Abrechnungsbetrug mit Toten: So ging die Geschichte weiter

Die Kontroverse entzündete sich nicht zuletzt an der Frage, ob die Missstände, die publik wurden, nur wenige so genannte Schwarze Schafe betreffen, oder ob es sich um ein ganz grundsätzliches Problem handelt, das der Abhilfe bedarf.

Eines der Probleme bei der Berichterstattung liegt in den Zahlen, die dabei genannt werden: Handelt es sich um die Anzahl der beteiligten Ärzte oder um Tote oder um einzelne Abrechnungen bzw. potenzielle Betrugsfälle? Betrifft es Zahlen, die zunächst im Zusammenhang mit Ermittlungsverfahren genannt werden oder stehen die Zahlen für bereits rechtskräftig verurteilte Ärzte?

Während nach dem ersten panorama-Bericht vom 12.10.2000 Reaktionen auf Seiten von Ärzten und Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) weitgehend ausblieben, da es nur um Einzelfälle ging, war die Empörung nach dem zweiten Bericht vom 16.01.2003 groß. Die KVen waren beleidigt, Ärzte aufgebracht und Patienten klagten über Vertrauensverlust. In Ärzteforen wurde heiß diskutiert, in KV-Blättern wurde der Skandal dementiert und als Einzelfälle dargestellt. Die Aufregung war erheblich: 140 Fälle allein in Niedersachsen, ein offenbar bundesweit verbreitetes Phänomen – davon wollte man in der Branche nichts wissen.

panorama hatte zu hoch gegriffen, denn es war nicht etwa von 140 betrügerischen Ärzten die Rede, sondern von 140 Betrugsfällen, die die AOK in Niedersachsen ermittelt hatte. Dass sich diese 140 Fälle dabei auf nur etwa ein Dutzend Ärzte verteilten, wurde in dem Bericht nicht erklärt.

Da es zu einer solch heftigen Resonanz auf den Beitrag gekommen war , reagierte panorama erneut: In einer weiteren Sendung am 06.02.2003 wurde das Thema nochmals aufgegriffen. In der Zwischenzeit hatte panorama eine Umfrage unter den 305 deutschen gesetzlichen Krankenkassen gestartet. Gut die Hälfte aller Kassen meldete sich mit nun ihrerseits recherchierten Fallzahlen zurück.

In dem neuen panorama-Beitrag zur Umfrage kamen Sprecher von DAK, TK und KKH zu Wort, die von jeweils mehreren hundert Verdachtsfällen sprachen, die sich aus dem Abgleich von abgerechneten Patienten und bereits verstorbenen Patienten ergaben. Dabei wurden auch kurzfristig verstorbene Patienten mitgezählt, bei denen sich eine Abrechnung nach dem Tod plausibel erklären ließ. So rechnen Ärzte zum Beispiel für einen am Anfang des Quartals behandelten und anschließend verstorbenen Patienten erst am Ende des Quartals ab. Auch Laboruntersuchungen können noch einige Zeit nach dem Tod eines Patienten ordnungsgemäß abgerechnet werden.

panorama bezog in die Berechnung allerdings nur Fälle mit ein, in denen die Patienten schon länger als ein Quartal verstorben waren und ermittelte daher aus den Rückmeldungen der etwa 150 Kassen, dass bundesweit mit 1.138 Toten falsch abgerechnet wurde. Umgerechnet auf die Zahl der Krankenkassen ergibt dies deutlich geringere Zahlen als die im Beitrag genannten. Wiederum handelt es sich bei der genannten Zahl 1.138 nicht um betrügerische Ärzte, sondern um falsch abgerechnete verstorbene Patienten, wobei einzelne betrügerische Ärzte jeweils gleich in mehreren Fällen falsch abrechneten. 

Eine Überprüfung der Zahlen der AOK Niedersachsen ergab, dass es bis heute in keinem der genannten Fälle zu einer Verurteilung kam; die Verfahren laufen aber derzeit noch (Stand Juli 2005). Mehr über die angeklagten Ärzte in Niedersachsen können Sie im Kapitel Ärzte vor Gericht nachlesen.

Trotzdem schlug die Berichterstattung wiederum hohe Wellen in der Presselandschaft. Zahlen von Fällen, Toten und Ärzten wurden nicht immer sorgfältig auseinandergehalten. Die Folge: der Skandal schien größer als er im Endeffekt war.

So legte zum Beispiel die AOK Niedersachsen eine Liste mit 1.040 Ärzten an, bei denen es zu Auffälligkeiten in der Abrechnung gekommen war. Einen tatsächlichen Betrug konnte und wollte die AOK damit keinesfalls belegen, da die Zusammenführung von Patienten- und Behandlungsdaten nur in Zusammenarbeit mit der"Kassenärztlichen Vereinigung" (KV) möglich war. Der AOK war klar, dass dabei ein großer Teil der Auffälligkeiten erklärbar sein würde, und sie hatte auch nicht die Absicht, diese 1.040 Ärzte als Betrüger abzustempeln, wie es in der Presse (so z.B. Focus Nr. 16/2003, S.9, DIE WELT v. 14. Apr 2003) dargestellt wurde.

Ein wichtiger Aspekt bei dieser öffentlichen Diskussion war der große Interessenkonflikt zwischen Ärzten/KV'en auf der einen und Krankenkassen auf der anderen Seite über das Ausmaß der Transparenz im Gesundheitswesen. Dass die zu diesem Zeitpunkt anstehende Gesundheitsreform dann für die Krankenkassen auch den gewünschten Effekt hatte, ist sicher nicht zuletzt der Aufgeregtheit der Berichterstattung geschuldet; die Kontrollmöglichkeiten im Abrechnungsbereich wurden durch die neuen §81a bzw. §197a SGB V (Sozialgesetzbuch Teil V) erweitert. In Krankenkassenkreisen spricht man auch von der so genannten „Lex AOK Niedersachsen“.

Nach dieser neuen Regelung müssen Krankenkassen und KV'en nun zusammenarbeiten und Verdachtsfälle der Staatsanwaltschaft übergeben. Außerdem haben die Krankenkassen nun den vollen Überblick über die für einzelne Patienten abgerechneten Leistungen. Damit ist der Abrechnungsbetrug mit Toten noch weiter erschwert. 

Nach wie vor sind jedoch viele andere Formen des Abrechnungsbetrugs möglich, die einfacher und „sicherer“ sind.

Mehr zur Gesundheitsreform können Sie hier nachlesen.