Süddeutschen Zeitung 2014/2015, 09.05.2014

von Bastian OBERMAYER, Uwe RITZER

Konzern oder Verein

Die Zahlen deuten nicht darauf hin, dass da gerade ein Riese wankt. 290 000 Mitglieder haben den ADAC seit Januar verlassen, aus Protest gegen die Skandale und das Gebaren des Automobilklubs. Weil aber gleichzeitig mehr Menschen eingetreten sind, ist der ADAC e.V. so groß wie nie zuvor. In ein paar Wochen wird er die 19-Millionen-Mitglieder-Marke überspringen. 

  So sehr kann Statistik täuschen. Schlimmstenfalls vernebelt sie die Sinne derer, die sich an diesem Wochenende in Saarbrücken zu ihrer Jahreshauptversammlung treffen. Denn die Mitglieder des ADAC haben im zum Konzern mutierten Verein nichts zu melden. Das Sagen haben die Funktionäre, die am liebsten unter sich bleiben. 
  Auch mitten in der größten Krise der 111-jährigen ADAC-Geschichte ist dies nicht anders. Die eigentliche Hauptversammlung am Samstag ist eine Schaufensterveranstaltung. Alle wichtigen Gremien und Entscheidungsträger tagen bereits an diesem Freitag – und zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie entscheiden, was Sache ist. So ist es beim ADAC üblich, und so schnell kann der Riese nicht über seinen Schatten springen. Wenn er es überhaupt will. 
  Am Anfang der ADAC-Affäre ging es darum, dass bei der Wahl zum „Lieblingsauto der Deutschen“ jahrelang getrickst wurde. So groß die Empörung darüber auch war – gemessen an dem, was danach aufflog, war die Zahlenspielerei eine Petitesse. Das eigentliche Problem ist ein anderes: Der ADAC ist, statt zuvörderst für seine Mitglieder da zu sein, zu einer gierigen Profitmaschine verkommen. 
  Dieser ADAC macht bei der Pannenhilfe im Zweifel lieber den schnellen Euro mit Geschäftskunden aus der Autoindustrie, bevor Mitgliedern geholfen wird. Dieser ADAC hat in fünf Jahren aus Mitgliedsbeiträgen 300 Millionen Euro Überschuss erwirtschaftet – und erhöht trotzdem die Beiträge saftig. Dieser ADAC hortet Milliarden – und drängt trotzdem Abschleppfirmen dazu, ihr Geld bei Versicherungsfirmen einzutreiben, statt pflichtgemäß selbst dafür aufzukommen, wenn Mitglieder mit ihrem Wagen auf der Autobahn liegengeblieben sind. 
  Hinzu kommt ein Hang zur Selbstbedienung. Funktionäre, die im Hauptberuf selber Anwälte sind, entscheiden zum Beispiel mancherorts darüber, wer den ADAC als Vertragsanwalt vertreten darf – und bisweilen profitieren davon im hohen Maße die eigenen Kanzleien. 
  All das hat dem Bild vom ADAC als Schutzpatron der Autofahrer mehr geschadet als die lächerliche Lieblingsautowahl. Dass trotzdem mehr Menschen ein- als austreten, ist zu einem nicht unwesentlichen Teil aggressiven und fragwürdigen Werbemethoden bei Jugendlichen zu verdanken. Nun aber verspricht Interimspräsident August Markl, dass „Mitgliederinteressen wieder vor kommerziellen Interessen kommen“ sollen. 
  Dazu muss der ADAC allerdings einmal klären, was er eigentlich sein will: Verein oder Konzern? Ein klassischer Verein ist er momentan sicher nicht. Er hat bald 19 Millionen zahlende Kunden, aber er bindet seine Mitglieder in seine Meinungsbildung kaum ein, auch nicht in die politische Meinungsbildung – und das, obwohl der ADAC sich von jeher massiv in die Verkehrs- oder Umweltpolitik einmischt. Ein Vereinsleben im ursprünglichen Sinne gibt es beim ADAC allenfalls unter einigen Motorsportlern. In der Breite fehlen jedoch die engagierten Leute – und das ist, neben der schwierigen Krisenbewältigung, ein Grund, weshalb in Saarbrücken kein neuer Präsident gewählt werden kann: Man findet keinen, der sich das antun will.   
  Als Konzern wiederum fehlt dem ADAC ein Mindestmaß an zeitgemäßer Unternehmenskultur. So gibt es zum Beispiel keine vernünftige Compliance, also ein System von Regeln und wechselseitigen Kontrollen, das unmoralisches oder illegales Verhalten verhindert. Auch der Umgang mit den eigenen Mitarbeitern ist bisweilen fragwürdig: Oft müssen sie Leistungen verkaufen, anstatt Mitgliedern Service zu bieten. Die Hierarchie ist stark ausgeprägt, Mitbestimmung gilt bisweilen wenig, wie die Zustände im Regionalklub Niedersachsen/Sachsen-Anhalt gezeigt haben. 
  In diesen Gauen, also den regionalen Einheiten, wie der ADAC sie nennt, wird sich die Zukunft des Automobilklubs entscheiden. Denn ernsthafte Reformbemühungen, die es zweifellos gibt, lassen sich bislang ausschließlich in der Münchner Zentrale ausmachen. Aus den Regionalklubs kommt kein erkennbarer Beitrag. Sie sind stark – und zugleich sehr selbständig. Das könnte sich als das größte Reformhindernis erweisen.