stücken der dreiköpfigen Sonderreaktion keinen festen Platz in der Zeitung. Sie vagabundierte durchs ganze Blatt - die Leser wussten nicht, wo sie diesesmal ihre Lieblingsseite finden würden.

2003 dann ein großer Erfolg: Michael OHNEWALD’s ganzseitige Reportage über die Alte Bäuerin von Bernhausen, einer renitenten Gegnerin des unaufhaltsamen Ausbaus des Stuttgarter Flughafens, der nach und nach ihre letzten Äcker und Felder fraß, gewann den renommierten Theodor-Wolff-Preis. Solche Journalistenpreise sind schon deswegen wichtig, weil sie Redakteure oder Redaktionen auf ihren (neuen) Wegen bestärken können – mental, aber auch gegenüber ihren Kritikern. 
Der erste Preis brachte neuen Schwung:

  • Die Reportagenseite wurde jetzt nur noch mit einer (einzigen) Geschichte bestückt
  • Und sie bekam ab sofort einen festen Platz in der Zeitung. Nämlich dort, wo sie jedem sofort auffiel: auf der letzten Seite des Lokalteils („lokalen Buchs“).
  • Und auf den Lokal- oder sonstigen Seiten wird die tägliche ‚große Geschichte’ regelmäßig ange-teasert, d.h. auf sie aufmerksam gemacht.
  • Die Reportagen und Hintergrundberichte stammen nicht nur aus Stuttgart und Umgebung, sondern jetzt auch aus dem ganzen „Ländle“ Baden-Württemberg.

Inzwischen (Stand Ende 2010) hat die Redaktion für die „Stuttgarter Reportagen“ 27 Journalistenpreise eingeheimst: zwei Male einen Theodor-Wolff-Preis, einmal den Wächterpreis der Tagespresse (Leistungsmissbrauch und Behördenwirrwarr) und viele andere. Ein weitere Beleg für die Qualität dieser Seite. Der wichtigste Qualitätsnachweis aber kommt von anderer, der wichtigsten Seite: den Lesern. Die Reportagen-Seite hat ihren festen Leserstamm. Und die Leser lesen nicht nur, sie geben längst Hinweise und Informationen, aus denen sich neue Geschichten und Reportagen speisen. So ist aus dem einzigen Stiefkind der Stuttgarter Zeitung ein Aushängeschild des Blattes geworden.

Und ein eigener Kreislauf zwischen Lesern und neuen Informationen entstanden: interaktive Kommunikation in analoger Printtechnik. Denn die Reportagen und Geschichten zeichnen sich durch weitere Besonderheiten aus. Es geht um Menschen – aber nicht vorrangig um die Schönen und Reichen, die (angeblich) Wichtigen und Mächtigen, sondern um die ganz normalen Bürger der Zivilgesellschaft, die unser gesamtes gesellschaftliches Gefüge täglich mit ihrer Arbeit, ihren Wünschen und Erwartungen, ihren Lebensentwürfen und Engagements am Leben halten. Und dabei keine Schlagzeilen machen. Aber in den „Stuttgarter Reportagen“ auftauchen (können). Sechs mal die Woche eine ganze Seite und das mit 2,8 Redakteuren. 50 Prozent der Seiten füllt dieses kleine Team, also Michael OHNEWALD, Frank BUCHMEIER und Robin SZUTTOR:

Die andere Hälfte kommt zu einem kleineren Teil von Redakteuren des Hauses, zum größten Teil von Freien. Das ist, wenn man es mit dem Output anderer Zeitungen oder Zeitschriften vergleicht, sehr viel mit sehr wenig Personal. Ein Beleg, dass man auch mit geringen Mitteln mehr machen kann als die meisten Zeitungsmacher immer meinen. Denn etablierte und/oder tradierte Zeitungsmacher pflegen regelmäßig zu jammern statt Neues auszuprobieren. Einer von vielen Gründen, weshalb Zeitungen immer stärker unter Auflagenschwund leiden.

Die „Stuttgarter Reportagen“ sind ein klarer Beleg, dass es auch ganz anders geht. Dass so genannter Qualitätsjournalismus funktioniert. Und dass man damit großen Erfolg haben kann. Vor allem bei jenen, die – eigentlich – im Fokus der Medien und ihrer Macher stehen müssten: die Leser und User.

(JL)