Interview mit Hanna-Lotte Mikuteit

Frau Mikuteit, warum sind Sie gerade dieser Geschichte nachgegangen?

Olaf Scholz war 2012 gerade zum Ersten Bürgermeister gewählt worden. Auf einer Gewerkschaftsveranstaltung am  1. Mai hatte er einen Landesmindestlohn von 8,50 Euro für Hamburg angekündigt. Das haben wir zum Anlass genommen, um zu fragen, wie es in der Hamburger Verwaltung und in den Öffentlichen Unternehmen in Sachen Lohndumping zu dem Zeitpunkt aussah. Insgesamt hatten wir Glück mit dem Projekt.

Glück?

Ich durfte ein Team mit Volker ter Haseborg, der damals Chefreporter beim Hamburger Abendblatt war, bilden. Ein Programm des Axel-Springer-Verlags ermöglichte uns Freiraum für die Durchführung der Recherche. Wir haben ein Konzept erstellt und waren dann für fast zwei Monate von unseren normalen Aufgaben freigestellt. Diese Kombination war ein große Chance. Wir haben natürlich schon geahnt, dass da manches im Argen liegt. Aber unsere Fragen hatte so noch keiner gestellt. Und es war eben auch großartig, ein Projekt für einen größeren Zeitraum zu machen.

Was war problematisch bei der Recherche?

Das allergrößte Problem war es, Protagonisten zu finden. Wir wollten die Geschichte möglichst nah an Menschen erzählen. Wir wollten feststellen, was sind das eigentlich für Leute, die möglicherweise prekär beschäftigt sind, obwohl die  öffentliche Hand der Arbeitgeber ist.  Ich bin der festen Überzeugung, dass man die meisten Themen am besten über Menschen erzählen kann. Aber die Suche nach Betroffenen war sehr schwierig.

Warum? Was war schwierig?

Die Gewerkschaften konnten stundenlang darüber reden, wie toll es wäre, den Mindestlohn zu haben, den es damals noch nicht gab. Aber die Menschen zu finden, die sich hinstellen und sagen: Ich arbeite für 7 Euro die Stunde,  kann mir gar nichts leisten, muss zum Sozialamt gehen und aufstocken - das war schwer. Nach sehr langen Recherchen, vielen Gesprächen mit Gewerkschaften, Sozialberatungsstellen und dem Jobcenter, sind wir zu Menschen gekommen, die mit uns reden. Aber sie wollten nicht ihren Namen in der Zeitung lesen. Sie hatten Angst um ihre Existenz. Normalerweise würde ich sagen, bei einem so großen Projekt  muss man mit Klarnamen arbeiten. Nach langen Überlegungen untereinander und mit unseren Chefs, sind wir zu dem Punkt gekommen, dass es uns wichtiger ist, über diese Leute zu berichten. Wir haben beschlossen, dass wir die Namen ändern und schreiben das klar mit Begründung in den Artikel rein.

Gab es noch mehr Probleme?

Das zweite große Problem war die Fülle des Materials. Das war so viel, weil bei der Stadt Hamburg nicht nur Beamte beschäftigt sind, sondern auch Angestellte im Öffentlichen Dienst. Zusätzlich ist Hamburg an sehr vielen Öffentlichen Unternehmen beteiligt. Um an die richtigen Geschichten heranzukommen, war es gut, mit  Betriebsräten und Gewerkschaften zu sprechen.  Wenn man erstmal einen Faden hatte, an dem man ziehen konnte, ging es ziemlich gut voran. Das Thema war politisch gesetzt, und es gab eine Bereitschaft darüber zu reden. Wobei uns dann schnell klar wurde, wie groß die Gruppe der Betroffenen insgesamt ist. Wir hatten wir nicht erwartet.

So entstand dann der Titel…

…  „Die unteren Zehntausend“. Das waren nicht immer Leute, die komplett unter dem Mindestlohn verdienten. Dabei waren auch Fälle von erzwungener Teilzeitarbeit, befristeten Arbeitsverträgen, Werksverträge.  Wenn man sich das alles angeguckt hat, fragt man sich, was für ein Arbeitgeber ist die Stadt eigentlich? Soll das ein gutes Vorbild sein?

Wie sehen Sie rückblickend die Entwicklung des Themas?

Auf journalistischer Ebene waren wir natürlich erstmal sehr froh, dass unser Artikel so eingeschlagen ist. Für die Woche nach Erscheinen des Dossiers hatten wir die weitere Berichterstattung bereits im Voraus geplant.  Dass die Resonanz so groß war, auch vom Bürgermeister, der von Aspekten dieser Recherche völlig überrascht worden ist, hätten wir nicht gedacht. Der Artikel hat sicherlich dazu beigetragen, in der Stadt das Bewusstsein für das Thema Lohndumping zu schärfen.

Und auf politischer Ebene?

Auf der politischen Ebene haben wir einen laufenden Prozess unterstützt, so dass schnell verschiedene Sachen umgesetzt worden sind. Konkret betraf das die Arbeitsplätze bei der Stadtreinigung und den Tarifvertrag im Kita-Bereich. Beides sind Bereiche, in denen sich vorher jahrelang nichts bewegt hat. Das Landesmindestlohngesetz wäre so oder so  gekommen und das wussten wir auch. Hamburg war nach Bremen das zweite Land,  das solch ein Gesetz eingeführt hat. Wir können uns also nicht auf die Fahne schreiben, dass wir die Veränderungen ausgelöst haben. Aber wir haben in einem kleinen Bereich den Fokus auf das Problem gerichtet und vielen Leuten wirklich helfen können. Sicherlich war die Einführung des Landesmindestlohnes auch ein wichtiger Schritt für den Bundesmindestlohn, der Anfang 2013 beschlossen wurde.

Können Sie etwas zur aktuellen Berichterstattung sagen?

Wir haben das Thema immer wieder aufgegriffen, in der ersten Zeit und bis zu Verabschiedung dieses Landesmindestlohngesetzes. Wir haben einige Wochen später noch mal mit allen gesprochen und beschrieben, was sich entwickelt hat - so eine Art Wiedervorlage. Es gab einige Erfolgsmeldungen. Ich habe in der Folge auch immer wieder über Firmen berichtet, die in dem Dossier vorgekommen waren, wie etwa den Klinikkonzern Asklepios oder die städtischen Kitas Elbkinder. Auch aktuell geht es wieder mal um Tarifverhandlungen für Niederlohnverdiener, dieses Mal für den Bodensicherungsdienst am Flughafen. Der Flughafen ist zur Hälfte in städtischen Besitz und im Bodensicherungsdienst wird sehr schlecht bezahlt. Das sind extrem viele prekäre Arbeitsverhältnisse und ich bin gerade dabei, ein kleines neues Projekt zu planen. Aber es ist nicht so, dass Tarifpolitik mein Hauptthema wäre. Ich bin Allrounder und habe nicht immer die Zeit,an allen Facetten dranzubleiben.

Finden Sie, Journalisten sollten durch ihre Berichterstattung gegen Ungerechtigkeiten vorgehen?

Ja, natürlich. Das ist sehr wichtig. Es gibt eine Informationspflicht, die Journalisten haben. Aber es geht auch immer wieder darum, Missstände aufzuzeigen. Es ist nicht mehr so, dass die Informationen wie früher nicht greifbar sind. Jeder kann sehr viele Informationen im Internet finden. Heute geht es im Journalismus um die Bewertung, die Einordnung und eben auch die Analyse von Informationen. Das Ziel ist dabei immer auch, Missstände und Ungerechtigkeiten aufzudecken.

Gab es Gegenwind, nachdem Sie die Geschichte veröffentlicht haben?

Wir haben sehr viel positives Feedback bekommen. Vielleicht auch, weil das Abendblatt für so eine Art von Recherche nicht bekannt ist. Klar machen wir große Projekte, aber das war schon ein sehr datenlastiges Projekt. Es waren natürlich nicht alle, die in dem Text vorkamen, glücklich. Von Anfang an war es unser Ziel, alles wasserdicht zu haben. Wir wollten uns juristisch nicht angreifbar machen. Wir konnten alle Behauptungen, die wir in dem Text aufstellen, belegen. Daraus ist ein dicker Ordner mit allen Nachweisen entstanden. Das war das eigentliche Produkt unserer Arbeit. Tatsächlich war es so, dass wir keine einzige Gegendarstellung kassiert haben. Es gab in einzelnen Punkten Überlegungen, juristisch gegen uns vorzugehen, z.B. fühlte der Krankenhauskonzern Asklepios sich überhaupt nicht gerecht behandelt. Aber insgesamt muss ich sagen, dass wir sauber rausgekommen sind. Das war uns auch richtig wichtig. 

Hat es Sie geärgert, dass Sie damals den Wächterpreis nicht bekommen haben?

Wir haben den Text für diverse Preise eingereicht. Wir wollten sehen, wie wir im Vergleich dastehen. Wir haben den DRK-Medienpreis bekommen. Da hat man schon gemerkt, wir spielen in einer bestimmten Liga. Was den Wächterpreis angeht ja, ich hätte den natürlich wahnsinnig gerne gehabt. Ich finde, das ist einfach der wichtigste Preis. Aber als wir das Dossier einreichen konnten, war es auch schon relativ alt und deswegen habe ich mir keine großen Hoffnungen gemacht. Mir ist schon klar, dass ein politisch aktuelles Thema eine ganz andere Schlagkraft hat in einem Gremium, welches den Preis verleiht. Es gab noch zwei/drei andere Preise, die ich auch sehr gerne gehabt hätte. Vielleicht können wir es so ausdrücken: Der Wächterpreis wäre uns sehr wichtig gewesen - auch weil das Thema dann bundesweit noch mehr in den Fokus gelangt wäre.