Chronologie einer (eigennützigen) Medienkampagne

Die heimliche Kampagne des Medienkonzerns Axel Springer

01.01.1995

Der Briefmarkt in Deutschland wird erstmals auch für potenzielle Konkurrenten der Post AG partiell geöffnet. Durch Erwerb von Lizenzen erhalten Unternehmen das Recht, so genannte inhaltsgleiche Sendungen wie z.B. Prospekte, Kataloge usw. über 250 Gramm zuzustellen. Der Markt soll schrittweise geöffnet werden. Die wichtigsten Schritte erfolgen in den Jahren '95, '98, '06 und '08 


01.01.1998

In einer EU - Liberalisierungswelle wird zusammen mit der Telekommunikation in Deutschland auch der Postmarkt vollständig für den Wettbewerb freigegeben – auch für nicht-inhaltsgleiche Sendungen. Als Übergangsregelung erhält die Deutsche Post eine Exklusivlizenz für Briefe unter 200 Gramm. 
Bei Festnetzgesprächen zum Beispiel sinkt der Minutenpreis aufgrund des Wegfalls des Festnetzponopols der Telekom AG in ganz kurzer Zeit auf ein Zehntel des früheren (Monopolpreis)Niveaus 


2005

Das Jahr 2005 markiert die Einführung von „Hartz IV“ (vgl. dazu die Chronik der Hartz IV-Gesetze). Die Gesetzesreform ist – wie die drei Vorgängerregelungen – benannt nach dem Vorstandsmitglied Peter HARTZ von VW in Wolfsburg. Er hatte eine von Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER initiierte Gutachterkommission geleitet und Vorschläge für eine umfassende Arbeitsmarkt- und Arbeitsmarktförderung erstellt.

Ein Bericht der Berliner Zeitung mit dem Titel „Steuerzahler subventionieren Geringverdiener“ (12.8.2010) bringt auf den Punkt, was die Reform im Zusammenhang mit Niedriglöhnen bzw. später Mindestlöhnen bedeutet:

  • Der Staat gibt im Jahr 2005 rund 8 Mrd. € aus, nur um Niedriglöhne aufzustocken. Die Löhne reichen nicht aus, um den Lebensunterhalt der Beschäftigten zu sichern.
  • Umgekehrt nutzen viele Firmen das System, um ihre Gewinne zu steigern und an den Mitarbeiterkosten zu sparen.
  • Bei 355.000 Beschäftigten muss das Einkommen aufgestockt werden.In der Leiharbeit erhalten 12%, im Gastgewerbe 8% und in der Landwirtschaft 3,9% ergänzend „Hartz IV“. Großunternehmen verwandeln gut bezahlte Vollzeitstellen in Minijobs, z.B. das Transportunternehmen Schmitz Cargobull mit 500 Festangestellten und 220 Leiharbeitern.


Von den 1,3 Mio. „Aufstockern“ sind 918.000 in Teilzeit beschäftigt oder haben nur einen Minijob


2005

Es kommt zur Gründung der PIN Group, einem Konkurrenten der Post AG. Größter Aktionär: der Axel Springer Verlag (ASV) sowie die WAZ-Mediengruppe aus Essen (z.B. Westdeutsche Allgemeine Zeitung), die Verlagsgruppe Holtzbrinck (z.B. Handelsblatt, DIE ZEIT, Tagesspiegel, MAIN Post, Wirtschaftswoche usw.) sowie die Beteiligungsgesellschaft Rosalia AG


01.01.2006

Die Exklusivlizenz der Deutschen Post AG wird auf Briefsendungen bis 50 Gramm reduziert. Der Marktanteil der Konkurrenz zur Post betrug bisher lediglich rund 7%. Jetzt hofft die Politik auf mehr Wettbewerb durch Konkurrenz. 

Durch besondere Kundenorientierung und Kundenservice war die Post noch nie aufgefallen.


2006

Die PIN Group kann sich gegen private Regionalzusteller in Bayern nicht durchsetzen - zwei Depots werden bereits 4 Wochen nach ihrer Eröffnung geschlossen


2006/2007

Eilige Expansion der PIN Group durch Aufkauf von 80 kleineren Briefzustellunternehmen; mehrere Verlage, die bereits eigene lokale Briefdienste gegründet haben, verkaufen an PIN 


Juni 2007

Axel Springer erhöht seine Anteile an der PIN Group auf 71,6% (vorher: 23, 5%). Die FINANCIAL TIMES Deutschland (FTD) titelt: "Springer wird Deutschlands zweitgrößter Briefträger"


23./24.08.2007

Die Große Koalition trifft sich zu einer "Klausur" auf Schloss Meseberg. Mit auf der Tagesordnung: ein Mindestlohn für Briefzusteller


31.08.2007

Erste Verhandlungen zum Mindestlohn zwischen ver.di und dem neu gegründeten "Arbeitgeberverband Postdienste" (AGV Postdienste). Unter den 25 Mitgliedern des Arbeitgeberverbands ist die immer noch dominierende Deutsche Post AG. Die Postkonkurrenten TNT und PIN Group lehnen eine angebotene Mitgliedschaft ab


04.09.2007

Erster Tarifvertrag zwischen ver.di und AGV Postdienste liegt vor. Es wurde eine Lohnuntergrenze von 9,00 € im Osten und 9,80 € im Westen vereinbart. Er gilt für alle Betriebe, die Briefe für Dritte zustellen


12.09.2007

PIN Group und ein anderes Konkurrenzunternehmen der Post AG, die Fa. TNT, gründen einen eigenen „Arbeitgeberverband Neue Brief- und Zustelldienste" (AGV NBZ) unter der Führung von Florian GERSTER – ehemals Chef der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Der neue AGV NBZ wirft dem AGV Postdienste vor, dass dieser von der Post AG beherrscht werde und vor allem 1 Ziel habe: durch einen möglichst hohen Mindestlohn die unliebsame Konkurrenz PIN und TNT auszuschalten 


ab 18.09.2007

Der Axel Springer Verlag startet eine Kampagne:
Ein Interview mit Bundeswirtschaftsminister Michael GLOS, CSU, in der BILD-Zeitung macht den Auftakt (am 19.9.) - zeitgleich wettern andere Axel-Springer-Blätter gegen den Mindestlohn, z.B. die Berliner Morgenpost und DIE WELT. Bis in den Oktober hinein halten diese Querschüsse an. In keinem dieser Artikel wird die Zugehörigkeit von PIN zu Axel Springer erwähnt. 
Hier finden Sie eine Auflistung solcher Zeitungsartikel


19.09.2007

Kabinettbeschluss in Berlin: Briefzusteller sollen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufgenommen werden. Das Gesetz regelt den branchenweiten Mindestlohn bisher für das Baugewerbe und Gebäudereiniger. Einen Mindestlohn für Briefzusteller soll es ab 01.01.2008 geben


05.10.2007

Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) schaltet ganzseitige Anzeigen unter dem Motto "Ja zu fairem Wettbewerb! Nein zum Postmonopol!"


Oktober 2007

Laut „ARD-DeutschlandTREND“ befürworten 86% der Deutschen Mindestlöhne:


09.10.2007

Mitarbeiter von PIN AG und TNT demonstrieren in Berlin gegen den Mindestlohn für die Postbranche. Laut Angaben einiger PIN-Mitarbeiter wurde die Demonstration von der eigenen Geschäftsleitung initiiert und organisiert - alle Beschäftigten dürfen dies in ihrer Arbeitszeit demonstrieren


10.10.2007

Das Medienmagazin ZAPP des NDR geht auf Sendung: "Eigennützige Kampagne" - 'Bild' kämpft gegen Mindestlöhne bei Briefzustellern"


12.10.2007

Gründung einer neuen Gewerkschaft: "Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste (GNBZ)". Die Anmeldeformulare wurden bereits am Tag der Demonstration, vor der eigentlichen Gründung, unter der PIN-Belegschaft verteilt. Die Mitarbeiter beklagen, dass der Druck, der Gewerkschaft beizutreten, zunehmend wächst


Mitte Oktober 2007

Die Post AG storniert Anzeigen im Wert von 800.000 € bei Axel Springer und anderen Verlagshäusern – offensichtlich eine Reaktion auf die Anti-Mindestlohnkampagne der Springer-Blätter. Der Post AG-Chef Klaus ZUMWINKEL indes will auf Nachfragen von Journalisten keinen Zusammenhang sehen. SPIEGEL ONLINE meldet dazu: „Eine irgendwie geartete Strafaktion", heißt es im Konzern offiziell, sei das aber nicht. Vielmehr gehe es um eine "normale Überprüfung" der Werbekampagnen am Jahresende


17.10.2007

Und wieder berichtet ZAPP: "Anzeigenboykott - Die teure Rache der Post


Ende Oktober 2007

Auf der Plattform www.BILDblog.deauf der mehrere Journalisten regelmäßig Fehler und Pannen der BILD-Zeitungdokumentieren und richtig stellen, wird jetzt auch die Mindestlohnkampagne thematisiert. Hier finden Sie einen Ausschnitt aus dem BILDblog.


12.11.2007

In einer Sitzung des Koalitionsausschusses weigert sich die Bundeskanzlerin Angela MERKEL, CDU, den vorliegenden Posttarifvertrag zwischen dem "Arbeitgeberverband Postdienste (AGV Postdienste)" und der Gewerkschaft ver.di für allgemeinverbindlich zu erklären, da dieser nicht 50 % der Branchenbeschäftigten einschließe, wie es das Tarifrecht fordert


29.11.2007

Der zwischen Verdi und AGV Postdienste ausgehandelte Mindestlohntarifvertrag wird in einer neuen Fassung vorgelegt. Der Geltungsbereich wurde auf "Betriebe und selbständige Betriebsabteilungen, die überwiegend gewerbs- oder geschäftsmäßig Briefsendungen für Dritte befördern", beschränkt


03.12.2007

Klaus ZUMWINKEL , Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post, nutzt den gestiegenen Aktienkurs der Deutschen Post AG zum Verkauf eigener Anteile. Springer sieht sich in seinem Vorwurf bestätigt, dass die Einführung des Mindestlohns einzig dem Monopolerhalt der Post dienen soll - Das Hamburger Abendblatt (Springer Verlag) titelt daher treffend: „Zumwinkel profitiert auch vom Ja zum Mindestlohn"


04.12.2007

SPIEGEL ONLINE meldet: "PIN-Gruppe will wegen Mindestlohn 1.000 Mitarbeiter entlassen". Stattdessen will sie ihre Briefe von nebenberuflichen Postboten kooperierender Zeitungsverlage günstiger zustellen lassen. Auf diese Weise kann die Mindestlohnregelung umgangen werden


10.12.2007

Report Mainz beschäftigt sich mit dem Thema: Die Wahrheit hinter dem Kahlschlag bei der PIN-Group (Manuskript der Sendung als pdf-file)


Mitte Dezember 2007

Mehreres geschieht:

  • Der Bundestag beschließt am 14.12.2007 die Aufnahme der Postdienstleister in das Arbeitnehmerentsendegesetz
  • Der Axel Springer Verlag beschließt, keine weiteren Finanzmittel für die PIN Group bereitzustellen und führt den beschlossenen Mindestlohn als Grund an.
    Der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Springer Verlags Jürgen RICHTER jedoch dazu: "… man versucht Managementfehler, die in der Vergangenheit und in den letzten Jahren passiert sind, jetzt auf das Thema Politik abzuwälzen…. Man sollte hiermit auch eingestehen, dass man hier vielleicht bei der Beurteilung des Marktes und der Zukunftschancen, Fehler gemacht hat, so in der Sendung Report Mainz am 10.12.2007
  • Der Chef der PIN-Gruppe, Günter THIEL, will PIN retten und führt Verhandlungen mit Springer. Er bietet an, die Anteile für einen symbolischen Euro zu kaufen, die Schulden zu übernehmen und 60 Mio. € in das Unternehmen zu investieren. Springer fordert jedoch eine substantielle Beteiligung an zukünftigen Gewinnen oder Verkaufserlösen, woran die Verhandlungen letztendlich scheitern

17.12.2007

Dieser Montag ist mal wieder SPIEGEL-Tag (Ausgabe Nr. 51): Der ASV-Vorsitzende Mathias DOEPFNER lässt sich ausführlich in einem SPIEGEL-Gespräch über das "Hohe Maß an Willkür" aus, das die ganzen Vorgänge präge. DOEPFNER äußert sich detailliert über die ursprünglichen Pläne mit PIN, seinen Notausstieg aus PIN und welche Rolle die 'hohe Politik' dabei spielt, die offenbar das Post-Monopol stabilisieren will:


noch bis Ende Dezember 2007

  • PIN-Chef Günter THIEL tritt von seinem Posten zurück. Er begründet diese Entscheidung u. a. mit der "gestörten Vertrauenslage" mit dem Springer-Verlag
  • Der Insolvenzanwalt Horst PIEPENBURG übernimmt die Geschäftsleitung der PIN Group. Er soll das Unternehmen sanieren
  • Der Bundesrat billigt die Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf die Briefdienstleister. Damit kann das Gesetz am 01. Januar 2008 in Kraft treten
  • Axel Springer als größter Anteilseigner bei PIN stellt alle Zahlungen beim Postkonkurrenten ein - durch die Einführung des Mindestlohnes beim Konkurrenten Deutsche Post AG drohen weitere Geldverluste, da die PIN nicht mehr wettbewerbsfähig ist
  • Insgesamt 40 von 120 Niederlassungen der PIN-Gruppe melden Insolvenz an. 25 Tochterfirmen stellen ihren Betrieb vollständig ein. Von 11.500 Mitarbeitern verlieren rund die Hälfte ihren Arbeitsplatz

01.01.2008

Die Exklusivlizenz der Deutschen Post AG zur Beförderung von Briefsendung bis 50 Gramm erlischt. Nun kann jeder alle Postdienstleistungen, ohne Gewichtseinschränkungen auf dem Markt anbieten. 
12 von insgesamt 27 EU-Staaten erhöhen den einheitlichen, gesetzlichen Mindestlohn. Die Gewerkschaft ver.di und der von der Deutschen Post dominierten Arbeitgeberverband „Postdienste“ handeln einen branchenweiten Post-Mindestlohn aus.
Ausgehend vom so genannten Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das erst ein Jahr später in Kraft treten wird, aber bereits jetzt absehbar ist, überträgt das Bundesarbeitsministerium den Mindestlohn auf weite Teile der Postbranche - auch geltend für PIN.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz stellt die Grundlage für Mindeststandards für Arbeitsbedingungen in Deutschland für bestimmten Branchen dar (Bauhauptgewerbe, Dachdeckerhandwerk, Elektrohandwerk, Maler- und Lackiererhandwerk, Gebäudereinigung, Pflegebranche, Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken, Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst). Der neue Post-Mindestlohn lautet 9,80 € 


Januar 2008

Inzwischen haben 17 der 91 Tochtergesellschaften der PIN Group Insolvenz angemeldet. Ihr Geschäftsbetrieb wird jedoch fortgeführt. Dies betrifft etwa ein Drittel der 9.000 Beschäftigten bei PIN. 
Trotz Insolvenz stoppt PIN den im Dezember angekündigten Personalabbau. Die Finanzierung der Löhne erfolgt aus Insolvenzgeldern.
Der Axel-Springer-Verlag muss fürs Jahr 2007 und sein beendetes PIN-Engagement rund 520 Millionen Euro abschreiben. Unterm Strich wird das auf einen "Jahresfehlbetrag" bzw. Verlust von 288 Mio € hinauslaufen. Im Vorjahr hatte der Verlagskonzern noch einen "Jahresüberschuss" in Höhe von 291 Mio € verbucht


24.01.2008

Das Portal WELT online, das zum Axel Springer Verlag gehört, meldet als eine der ersten:
PIN zahlt ab Januar nun doch den Mindestlohn.
Unter dem neuen Vorstandschef, Rechtsanwalt Horst PIEPENBURG, der als Insolvenzverwalter fungiert, will die PIN keine Kunden aus dem Öffentlichen Bereich verlieren. Für den Öffentlichen Dienst, z.B. Behörden ist die PIN ein attraktiver Konkurrent, der deutlich billiger austrägt als die Post AG. Gleichzeitig ist für den Öffentlichen Dienst das Thema Mindestlohn tatsächlich ‚ein Thema’


Die Medienkampagne des Axel-Springer Verlags hat sich damit erledigt. Das Thema Mindestlohn nicht. Deshalb geht unsere Chronologie hier noch ein wenig weiter:

07.03.2008

Das Berliner Verwaltungsgericht fällt ein Urteil: Ein vom Staat per "Rechtsverordnung" allgemein verbindlich erklärter Mindestlohn darf keine vertraglich vereinbarten Mindestlöhne verdrängen. Damit erklären die Richter die von der Gewerkschaft Ver.di mit dem von der Deutschen Post AG dominierten Arbeitgeberverband "AGV Postdienste" abgeschlossenen Mindestlöhne (vgl. 29.11.07) für unzulässig.
Bundesarbeitsminister Olaf SCHOLZ, SPD, kündigt für die Bundesregierung Berufung an

DER SPIEGEL (12/2008) schreibt dazu:

"Jetzt rächt sich, dass die Regierung für ihren Kampf gegen Niedrigverdienste einen europaweit einmaligen Sonderweg eingeschlagen hat. In nahezu allen EU-Staaten haben die Regierungen einheitliche Mindestlöhne für die gesamte Wirtschaft festgesetzt. Nur in Deutschland soll es einen Flickenteppich separater Vorgaben für jede Branche geben, ausgehandelt von Arbeitgebern und Gewerkschaften." Damit bewirke sie das "genaue Gegenteil"


13.03.2008

Das Handelsblatt titelt auf seiner ersten Seite, dass sich "7 Top-Ökonomen" der führenden Wirtschaftsforschungs-Institute in einem Brandbrief an die Bundesregierung dafür ausgesprochen haben, alle weiteren Pläne für Mindestlöhne zurückzuziehen. Andernfalls drohe ein Abbau von Arbeitsplätzen. Und: 

"Ohne Not würde mit diesem Schritt der Weg in eine staatliche Lohnfestsetzung bereitet und das erfolgreiche System der marktwirtschaftlichen Ordnung in seinen Grundfesten beschädigt."

Dass es Mindestlöhne in fast allen EU-Staaten längst gibt, schreiben die Wirtschaftsfachleute nicht. Auch nicht, worin sie das "erfolgreiche System der marktwirtschaftlichen Ordnung" in Bezug auf soziale Gerechtigkeit und Arbeitsplatz-Verteilung sehen.
Sie schreiben auch nicht davon, dass nach einer Handelsblatt-Umfrage 78% der befragten Manager "keine Konsequenzen" sähen, wenn der vom DGB geforderte Mindestlohn in Höhe von 7,50€ eingeführt würde. 12% würden die Anzahl der eigenen Mitarbeiter verringern, 6% würden Arbeitsplatzabbau in anderen Branchen vermuten und für 4% hätte dies "andere Konsequenzen".


22.03.2008

Die Medien überschlagen sich mit Nachrichten:

PIN AG hat Briefgewerkschaft finanziert

titelt z.B. die Berliner Zeitung. Beim Durchforsten der PIN-Gechäftsführungsunterlagen ist der Insolvenzverwalter auf Belege gestoßen, nach denen der Ex-PIN-Chef Günter THIEL die "Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste (GNBZ)" in den rund 10 Wochen ihres Bestehens (vgl. Gründung am 12.10.07) mit rund 133.000 € unterstützt bzw. finanziert hat. Rund 30.000 € sind davon an den GNBZ-Chef Arno DOLL als Gehalt geflossen.

Die Gewerkschaft ver.di hatte schon bei Gründung der GNBZ den Verdacht geäußert, dass es sich dabei um eine Schein-Gewerkschaft handele. 

Ein ähnliches Problem war 2007 bei SIEMENS aufgetaucht. Dort hatte sich im Zusammenhang mit den rund 1,4 Mrd. € Schmier- und Korruptionsgeldern herausgestellt, dass der SIEMENS-Vorstand die Gewerkschaft "Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB) mit massiven Geldbeträgen illegal subventioniert hatte. Deren Ex-Chef Wilhelm SCHELSKY sitzt seit 2007 in U-Haft - Beeinflussung und Begünstigung von "Betriebsverfassungsorganen", z.B. auch Betriebsräten ist nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz strafbar. Ein ähnliches Problem hatte auch VW: dort wurden die Betriebsräte mit Sex, Viagra und Prostituierten 'gefügig' gemacht. Organisator dieses Systems: Peter HARTZ - der geistige Vater von "Hartz IV" (vgl. VW - eine Lustreisen- und Skandalchronologie)


2009

Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts entscheidet: Sittenwidrigkeit liegt dann vor, wenn der ortsübliche oder der Tariflohn um ein Drittel unterschritten wird. Und inzwischen gibt der Deutsche Staat 11 Mrd. € jährlich aus, um Niedriglöhne aufzustocken. Im Hartz-IV-System dient fast jeder dritte Euro dazu, (zu) niedrige Löhne ein wenig aufzubessern


August 2009

Die Drogeriekette Schlecker schließt kleinere Filialen, kündigt den Angestellten und stellt für neu eröffnete sogenannte XL-Märkte Personal fast ausschließlich über die Leiharbeitsfirma Meniar zu deutlich schlechteren Bedingungen ein. Anstelle des im Einzelhandel geltenden Tariflohns von 12,70 € erhalten die neu Eingestellten nun 6,78 €


11.01.2010

Die Drogeriekette Schlecker will die Zusammenarbeit mit einer umstrittenen Leiharbeitsfirma auslaufen lassen: Es sollen keine neuen Verträge mehr abgeschlossen werden. Grund: Viele Käufer sind mit der neuen Personal- und Arbeitspolitik nicht einverstanden: sie boykottieren Schlecker. Schlecker spürt das: Der Umsatz wird im Jahr 2010 um 16% zurückgehen. Profitieren wird davon Schlecker's Konkurrenz: vor allem die Ketten "dm" und "Rossmann"


27.01.2008

An diesem Tag sind es zwei Dinge, die das Geschehen in Sachen Mindestlohn prägen:

  • Die Arbeitsgemeinschaft (Arge) in Stralsund, eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, die u.a. die für Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen zuständig ist, verklagt einen ehemaligen Betreiber einer Pizzeria, weil er seinen Mitarbeitern zwischen 1,14 und 3,33€ in der Stunde gezahlt hat.Es handelt sich um einen sittenwidriger Lohn, befindet das zuständige Arbeitsgericht und verurteilt den Gastronomen, der Behörde 6.600€ zurückzuzahlen – das zuständige Job-Center hätte bei besserer Bezahlung der Angestellten weniger Geld für deren staatliche Unterstützung aufbringen müssen.Bei der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit (BA) heißt es, sämtliche Job-Center seien angewiesen, Hinweisen auf eine mögliche sittenwidrige Entlohnung nachzugehen
  • Das Bundesverwaltungsgericht kippt - wie bereits das Verwaltungsgericht zuvor - endgültig eine Verordnung der Großen Koalition, mit der die zwischen der Deutschen Post und der Gewerkschaft ver.di vereinbarte Lohnuntergrenze als verbindlicher Mindestlohn für die gesamte Branche festgelegt worden ist (BVerwG 8 C 19.09). Das Gericht moniert, dass das Ministerium den Wettbewerbern wie PIN und TNT keine Gelegenheit gegeben hatte, ihren Standpunkt in einer schriftlichen Stellungnahme zu äußern. Damit sei ihnen die Beteiligung an dem Verfahren entzogen worden. Das Post-Mindestlohn-Urteil des Verwaltungsgerichts ist daher rechtswidrig und existenzgefährdend für Post-Konkurrenten

Danach

Mit der Gewerkschaft der neuen Brief- und Zustelldienste wird ein neuer Mindestlohn von 6,50 € (Ost) und 7,50 € (West) ausgehandelt.

  • PIN senkt das Gehalt von 9,80 € auf 8,50 € ab
  • Haustarifverträge bei TNT sehen als Mindestlohn 7,60 € vor


Die Deutsche Post AG zahlt ihren Angestellten 13,07 € im Durchschnitt


17.02.2010

Jetzt schaltet sich der Aufsichtsratchef des Lebensmitteldiscounters Lidl, Klaus GEHRIG, in die Debatte ein: Erplädiert für einen branchenweiten Mindestlohn. Lidl zahlt seinen Mitarbeitern einen Mindestlohn von 10 €. Die Hälfte der Beschäftigten bei Lidl erhalten bei einem Vollzeitjob sogar mehr als 13,00 € pro Stunde


Im weiteren Verlauf des Jahres 2010

In immer mehr Branchen setzen sich Mindestlöhne durch, auch wenn sie niedrig sind. Beispiele:

  • Die Arbeitgeber des Wachgewerbes einigen sich mit der Gewerkschaft ver.di nach langem Ringen auf einen Mindestlohn-Tarifvertrag. Wachschützer erhalten ab 2011 und je nach Region mindestens 6,53 € bis 8,46 € pro Arbeitsstunde
  • Die Pflegedienstbranche mit allein 800.000 Beschäftigten einigt sich mit einer noch von SPD-Arbeitsminister Olaf SCHOLZ eingesetzte Kommission auf Mindestlöhne von 7,50 € je Stunde im Osten und 8,50 € je Stunde im Westen
  • Der Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen unterschreibt einen Mindestlohntarifvertrag. Ein Mindestlohn von 7,50€ soll bis 2013 schrittweise eingeführt werden

01.07.2010

Die Bundesregierung ändert das Steuerrecht: Sie gleicht eine wesentliche Rahmenbedingung an: die Gleichbehandlung der Post und ihrer Konkurrenten bei der Umsatzsteuer. Bisher war die Post davon ausgenommen - der Kauf von Briefmarken nicht umsatzsteuerpflichtig. Ab sofort sind alle Briefzustellungsdienste etc. umsatzsteuer- bzw. mehrwertsteuerpflichtig


20.08.2010

Der Textildiscounter Kik beschließt eine freiwillige brancheninterne Lohnuntergrenze und erhöht den Lohn von 5,20 € auf einen Basislohn von 7,50 €


13.10.2010

Die Arbeitgeber stellen sich die Frage, ob die Bundesregierung bereit ist, die vereinbarten Mindestlöhne auch für die ausländischen Zeitarbeitsfirmen geltend zu machen.
Arbeitgeberpräsident Dieter HUNDT warnt vor Missbrauch und verweist auf das Beispiel Schlecker. Dieses Unternehmen hatte Teile der Stammbelegschaft erst entlassen und anschließend zu deutlich geringeren Löhnen bei einer eigens gegründeten Zeitarbeitsfirma wieder beschäftigt. Jetzt sollen dieses Zusammenarbeit allerdings wieder beendet werden - Viele Kunden von Schlecker waren damit nicht einverstanden und haben die Kette boykottiert.
HUNDT befürchtet, dass deutsche Zeitarbeitsfirmen in Polen eine Filiale eröffnen könnten und völlig legal polnische Zeitarbeiter zu polnischen Tarifverträgen an deutsche Unternehmen ausleihen würden. Tarifverträge mit einem Mindestlohn von 4,80€ seien in Polen bereits in Vorbereitung


26.11.2010

Arbeitsministerin Ursula VON DER LEYEN (CDU) verlangt jetzt ebenfalls für die Zeitarbeitsbranche einen Mindestlohn. Sie will eine Lohnuntergrenze im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einführen (Mindestlohn soll per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich gelten: Alle Arbeitgeber in der Branche müssen mindestens diesen festgelegten Lohn zahlen). Durch derlei Mindestlöhne möchte von der LEYEN Lohndumping durch ausländische Tarifverträge verhindern.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz soll regeln, dass die vereinbarte Lohngrenze auch für Arbeitgeber im Ausland gilt, die ihr Personal aus Deutschland beziehen. Die FDP, absolute Gegnerin von Mindestlöhnen, sieht keine Notwendigkeit für einen Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche – sie plädiert für Equal Pay: Nach einer Einarbeitungszeit verdienen Zeitarbeiter genauso viel wie die festangestellten Kollegen


16.12.2010

Laut einer Studie der US-Eliteuniversität Berkeley (Arbeitsmarkt-Forschungszentrums) kosten staatliche Lohnuntergrenzen nicht zwangsläufig Jobs. Dies sind die Ergebnisse der Studie:

  • Höhere Mindestlöhne haben in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 16 Jahren keine Jobs vernichtet
  • Es handelt sich um eine der besten und überzeugendsten Mindestlohn-Studien der vergangenen Jahre“, lobt Harvard-Professor Lawrence KATZ
  • Wenn ein Bundesstaat den Mindestlohn erhöhte, stiegen danach die Einkommen der betroffenen Beschäftigten auch deutlich an

21.12.2010

Der Geschäftsführer vom Einzelhandelsverband HDE, Heribert JÖRIS, spricht sich gegen einen Mindestlohn von 10€ für Lidl-Mitarbeiter aus, da er ihn bei einer branchenweiten Einführung für unrealistisch hält


11.01.2011

Der CSU-Vorsitzende Horst SEEHOFER spricht sich für einen Mindestlohn für Leiharbeiter aus. Fachkräftemangel solle nicht mit ausländischen Arbeitnehmern aufgefüllt werden


Anfang 2011

In 20 von 27 EU-Staaten gibt es gesetzliche flächendeckende und einheitliche Mindestlöhne. In vier weiteren Staaten (Dänemark, Schweden, Finnland, Italien) sind es andere Mechanismen, die für eine faire und menschenwürdige Entlohnung sorgen


12.03.2011

Nach Ansicht von Klaus ERNST, Vorsitzender der Linkspartei, fehlen am deutschen Arbeitsmarkt die zentralen Sicherungen gegen einen Lohnunterbietungswettbewerb. Darum fordert DIE LINKE den gesetzlichen Mindestlohn - am liebsten noch vor dem 1. Mai.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung lehnt diesen indes strikt ab. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes VOGEL, begründet dies z.B. im Neuen Deutschland: „Der gesetzliche Mindestlohn passt nicht zur deutschen Tradition der Tarifautonomie". Verdi-Sprecher Christoph SCHMIDT hingegen ist der Meinung, dass die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern gezeigt hätten, dass sich der Mindestlohn sehr wohl positiv auf den Arbeitsmarkt auswirke


Mai 2011

Bürger aus osteuropäischen EU-Staaten können in Deutschland ohne Einschränkung arbeiten – es gibt keinerlei Grenzen mehr.
Die Bundesregierung bzw. das Arbeitsministerium muss eine parlamentarische Anfrage der LINKEN beantworten: Um eine Rente in Höhe der Grundsicherung von 684€ im Monat zu erhalten, müssten vorher knapp 29 Entgeltpunkte erarbeitet werden.

“Um dies bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäftigung zu erreichen, wäre rechnerisch ein Stundenlohn von rund 10 € erforderlich,“

heißt es dazu in der Antwort der Bundesregierung bzw. der Bundesarbeitsministerin Ursula VON DER LEYEN, vertreten durch ihren Palamentarischen Staatssekretärs Hans-Joachim FUCHTEL.Gleichzeitig setzt sich auch innerhalb der konservativen CDU/CSU-Fraktion immer mehr die Erkenntnis durch, dass ein adäquater Mindestlohn nicht nur dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung entspricht (so z.B. der MdB-Abgeordnete Peter WEISS), sondern dass ein solcher auch eine zwingende Voraussetzung ist, um Altersarmut von vorneherein zu verhindern


Herbst 2011

In immer mehr Reihen der CDU setzt sich die Forderung nach einem Mindestlohn durch. Im November soll dies auf dem CDU-Bundesparteitag beschlossen werden. Die CDU hat auch hier hinzugelernt (nach Fukushima und anderen Dingen) ...


Bis es dann wirklich soweit ist, dass man sich in Deutschland mit 40 Stunden Wochenarbeitszeit selbst ernähren kann ohne auf staatliche Zuschüsse angewiesen zu sein, dauert es dann noch. So schnell lernt die konservative Partei dann doch nicht. Und ihr hängt auch noch der Klotz ihres kleinen Koalitionspartners an.
Letzteres Problem erübrigt sich durch die Bundestagswahl im September 2013: Die FDP schafft nicht mehr die 5-Prozent-Hürde.
Dafür gibt es eine große Koalition: CDU und SPD beschließen, einen Mindestlohn einzuführen. Und dazu kommt es dann auch: im Frühsommer 2014 beschließen Bundestag und Bundesrat mit (riesen)großer Mehrheit, auch in Deutschland - wie in den meisten EU-Ländern bereits praktiziert - den Mindestlohn einzuführen: 8,50 € pro Stunde. Und nur mit wenigen Ausnahmen.

Hier geht es zur Chronologie der Einführung des Mindestlohns in Deutschland ganz grundsätzlich


(ES /VK)